Germau von Uriel Sakarhim

Sie kamen von Sonnenuntergang. Tausende von Kriegern waren aus dem ganzen Kaiserreich zusammengerufen worden, um gegen die letzte Drachenfeste auf dem Boden von Chalotá zu ziehen, der größten und prächtigsten Burg der ganzen Drachenzivilisation auf Gargama. Der Kaiser Ibanau Chalotá selbst führte das Heer an. Und ihm war mulmig zu Mute. Drachen waren böse, natürlich, man hatte es ihm beigebracht, seit er ein kleines Kind gewesen war, nein, er hatte es bereits mit der Muttermilch eingesogen: Drachen waren DER FEIND, den die Götter im Streit als Waffe erschaffen hatten und die nun, da die Götter in Frieden miteinander lebten, die Welt der Menschen verheerten. Der Sturm und das Schleifen dieser Bastion des Schreckens würde seinen Ruhm unsterblich machen, sein Name wäre noch in Jahrtausenden überall bekannt.
Und es war einfach. Der kaiserliche Hofastronom hatte den Tag genau ausgerechnet, und der hoch stehende, volle Rote Mond gab ihm Recht. Da dieser Stand am frühen Morgen erschien, die Drachen sich also gerade zur Ruhe begaben, konnte gar nichts schief gehen. Sie würden sich anschleichen, die müden Wächter mit einem magischen Kontaktgift in Asche verwandeln und den schlafenden Rest einfach niedermetzeln, um sich anschließend des Sagenhaften Schatzes von Germau zu bemächtigen. Die Krieger würden anschließend gemachte Männer (und solche gaben die besten, weil treuesten Reichsverweser, Generäle und Beamten ab) und sein Ruhm ewig sein. Und doch frug er sich, ob es wirklich nötig war, hier ein Massaker anzurichten. Die Gegend war seit langem schon nahezu unbewohnt und es kam tatsächlich eher selten zu Zusammenstößen, etwa, wenn ein Schäfer seine Herde an eine hungrige Echse verlor.
Wenn man mit ihnen verhandeln könnte, dachte er. Doch er wusste, dass es aussichtslos war; Drachen waren so dumm wie grausam und ihre Vernichtung die wohl gnädigste Tat für Gargama - und für sie selbst. Eine halbe Meile vor dem Massiv, das den Sonnenaufgang verdeckte, ließ er halten und gab Befehl, die schwarzen Rüstungen anzulegen, den Pferden schwarze Decken überzuwerfen und absolut leise zu sein. Im Schatten Germaus würden sie unsichtbar sein.

