Synfonie des Sturms von Renon |
I "Sind sie immer noch da draussen?" "Ja..."
"Nach zwei Wochen sind sie immer noch da?" "Ja..." "Nicht zu fassen." "Ja..."
"Kannst du auch mal was anderes als "Ja" sagen?"
Der Überblick über das Lager und die Orkhorden vor den Stadtmauern konnten einen wirklich fertig machen. Es schien, als könnten sie da unten ewig verharren. Einige besorgten offenbar immer wieder Proviant und Material aus dem nahen Wald, während die Vorräte der Stadt langsam zu Neige gingen. Was nützte der schönste Sonnenaufgang, wenn er von einer Horde stinkender, grunzender Orks begleitet wurde, die sich da unten räkelten? Der Saal war leer. Seit einer Woche verkroch sich Lord Heinrich in sein Arbeitszimmer. Er grübelt Nächtelang an Plänen, die Belagerung zu überstehen, vielleicht sogar zu durchbrechen. Aber ein Kampf war nicht vielversprechend, da die Belagerer in der Überzahl waren. Heute war er wieder an seinem Schreibtisch eingeschlafen. Ein Diener betrat das Zimmer und rüttelte sanft an Heinrichs Schulter. "Verzeiht, mein Lord, aber ihr solltet zum Schlafen das Bett aufsuchen." "Ich hab keine Zeit zum Schlafen. Ich muss..." Ein lautes Gähnen ertönte "...einen Ausweg aus dieser Misere finden." "Ihr solltet erst mal frühstücken." "Wie viele sind es." "Es sind schon wieder mehr geworden, zweihundert glaube ich." "Sie werden bald angreifen." Es war an ihm, seine Stadt und die Einwohner darin zu beschützen. Besondere Sorge lag ihm an Katrin. Seine Katrin. "Katrin! Wo ist Katrin? Geht es ihr gut?" "Natürlich, mein Lord. Sie ist seit einer halben Stunde auf und treibt wohl gerade, wie immer, das Hauspersonal in den Wahnsinn." Heinrichs Stimmung stieg. "Tjahaha. Das ist meine Tochter!" Der Diener warf ihm einen fragenden Blick zu, der die eben aufgehobene Stimmung wieder an den Boden drückte. "Jaja, Albert, ich weiss es." Heinrich ging wortlos zur Tür hinaus. "Es tut mir leid, mein Lord. Vergebt mir." Heinrich sah über seine Schulter zurück. "Ist schon gut... räum das Arbeitszimmer etwas auf." "Sehr wohl, mein Lord." Dieser Blick hatte ihn schwer getroffen. Musste man ihn denn ständig daran erinnern? Konnte man es nicht einfach dabei belassen, dass sie seine Tochter war? In den letzten zehn Jahren schien sie nicht einen Tag älter geworden zu sein und sah immer noch aus, wie ein sechsjähriges Kind. Davon abgesehen bemerkte man nur einen Unterschied, wenn man ihr schulterlanges Haar zurücknahm und ihre spitzen Ohren freilegte. Ansonsten war sie wie andere Kinder auch. Sie spielte gerne, lachte und weinte. Sie nannte ihn "Vater". Sie akzeptierte ihn. Und sie akzeptierte auch Margret als ihre Mutter. Warum konnten die anderen sie nicht akzeptieren? Auch wenn sie anders, war sie doch dennoch seine Tochter... "Vater, Vater!" Dieser Ruf riss Heinrich aus
seinen Gedanken. Katrin lief ihm entgegen, immer noch im Nachthemd gekleidet,
ihren Teddy hinter sich herschleifend. Ja, das war seine Tochter. Er verdrängte
seine Bedrückung. Mit so einem Gesicht wollte er ihr einfach nicht
entgegenkommen. Dabei half ihm auch der Anblick des Dienstmädchens,
das mit Katrins Kleidern auf dem Arm, das Mädchen verfolgte.
"Du bist einfach grossartig. Wie du den kleinen
Wirbelwind so einfach gebremst kriegst." "Und du solltest zum Schlafen..."
"...das Bett aufsuchen." beendete er ihren Satz. "Hab ich heute schon mal
gehört." Margret schüttelte lächelnd den Kopf. "Lass uns
Frühstücken."
