Schattenläufer von V.Geist
Kapitel 4: Nefarat (2)

Es herrschte eine angenehme Atmosphäre hier im Raum. Shade sah sich um, doch außer ein paar Regalen mit Büchern konnte er vorerst nicht viel erkennen. Weiter hinten im Raum stand eine kleine Öllampe auf einem massiven Holztisch. Zwei gut gepolsterte Sessel standen dort zwischen Türmen von Büchern, Gläsern und Artefakten. Wurzeln, Kräuter und Ähnliches hingen von der Decke herab und erfüllten den Raum mit angenehmen Düften. Die Öllampe verstrahlte ein schwaches Licht, das die nähere Umgebung etwas erleuchtete.
Einer der Sessel war leer. In dem anderen saß ein Mann in einer tiefbraunen Kutte. Langes graues Haar und ein langer Bart derselben Farbe verdeckten sein Gesicht zum Teil. Strähnen fielen ihm ins faltige Gesicht und ein tiefer Schatten verdeckte seine Augen. Als Shade näher trat, klappte er das Buch zu, in dem er gelesen hatte, und legte es auf den Tisch. Er sah Shade an. Musterte seine Gestalt von oben bis unten. Dann stand er auf, stützte sich mit der Linken auf seinen Stock und machte eine einladende Geste, die Shade sagte, er solle näher kommen. Als die beiden sich gegenüberstanden sah der alte Mann tief in Shades Augen, der etwa einen ganzen Kopf größer war als der Magier. Dann endlich lächelte der Alte und eine warme, ruhige Stimme war zu hören.
"Shade! Es freut mich, dass du gekommen bist."
"Meister Nerophan, wie hätte ich nicht kommen können, ich hatte es versprochen und es war gewiss auch die Neugierde, die mich hierhin zog."
Der Magier lächelte, dann ließ er sich wieder in seinen Sessel fallen.
"Setz dich, Shade. Du bist mir ein willkommener Gast."
Shade tat, was man ihm anbot und auch der große Südländer trat nun heran und ließ sich auf einem Fass am Rande des Lichtkreises nieder, welchen die kleine Öllampe warf. Er sah Shade kurz an, dann nahm er ein Buch vom Boden auf und begann, darin zu lesen. Kurz beobachtete Shade den Hünen. Es erstaunte ihn schon etwas, dass solch ein kriegerisch und barbarisch aussehender, kräftiger 
Mann ein Buch in die Hand nahm. Nerophan lachte kurz leise auf.
"Bewundernswert, nichtwahr? Er ist mein neuer Leibwächter. Asuhl ist sein Name. Ich hatte ihn nur für meine Sicherheit angeheuert, doch wer hätte gedacht, dass in einem solchen Krieger der Drang zum Lernen und Lesen existiert."
Asuhl sah kurz auf, vertiefte sich dann aber wieder in sein Buch. Shade kümmerte sich nicht weiter um ihn. Er wandte sich Nerophan zu.
"Meister, ich weiß eure Gastfreundschaft sehr zu schätzen. Und ich will nicht aufdringlich sein. Doch sagt mir, was ist es, was ihr mir sagen wolltet. Warum musste ich erst diese Prüfungen und Kämpfe hinter mich bringen?"
"Nun," begann der Alte Magier, "ich konnte es dir nicht sofort sagen. Ich musste warten und beobachten. Deshalb diese lange Zeitspanne, verstehst du?"
"Was beobachten?"
Nerophan lachte kurz leise und vergnügt auf.
"Na dich. Sonst könnte ich dir heute doch nichts sagen."
Shade verstand nicht. Verwirrt musterte er sein Gegenüber als könnte er irgendwelche Antworten bekommen.
"Shade, pass auf."
Der Magier beugte sich etwas vor.