Sonnenaufgang. Bald war Wachablösung. Klaue (sein wahrer Name kann hier nicht wiedergegeben werden, da sich Drachen mittels ihres Feuers verständigen; der Bedeutung nach hieß dieser Drache etwa: "Wächter mit dem Klauenflügel, dessen Eltern den Niedergang Demorais’ [der Name einer anderen Festung der Drachen] überlebten") gähnte herzhaft vor Vorfreude auf einen ausgedehnten Schlaf und das anschließende Frühstück (Drachen haben keinen tageszeitabhängigen Speiseablauf, sondern einen, der sich nach ihrem Lebensrhythmus richtet). Das war eine ruhige Nacht gewesen und sie würde auch so enden.
ODER?
Klaue wollte seinen Augen und seiner Nase nicht so recht trauen, als er auf einmal die Bewegungen tausender kleiner Wesen, etwa zwei Langflugsekunden vor den Mauern der Feste, wahrnahm. Potzdonner auch! Das leise Gefühl des Versagens beschlich ihn. Immerhin war er darauf spezialisiert, im finstersten Dunkel und aus mehreren Fallminuten Höhe Spitzmäuse von Ratten zu unterscheiden. Wie hatte ihm dieser riesige Auflauf entgehen können? Klaue weckte seinen Kameraden, damit der herausfand, welche Spezies da so gefährlich nahe kam.
"Menschen", antwortete Molusk ("Riecher, dessen Nase so scharf ist, wie Augen mit Dem Muschelglanz [eine legendäre Eigenschaft, die den Augen eines verheißenen Erlösers zugeschrieben wird, der dereinst kommen soll, die Welt von der Plage der Menschen zu befreien]") mit kleiner Flamme, "wir sollten die anderen wecken, nur für den Fall."
Und das taten sie dann auch, denn, wie alle wussten, war mit Menschen nicht zu spaßen. Die meisten von ihnen waren dumm oder grausam oder beides. Sie waren (mit einigen wenigen Ausnahmen, von denen auf Germau aber nur Gerüchte existierten) nicht einmal in der Lage, mit intelligenten Wesen - wie Drachen - zu kommunizieren. Geschweige denn, dass ihr Fleisch genießbar gewesen wäre. Die meisten Drachen waren sich einig, dass diese Spezies einen Witz der Evolution darstellte, da sie keinen erkennbaren Zweck erfüllte.
Es existierte zwar die Ansicht, Menschen haben das Zeug zu einer Zivilisation, wenn man noch ein paar Jahrhunderte wartete, aber Klaue gab nichts darauf. Er lebte im Hier und Jetzt, relativ kurz vor seinem Ruhestand und dabei störte ihn der bevorstehende Angriff.
Binnen kurzem waren alle Festungsbewohner mittels eines ausgeklügelten Systems, dass völlig auf Feuer verzichtete, geweckt und standen bereit an der Mauer, einer Art flacher Schlucht im Gestein des Bergkegels. Die Verteidigung war in völliger Heimlichkeit bezogen worden.
Verwundert betrachteten sie den schwarzen Zug aus wenigstens zehntausend Leibern. Sie schienen zu schleichen. Unheimliche Stille zog herauf, als das vage Anzeichen von Intelligenz, dass diesmal keiner von den Angreifern laut sang oder schrie, erkannt wurde. Nichts von der Ekstase früherer Angriffe. Das wahr unheimlich, auch wenn es sich bloß um Zufall handeln konnte. Das Heer war noch eine halbe Flugsekunde entfernt als Wolke ("Hunger, der Wolken verschlingt"), zur Zeit so etwas wie der Chef, sich in die Luft schwang, wendete und den Verteidigern einige wahrhaft glühende Sätze entgegenschleuderte. Dem Sinn nach hätten sie gelautet: "Schwestern und Brüder! Es ist offenbar, dass diese Menschen nicht sind wie diejenigen, die wir bereits so viele Male erfolgreich abwehren konnten. Ja, es war ein Vergnügen, ihnen zuzusehen, wie sie vergeblich versuchten, die Mauern unserer Stadt zu erklimmen und jene, die es wirklich schafften, mit einem Wort zu vernichten. Aber diese könnten eine ernste Bedrohung sein und so ist es besser, wir greifen zuerst an und sehen zu, wie unsere Flüche an ihnen brennen!"