Gerade als sie es erreicht hatten, hörten
sie ein rhythmisches Scheppern von hinten auf sie zukommen. Ein Leibwächter
in voller Rüstung folgte den beiden im Laufschritt. Völlig ausser
Atem stoppte er vor Heinrich. "Lord Heinrich...", keuchte er, "...es geht
los. Sie greifen an." "Zweihundert Orks sind darauf aus, uns zu überrennen."
murmelte Heinrich. "Zweihundert?" Überrascht sah der Leibwächter
hoch, holte tief Luft und richtete sich auf. "Mein Lord, es sind mindestens
Dreihundert und weitere strömen aus dem Wald." "Mach die Soldaten
fertig!" "Sind schon auf Stellung." "Dann haltet sie." "Sehr wohl, mein
Lord."
II Sie hatte immer noch den Schrei des Dienstmädchens
im Ohr. Das entsetzliche Kreischen, als sie die Tür öffnete,
die Hand, die herauskam und sie ergriff. Danach dieser Schrei, gefolgt
von mehreren dumpfen Schlägen. Sie wusste nicht, was geschehen war,
aber sie wusste, dass sie weg wollte. Weg von der Hektik, die sie umgab,
weg von der Angst, weg von den Schreien.
Heinrich wandte sich wieder dem Wachmann zu. "Wie konnte diese Kreatur hier eindringen? Wie konnte das passieren?" "Der Ork muss an dem Seil hochgeklettert sein.",antwortete der Wachmann und wiess auf den Enterhaken. Gerade, als Lord Heinrich hin sah, wurde das Seil straff gespannt. Heinrich ging zum Fenster und sah am Seil entlang nach unten, wo ein weiterer Ork dabei war, sich hinauf zu ziehen. Heinrich sah ihm in die Augen und wartete, liess den Angreifer näher kommen. Als der Ork wenige Meter unter dem Fenster hing, zog er seinen goldverzierten Dolch und kappte das Seil. Dann drehte er sich vom Fenster weg und warf dem Wachmann einen Blick entgegen, der seine Wut und seinen Tatendrang wiederspiegelte. Ein dumpfer Aufprall erklang hinter ihm. "Wo ist Katrin?", sagte er mit ruhiger aber energischer Stimme. "Mein Lord..." ... "...wir wissen es nicht.", vollendete der andere Wächter den Satz seines Kollegen. Heinrich verlor fast die Fassung. Wozu hatte er denn überhaupt Leibwachen in seinem Dienst? Schnellen Schrittes verliess Lord Heinrich das Zimmer. "Findet sie!" befahl er den Wachen im Vorbeigehen. "Und sichert die Fenster der Burg.", fügte er hinzu, bevor er den Gang vor dem Zimmer verliess. Es klopfte an ihre Tür. "Lady Margret! Seid ihr da?" erklang eine Stimme von aussen. Noch einmal klopfte es. "Lady Margret?" "Ja! Tretet ein." Hektisch öffnete der Wachmann die Tür und betrat den Raum. "Lady Margret. Es hat begonnen." "Ja, ich habe es schon durchs Fenster gesehen." "Ich muss euch bitten, es zu verschliessen. Sie haben Enterhaken dabei." Margret ging zum Fenster und griff nach den Läden. "Und, Lady Margret... die junge Lady Katrin ist... verschwunden." Margret rührte sich nicht, was den Wachmann nach der Reaktion von Lord Heinrich doch sehr überraschte. "Lady Margret?" Immer noch keine Reaktion. Sie stand einfach nur da, hielt die Fensterläden in den Händen und blickte hinaus in Richtung Marktplatz. "Lady Mar..." "Das darf nicht wahr sein." unterbrach sie ihn kaum hörbar. "Wie meinen?" "Sie ist da unten und hält auf den Marktplatz zu. Ich erkenne ihren Teddy." Dem Wachmann fehlten die Worte, als Lady Margret die Fensterläden zuschlug und an ihm vorbei zur Tür hinaus lief. III Katrin stand mitten auf dem Marktplatz. Rund um sie herum klirrten Schwerter, schrieen Männer. Niemand bemerkte das kleine Mädchen, das mit ihrem Teddy an der Hand auf das Stadttor blicke. Ein fürchterlicher Knall erklang von dort. Die Belagerer hatten einen Rammbock und versuchten damit das Tor aufzubrechen. Katrin erschrak und auch die kämpfende Masse um sie herum hielt einen Moment inne. Auf den Gesichtern der Angreifer machte sich ein Lächeln breit, während die Hoffnung der Soldaten, dieses Spektakel zu beenden, weiter schwand. Noch ein Knall und die ersten Splitter lösten sich von der Pforte. "KATRIN!!!" Einige Soldaten wandten sich dem Schloss zu, aus dessen Richtung das Kreischen kam. Noch ein Knall. Alle Augen richteten sich auf die Pforte, so dass niemand wirklich bemerkte, wie sich Lady Margret zwischen die Massen drängte, um zu ihrer Tochter zu gelangen. "Katrin! Wie kommst du hierher?" Sie stürzte sich auf ihre Tochter zu und stellte sich zwischen sie und das Tor. Mit grossen, erstaunten Augen sahen sie sich gegenseitig an. Margret beugte sich schützend über die Kleine und nahm sie in den Arm. "Was machst du denn hier?" Ein letztes Krachen und der Riegel des Tores brach. Die Flügel wurden langsam auseinander gedrückt. Männer, Schreie, Pfeile und Tod traten ein. "Komm, wir geh..." Margret hustete, ein wenig Blut rann aus ihrem Mund. Von einem Pfeil getroffen, brach sie zusammen. Katrins Blicke folgten ihr auf den Boden. Wortlos starrte sie dann wieder auf die Pforte. Ihr Puls stieg. Die einfallende Horde überrannte die Soldaten einfach. Sie begann tief und langsam durchzuatmen. Mann um Mann fiel tot zu Boden. Sie atmete tief ein. Die dunkle Masse kam ihr immer näher. Sie schrie.