"Vor dreißig Jahren warst du hier, saßt genau dort, wo du heute auch sitzt. Und du gabst mir das Versprechen, wieder zu kommen. Ich brauchte diese Zeit, um dich zu beobachten. Deinen Werdegang zu studieren..."
Der Magier faltete die Hände vor dem Gesicht.
"Du hast dich nicht verändert, siehst keinen Tag älter aus. Eine bewundernswerte Eigenschaft der Elfenrassen. Du wandelst nun schon seit über 70 Jahren auf diesem Planeten und du siehst aus wie 20. Ich bin nun 136 Jahre alt und man sieht es. Ich bin ein alter Mann geworden Shade... Du wirst mit 140 noch aussehen wie 20."
Shade war verwirrt, das sah der Magier ihm mit Belustigung sofort an.
"Nun, kommen wir nicht vom Thema ab. Ich habe dich studiert. Dreißig Jahre lang und ich habe etwas herausgefunden."
Dass Shade langsamer alterte als ein Mensch, weil er ein Dunkelelf war? Das hätte er ihm auch so sagen können. Außerdem war es kein großes Geheimnis, dass es unter den Elfen so manche gab, die nach der Zeitrechnung der Menschen bis zu neun Jahrhunderte alt wurden.
"Das wolltet ihr mir sagen?"
"Nein, nein. Es ist etwas komplexer. Sieh mal, Shade, alles was du in den dreißig Jahren tatest, war dir vorherbestimmt."
Nerophan griff einmal quer über den Tisch und zog aus den Schatten ein Buch hervor. Es war ein dickes Buch in schwere lederne Einbände eingeschlagen. Goldene Runen verzierten es. Runen, die Shade sofort erkannte. Seit er denken konnte trug er diese Symbole auf der Brust, auf dem Rücken, den Beinen, Armen, überall am Körper. Es waren die Runen seines Clans, die Runen der ehrenwerten Tarun’Dai.
"Unser Kodex? Außerhalb der Bibliothek des Clans?"
"Nein, Shade. Bedauerlicherweise nur eine Abschrift. Kein Clan der Dunkelelfen würde seinen Kodex in die Hände eines Menschen geben. Nicht das Original."
Shade zeigte sich überrascht und lächelnd fuhr Nerophan fort.
"Ich empfinde es als eine große Ehre, dass mir dieses Buch anvertraut wurde, immerhin enthält es all eure Geheimnisse und eure Legenden. Aber ich war auch lange Zeit gut Freund mit eurem Clan. Einst kämpfte ich Seite an Seite mit deinem Vater, möge er in Frieden ruhen..."
Sichtlich überrascht blickte Shade auf und starrte geradezu erwartungsvoll in das Gesicht des Magiers.
"Ihr kanntet meinen Vater?"
"Aber sicher. Er und Dronmath vertrauten mir seiner Zeit diese Abschrift des Kodex an. Du warst gerade ein Jahr alt."
"Dronmath. Er hat mich damals losgeschickt auf diese Reise. Er sagte, ich sollte mein Schicksal finden, es wäre wichtig für mich und den Clan."
"Richtig. Dronmath, Clanvater der Tarun’Dai. Er, ich und dein Vater fieberten diesem heutigen Tag entgegen. Schade nur, dass dein Vater ihn nicht erleben kann."
Kurz legte sich Stille. Dann sprach Shade wieder.
"Aber, was ist nun mit mir?"
"Das, mein Freund, will ich dir nun sagen."
Er legte die Hand flach auf den Einband des Buches.
"In diesem Buch gibt es eine Prophezeiung. Sie betrifft die ganze Welt und in allen Kodexen der Dunkelelfen ist davon die Rede."
Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort.
"Nun, diese Prophezeiung erzählt von einem großen Krieger der Tarun’Dai, der die Welt vor dem Untergang retten soll."
"Die Tarun’Dai haben hunderte junge Krieger, die ausgebildet werden."
"Ja, aber keiner ist so, wie du, Shade."