Alles war ruhig, nur der Wind frischte etwas auf. Er kam von Sonnenaufgang, trug ihren Geruch also hinfort. Gut so, dachte Eryk, ein alter Soldat, der nur aus Neugier am Feldzug teilnahm und wusste, dass Drachen sehr gute Nasen hatten. Der Plan des Kaisers hatte etwas bestechend Einfaches und war trotzdem noch gefährlich genug, um aufgehen zu können. Germau lag immer noch still und dunkel da. Nur noch zweihundert Schritte, und sie würde, vor Schmerzen der Vernichtung kreischend, erwachen. Eryk lächelte in sich hinein, als er an seinen Beuteanteil dachte, mit dem er sich ein eigenes Gut und endlich die Verheiratung seiner Töchter würde leisten können. Er schrak hoch, als ihn ein Luftstoß traf, der etwas ZU stark war. Dies war nicht sein erster Drachenfeldzug, und so wusste er, dass sich einer der Giganten in die Luft erhoben hatte. Er marschierte in der dritten Reihe, in der Abteilung, die direkt Ibanau unterstellt war, und wollte ihn warnen, doch der Kaiser hatte es ebenfalls bemerkt. Doch nur eine Handvoll der Männer, Attentäter, Diebe, Berserker, Lebende Lanzen, Wehrbauern und was es im Reich noch an Menschen gab, die ihren Lebensunterhalt zumindest zum Teil mit dem Tod anderer verdienten, sahen, was dort, hoch oben vor sich ging: Einer der Drachen schwebte flügelschlagend vor dem Berg und spie einige Momente lang sein Feuer darauf.
Dann brach die Hölle los.
Es mussten Hunderte sein, die sich wie ein Körper aus dem Gestein in die Luft stürzten und wild mit ihrem Feuer um sich speiend auf das Heer zuflogen. Sie waren zu schnell, als dass die Menschen Formation hätten annehmen können. Die Magier, die für das pulverförmige Gift verantwortlich zeichneten, waren vorrausschauend genug gewesen, um die Schleudermechanismen schon vorbereitet zu haben. Einige Dutzend der aus einem leicht zerstörbaren Material bestehenden Säcke, in denen das Pulver war, flogen durch die Luft und trafen ihre Ziele. Eines davon war Klaue.
Doch nicht das ganze Gift wurde dabei verbraucht. Ein Rest fiel wieder hinunter und richtete, vom Wind getragen, große Schäden in den hinteren Reihen der Menschen an. Die Front war inzwischen vernichtet, der Kaiser als springlebendige Fackel verendet. Die Drachen verteilten sich in der Luft über dem Heer und gingen zu Boden, wo sie vergiftete Lanzen und Pfeile erwarteten. Die Waffen gingen, wenn sie trafen, einfach durch die Schuppenpanzer hindurch und direkt zum Herzen. Das allein hätte wenig Effekt gehabt, denn Drachenherzen sind stark und verkraften auch mehrere Wunden, aber von hier aus verbreitete das Gift sich rasend schnell durch das Blut im Körper und löste sein Opfer von innen heraus auf. Es blieb eine Handvoll Staub. Doch bei weitem nicht alle der menschlichen Waffen trafen.
Menschen wurden unter den massigen Leibern der landenden Echsen zerdrückt, von den mächtigen (analog zu "lauten"; Anm. d. Verf.) Flüchen und Beschimpfungen getroffen (die ja in Form von Feuer ausgestoßen wurden) und verbrannten, oder von den Pfeilen ihrer Kameraden getroffen. Das Gemetzel hätte tagelang andauern können; aber dazu waren die Drachen zu intelligent.
Als sie sahen, dass sie höchstens einen sehr teuren Sieg erringen konnten, erhoben sie sich wieder, weit über die Reichweite der Pfeile und Bolzen, die ihnen entgegen aller Erfahrung gefährlicher waren denn je (bisher nämlich überhaupt nicht), und rauschten, eine breite Feuerfront vor sich herschiebend, in Richtung des Meeres davon, eingeäscherte Freunde und zwei Drachenkadaver (Molusk und Wolke; sie waren durch Treffer durch die Augen ins Gehirn gestorben) kummervoll zurücklassend. Es ist unter den Menschen nicht überliefert, was aus ihnen wurde, doch es waren nur ein oder zwei Dutzend.
Dies war das Ende der Drachenstadt Germau und der Chalotá-Dynastie, der die Familie der Mulitek folgte.

Von den Angreifern sollten nur knapp einhundert die Schlacht oder ihre Wunden daraus überleben. Einfach nur aus Glück. Eryk hatte bei der ersten Angriffswelle hinter einem Hünen gestanden, der die Flammen teilte, die erst hinter ihm wieder zusammenschlugen, sodass er eine schwere Verbrennung am Rücken erlitt, diese jedoch überstand. Danach war er zum Fuß des Berges gelaufen und hatte sich in einer Nische verborgen, was ihm beim Abzug der Drachen das Leben rettete. Die anderen fanden ihn im Fieber halluzinierend, als sie versuchten, in die Burg zu kommen, da diese ja offensichtlich nicht mehr bewohnt war. Glücklicherweise war ein ausgebildeter Medicus bei der Gruppe und konnte ihm helfen. Diese Männer fanden auch wirklich einen Zugang, der vom Boden aus ins Innere führte, doch der legendäre Schatz von Germau war nur eine Legende, und so mussten sie mit leeren Händen zurückkehren.
Als sie in der Hauptstadt nach Monaten des Herumirrens ankamen, lief dort bereits das Gerücht vom Scheitern des Feldzuges, das von den Überlebenden nun bestätigt wurde. Sie alle wurden für ihren Mut und ihr Glück hochgeehrt, versorgt und dann wieder in die weite Welt entlassen. Eryk wurde nach einigen Monaten der Wanderschaft als Hofnarr im Schloss eines mittleren Feudaladligen aufgenommen. Aber er brachte niemanden zum Lachen mit den Geschichten vom Verhängnis der Germau-Schlacht, die er erzählte (es wurden jährlich mehr). Doch er wurde nicht weggejagt, sondern als der Erfinder der Horrorgeschichte bei einem großzügigen Gehalt dabehalten, das es ihm ermöglichte, seine Töchter nach ein paar Monaten aus dem Bordell freizukaufen, in das sein Gläubiger sie gegeben hatte.
 

© Uriel Sakarhim
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