Wind. Er schlug den Angreifern ins Gesicht, wehte ihnen Staub und kleine Gegenstände entgegen. Die, die nicht vom Sand geblendet waren, starrten verblüfft auf das kleine Mädchen, das jetzt auf Zehenspitzen stand... und langsam abhob. Als letztes verlor ihr rechter Zeh den Kontakt zum Boden. Genau in dem Moment näherte sich ein Grollen. Die Soldaten flüchteten in die Seitengassen. Wer konnte, verschloss eine Haustür hinter sich. Langsam verstummte das Grollen und auch der Wind liess etwas nach. Für eine Sekunde herrschte Ruhe... in der nächsten brach ein Sturm los. Augenblicklich wurde nicht nur Staub in Bewegung
versetzt. Alles, was nicht befestigt war, wurde mit einem plötzlichen
Ruck fortgeschleudert. Selbst Pflastersteine des Marktplatzes wurden vom
Boden gerissen. Ein Ork-Hauptmann in erster Linie sah ungläubig in
das Zentrum des Sturms, auf Katrin, bis er im nächsten Moment von
einer Welle von Staub, etlichen Geschossen und unglaublicher Kraft hinweg
gefegt wurde. Zwei Soldaten hatten keine Chance, in Deckung zu gehen. Sie
gingen in die Hocke, darauf wartend, dass sie fortgerissen wurden, wie
die Orks um sie herum, aber es geschah nichts. Beide hörten ein leises
Rauschen und vernahmen einen leichten Luftzug, während Steine,
Unrat und Orks an ihnen vorbei schossen. Schritt für Schritt gingen
sie vorsichtig hinter eine Hausecke, wo sie sich doch sicherer fühlten.
Nachdem ein paar Orks unfreiwillig den Rückzug durch das Stadttor
angetreten hatten, schlossen die Flügel sich, knarrten und wurden
dann nach aussen aufgestossen. Alle, die dem Sturm nicht im Weg standen,
verfolgten jetzt gebannt seine Richtung. Sie sahen, wie die ersten Zelte
des Lagers weggerissen wurden. Viele der Orks wurden in Richtung Wald geschleudert
und meist durch einen Baum gebremst. Einige konnten sich am Boden festkrallen,
aber keiner würde es schaffen, auch nur einen Schritt in Richtung
Stadt zu tun. Die Torflügel flatterten immer noch knarrend im Wind.
Der Sturm legte sich. Das Leuchten in Katrins
Kehle erlosch. Langsam sank sie zurück auf den Boden, wo sie ohnmächtig
zusammenbrach. Vorsichtig kamen die Soldaten aus ihren Schlupfwinkeln hervor.
Einige trieben ein paar verstreute Orks vor sich her, die dem Sturm entkommen
waren. Lord Heinrich bahnte sich seinen Weg durch die staunende Menge,
die sich um Katrin versammelt hatte. Er kniete vor ihr nieder. "Katrin?
Katrin, wach auf." Keine Reaktion. Er untersuchte sie näher. Sie atmete
schwach und auch der Puls war vorhanden. Erleichtert nahm er sie mit beiden
Händen auf und stand auf. Ratlos sah er sich um. Da, wo vorher das
Stadttor und dahinter das Orklager waren, erstreckte sich jetzt eine breite,
mit Trümmern übersäte Schneise. "Was, um Himmels willen,
ist hier passiert?"
© Renon
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