Der junge Dunkelelf sah den Magier erwartungsvoll an.
"Du bist das einzige Kind, das einer Vereinigung von Elf und Mensch entsprungen ist und das fünfte Jahr seines Lebens überlebt hat. Bei den Dunkelelfen wird ein Ritual durchgeführt, das solche Kinder vor dem Wahnsinn schützen soll."
"Ich kenne mich mit den Sitten meiner Rasse bestens aus", unterbrach Shade den Altmeister.
"Und ich musste hart um Anerkennung kämpfen, weil ich dieses besondere Kind war, welches das Angraphara überlebte."
Finsternis hatte sich auf Shades Gesicht breit gemacht. Diese Mine versetzte selbst den mächtigen Magier vor ihm kurz in Angst. Doch dann lächelte er wieder munter und erzählte Shade weiter von der Prophezeiung.
"Pass auf, mein Freund! Es geht darum, dass ein Krieger kommen wird, in einer dunklen Stunde dieses Zeitalters, unseres Zeitalters. Und er wird die Gefahr, die droht, zurückzuschlagen wissen. Dieser Krieger bist du!"
Shade sah ihn ungläubig an.
"Was für eine Bedrohung meint ihr, Meister? Ich habe keine gesehen?"
"Denke an den Dämon in den Wäldern des Korand’Barius!"
"Ihr wisst von dem Bulgarniten?"
"Sicher, Shade. Wie schon gesagt, ich habe dich studiert. Dieser Kampf, auch wenn er vielleicht unwichtig erscheint, war die erste Schlacht eines Krieges, der so mächtig werden wird, dass selbst die Götter erzittern werden."
"Und ihr glaubt, dass die Geschichte stimmt?"
"Geschichte???"
Große Empörung schwang in der Stimme des Altmeisters mit.
"Es ist eine Prophezeiung der Elfenvölker. Selbst in den Kodexen der Waldelfen steht, dass ein Dunkelelf kommen wird. Die Hochelfen haben die selben Prophezeiungen, nur glauben sie an einen aus ihren Reihen, welcher der Auserwählte sein wird. Aber das ist Unfug!"
"Wieso? Wieso sollte es kein Hochelf sein, der diese Welt rettet?"
Der Magier winkte ab.
"Diese eingebildeten Schnösel. Niemals. Wie gesagt, auch die Waldelfen glauben an den Auserwählten der Dunkelelfen. An dich, Shade. Auch dort habe ich Freunde. Sie halfen mir bei meinen Studien."
Shade legte die Stirn in Falten.
"Die Waldelfen?"
"Ja, Shade."
Die Stimme, die ihm antwortete, war nicht Nerophans. Sie kam aus den Schatten hinter Shade und er kannte sie nur zu gut. Sofort sprang er aus seinem Sessel auf und wirbelte herum. Aus den Schatten zwischen zwei Regalen trat eine stolze, aufrechte Gestalt hervor. Er erkannte ihn sofort, seinen alten Kampfgefährten.
"Kortas!!!"
Ein Lächeln legte sich auf die Züge des Waldelfen.
"Es freut mich sehr, dich wieder zu sehen, mein alter Freund!"

"Ein Krieg, so mächtig, dass selbst die Götter erzittern werden? Was meint ihr damit?"
Sie saßen alle drei nun in einer kleinen Runde. Nerophan, Kortas und Shade. Die Freude über das unerwartete Wiedersehen war in Shade schnell der Neugierde gewichen und er beschloss später mit Kortas zu feiern. Nun wollte er alles über diese Prophezeiung wissen, von der Neorphan da erzählt hatte. Es erschien ihm als recht unrealistisch, dass gerade er der Auserwählte sein sollte, und dass sich eine solche Prophezeiung überhaupt erfüllte. Der Gedanke, dass ein Mensch die Zukunft voraussagen könnte, erschien ihm geradezu lächerlich.
"Es ist ein Konflikt, der zwischen allen Völkern der uns bekannten Welt herrschen wird. Die Prophezeiung spricht in Rätseln, deshalb ist es schwer sie korrekt zu deuten. Aber wir wissen, dass alle Völker darin verwickelt sind und sie alle werden kämpfen und Blut vergießen!"

Shade und Kortas gingen runter in den Schankraum des Gasthauses. Rio war sehr überrascht und freute sich sichtlich über das Wiedersehen. Nach einem kurzen Plausch zogen Shade und Kortas los, um sich in der Stadt umzusehen und außerdem hatten sie noch Sachen zu bereden, von denen die anderen vorerst nichts mitkriegen sollten. Also machten die beiden sich auf den Weg, unbewaffnet natürlich, um keinen unnötigen Streit zu provozieren. Als sie die Hauptstraße hinunter schlenderten, fiel Kortas ein Waffenladen auf. Sie gingen rüber und betraten das Geschäft.
Es war ein großer Raum, in dem man alles Erdenkliche an Schwertern, Dolchen und Äxten kriegen konnte, was man suchte. Shade war überrascht von der Auswahl. Kortas sah sich kurz um und ging dann zum Tresen rüber, wo ein etwas untersetzter, dicklicher Mann mit Halbglatze gerade die Klinge einer großen, meisterhaft geschmiedeten Streitaxt polierte.
"Entschuldigt," sprach er den Mann an, der sofort die Waffe beiseite legte und den Elfen mit einem Grinsen auf den schmalen Lippen begrüßte.
"Werte Kundschaft, wie kann ich zu diensten sein?"
Kortas stützte sich mit den Handballen auf den Tresen und sah den Mann etwas belustigt, aber dennoch freundlich an, während Shade im Hintergrund ein sehr langes Schwert aus einem der Waffenschränke nahm. Kortas fuhr fort: "Ich suche einen guten Bogen. Am besten ein Stück aus einer Elfenstädte. Carsantis am liebsten."
Der Verkäufer musterte den Mann vor ihm, der ihn um gut zwei Köpfe überragte. Er schien kurz zu überlegen, dann legte er wieder sein altes Lächeln auf. "Ich müsste kurz nachsehen, denn die Bögen sind von unseren Kunden nicht sehr gefragt." Er redete weiter, während er durch eine Tür hinter der Theke in einem kleinen Raum verschwand. "Es passiert öfters mal, dass Armbrüste verlangt werden, aber den Hauptumsatz machen wir hier mit Langschwertern und Streitäxten." Ein kurzes schelmisches Lachen war zu vernehmen und Kortas sah kurz fragend über die Schulter zu Shade, der ebenso fragend zurückblickte. Dann kam der Verkäufer wieder aus der Tür und brachte einen Kurzbogen mit, den er Kortas gab. Es war ein gutes Stück, aber schon etwas älter. Die Sehne sah abgenutzt aus und saß nicht mehr ganz stramm. Ohne dass der Elf etwas sagte, fing der Ladenbesitzer wieder an zu reden.
"Es ist ein älteres gebrauchtes Stück und auch kein Elfenbogen. Es ist ein Jägerbogen, von Menschenhand gefertigt, soweit ich weiß."
Kortas antwortete mit einem Kopfschütteln.
"Nein, kein Jägerbogen. Jäger benutzen Langbögen."
"Aber ich habe ihn von einem Jäger gekauft."
"Vielleicht, aber dann war es ein mieser Jäger...", entgegnete der Waldelf ohne von der Waffe in seiner Hand aufzusehen. Der Verkäufer schien verdutzt, doch dann lächelte er schon wieder. Leise sprach er zu Kortas:
"Ihr wisst, wovon ihr redet, guter Mann. Es ist mir nicht entgangen, dass ihr ein Waldelf aus den Regionen um Senshaber sein müsst, richtig?"
Kortas hatte sich nun von dem Bogen abgewandt und sah interessiert den Mann an. Er nickte und fügte dann hinzu: "Godward, wenn ihr es genau wissen wollt!"
Die Augen des Händlers glänzten.
"Godward. Sehr anspruchsvoll, wie ich’s mir doch gedacht habe. Hört gut zu! Ich habe nichts, was euch interessieren könnte, doch ich habe einen Freund, der in einer kleinen Schmiede arbeitet, oben im Norden. Sie liegt in einem kleinen Waldstück, nicht weit vom Nordtor der Stadt entfernt. Ein Waldelf, wie ihr einer seid. Wenn ihr also einen guten Langbogen haben wollt, dann besucht ihn doch einfach. Sagt, Gerald habe euch geschickt, er wird sofort freundlicher euch gegenüber sein!"
Kortas Züge zeigten ein kleines Lächeln und er bedankte sich bei dem Mann.
Dann verließen die zwei Elfen das Gebäude wieder und draußen fragte Shade seinen Freund: "Was ist mit deinem alten Bogen passiert? Er war doch perfekt!"
"Nun ja" der Waldelf lächelte kurz. "Sagen wir, er war nicht stabil genug, um das Gewicht eines jungen Gebirgsdrachen zu tragen, er zerbrach, als das Tier auf ihn trat."
Shade nickte leicht lächelnd und dann fuhr er fort:
"Willst du noch zu diesem Waldelfen hinter der Stadt? Wenn, dann sollten wir jetzt losgehen, diese Stadt ist so riesig, wir werden es kaum schaffen sie einmal zu durchqueren und vor Anbruch der Nacht wieder zurück zu sein."
Kortas überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. "Nein, wir gehen später. Sieh, da drüben ist eine Schenke, lass uns etwas trinken. Wir müssen noch über die gemeinsame Weiterreise reden."
"Du willst mich also begleiten?"
"Sicher, bevor du noch in Schwierigkeiten gerätst!"
Shade lächelte leicht. Es tat gut wieder mit einem so guten alten Freund zu lachen, obwohl Shade mit einem Wiedersehen erst in zwei bis drei Jahren gerechnet hatte. Es freute ihn, dass Kortas nun doch hier war, und mit ihm an seiner Seite würde die Reise sicher ein Kinderspiel werden.
Sie gingen plaudernd zu dem kleinen Gasthof hinüber und traten durch die Tür.

Die Schänke war gut besucht. Krieger saßen in Gruppen zusammen, tranken und lachten gemeinsam, manche Männer sahen eher nach Bauern aus, die ihren wohlverdienten Feierabend genossen. Manche hatten sich Mädchen geschnappt, wahrscheinlich gehörten sie zum Haus und standen gut zahlenden Kunden zum Vergnügen zur Verfügung. Shade und Kortas hatten sich in eine Ecke gesetzt und jeweils ein Bier bringen lassen, auch wenn das ein unübliches Getränk für Elfen war, bei ihren Feiern mit Rowland und seinen Schlägerkumpanen hatten sie es kennen und mögen gelernt. Nachdem sie Anfangs etwas über die alten Zeiten geplaudert hatten, redeten sie nun über die Zukunft, die nahe vor ihnen lag und die sie wieder gemeinsam zu bestreiten gedachten.
Shade konnte es immer noch nicht fassen, dass er eine Art Auserwählter sein sollte, der die Welt retten musste. Diese Verantwortung kam so überraschend wie auch ungelegen auf ihn zu, denn er hatte gehofft, hier in Nefarat könnte er wenigstens kurz etwas sorglos ausspannen.
"Also, Kortas", fing Shade an, "was ist geplant? Hat Nerophan gesagt, was er mit mir vor hat? Jetzt, da er sich ja so in die Idee hineinzusteigern scheint, dass ich auserwählt sei."
"Du bist es, Shade... das heißt, es ist sehr wahrscheinlich, dass du es bist."
Shade sah seinem alten Freund tief in die scharfen Waldelfen-Augen. Es ist sehr wahrscheinlich. Er ließ sich diese Worte durch den Kopf gehen und musterte so gut er konnte die Gesichtszüge seines Gefährten. Wenn sie sich nicht sicher wahren, wieso erzählten sie ihm dann dies alles?
"Nun, Shade, es gibt da noch einen... Konkurrenten."
Hatte er schon die ganze Zeit interessiert die Erzählungen von der alten Prophezeiung verfolgt, so wurde der Dunkelelf jetzt erst richtig hellhörig.
"Was? Soll ich nun noch mit jemandem darum kämpfen, die Welt retten zu dürfen?"
Kortas stieg ein leichtes Lächeln in die Mundwinkel, welches er nicht ganz unterdrücken konnte, so sehr er es auch wollte. Dieses Thema war sehr ernst und Shade gefiel es offensichtlich ganz und gar nicht, plötzlich solch eine Verantwortung übernehmen zu sollen.
"Wir werden morgen mit Nerophan darüber reden. Es geht darum, dass es doch noch einen deines Stammes gibt, der das Angraphara überlebte. Er ist jünger als du, doch unterschätze ihn nicht!"
Die beiden saßen noch mindestens drei Stunden in der kleinen Kneipe und redeten über die Reise, die sie antreten sollten, und die Reise, die Shade hinter sich gebracht hat, um hier her zu gelangen, und schließlich gingen sie wieder zurück zu Nerophan, um den anderen von den Neuigkeiten zu berichten.

Das Zimmer war in den gemütlichen, rotgoldenen Schein des frühen Abends getaucht, den die schweren, zur Seite gezogenen Vorhänge der Fenster einladend hineinließen. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, welches willkommene Wärme spendete, die von den dicken Glasscheiben und der schweren Tür im Raum eingesperrt wurde. Kazahni und Ragnor waren den ganzen Tag über in der Stadt unterwegs gewesen und er hatte ihr erklärt, wie und wo sie diese finstere Bruderschaft finden konnten, die sich selbst Totengräber nannten. Ragnor hatte von einem Magier hier in Nefarat den Auftrag bekommen diese Gruppe außer Gefecht zu setzten, allerdings wurde ihm der Grund nicht gesagt. Solche Aufträge waren sicherlich immer eine etwas fragwürdige Art von Abenteuer. Schließlich war es in höchstem Maße illegal, einen Mord an jemandem zu begehen, auf den kein Kopfgeld ausgesetzt war.
Da sie sich vermummen mussten um nicht erkannt zu werden, hatten sie Kazahni am Nachmittag in der Stadt entsprechende Kleidung besorgt. Dies hat etwas mehr Zeit in Anspruch genommen, denn Ragnor, der sich anscheinend schon öfters mit Aufträgen dieser Art beschäftigt hatte, war sehr bedacht darauf, bei verschiedenen Händlern zu kaufen. Es sollte niemand Verdacht schöpfen. Wenn ein Kunde eine komplette Garderobe bei ein und dem selben Händler kaufte, die "Verbrecher" geradezu zu schreien schien, würde man sich nach dem Bekanntwerden der Tat sicher daran erinnern. Und dies war zu vermeiden.
Danach hatten sie sich zwei Zimmer in einem billigen Gasthof besorgt. Kazahni hatte sich für ein Zimmer im vierten Stock entschieden, da die meisten Häuser der Stadt nur bis zum dritten reichten. So konnte sie bequem das Haus durchs Fenster verlassen, ohne dass jemand sie in ihrem schwarzen Gewand behelligen konnte. Ragnor dagegen hatte keine andere Wahl als den Haupteingang des Gebäudes zu benutzen, denn bei seinem Gewicht wäre das Dach des Nachbargebäudes wahrscheinlich eingebrochen, hätte er versucht darauf zu springen. Kazahni würde bei Einbruch der Nacht seine Ausrüstung mitnehmen, sodass es aussah, als wolle Ragnor nur wie so viele Andere die Freuden der Nacht genießen. Seine schwere Streitaxt und ein Kettenhemd hatten sie vorher in einer dunklen Seitengasse in einem Fass versteckt und dieses mit einem Fetzen von Kazahnis ohnehin schon mitgenommen aussehender Kutte markiert. Sie gingen davon aus, dass sie dort niemand finden würde bis zu ihrem Aufbruch.
Nun saß Kazahni in ihrem Zimmer und probierte ihre neuen Kleider an. Zuerst bedeckte sie den nackten Körper mit eng anliegender Kleidung aus schwarz gefärbter Baumwolle, die später die Stellen der Haut verdecken sollte, die die Lederrüstung ausließ. Dann schlüpfte sie in lange Stiefel aus dünnem Leder, die ihr bis in den Schritt reichten, und für die Bewegungsfreiheit vorne und hinten an den Knien unterbrochen waren. Diese wurden mit schwarzen Lederriemen, die an einen breiten Gürtel geschnallt wurden, vor dem Verrutschen gesichert. Schließlich kamen noch die Lederhandschuhe und die dazu passenden Unterarmschienen dazu und eine schwarze Lederweste, die sie an dünnen Riemen vor der Brust zusammenzog. Zum Schluss steckte sie die Haare hoch, um sie unter der Maske zu verbergen, die ihr Gesicht verhüllte.
Als sie alles angelegt hatte sah sie sich im Spiegel an, der in ihrem Zimmer an der Wand lehnte. Es war nicht gerade das beste Stück, denn gute Spiegel waren teuer und dies war kein teueres Hotel sondern nur ein Gasthof einer Großstadt. Doch sie konnte in dem leicht verzerrten Spiegelbild genug erkennen um zu wissen, dass sie in dem Aufzug zwar verdächtig war, aber niemand sie erkennen würde. Sie bewegte sich etwas. Streckte die Beine auseinander, hob und senkte die Arme bis sie sich sicher war, dass sie sich gut und frei bewegen konnte und der Anzug auf ihr wie eine zweite Haut lag. Dann sah sie aus dem Fenster und bemerkte wie früh der Abend noch war. Es würde sicher noch zwei Stunden dauern, bis es los ging und so legte sie die Kleidung wieder ab und legte sich auf das große, weiche Bett, wo sie in der dicken, warmen Decke einsank. Es überraschte sie auch hier wieder, was es in der Welt der Menschen für wohltuende Gefühle gab. Auch wenn Untote weder Kälte noch Wärme spürten, fühlte sie doch diese einhüllende weiche Präsenz um sie herum, die bei jeder Bewegung irgendwo an ihrem nackten Körper rieb. Die Schlafstätten in den Heeren waren nie so bequem gewesen. Dort hatte man sich mit hundert anderen in einen engen feuchten Raum gelegt und blieb so lange dort, bis man seinen Körper für regeneriert hielt um dann wieder seiner Arbeit nachzugehen. So blieb sie liegen und wartete, bis der Schatten der Nacht über die Stadt kommen würde und ihr Abenteuer beginnen konnte.

Ragnor ging aufrecht und lächelnd durch die Gaststube des Hauses, in dem sie ihre Zimmer genommen hatten und den Rest des Tages mit Vorbereitungen für die Nacht beschäftigt waren, zu denen unter anderem auch Schlafen gezählt hatte. Bei dem Gedanken, dass der hünenhafte Abenteurer dies gerne im Bett seiner neuen Weggefährtin getan hätte, schlich sich ein leichtes Grinsen auf seine Züge, doch er begrub diesen Gedanken schnell wieder und schritt weiter durch den Raum, der sich langsam mit Leuten füllte, die nach einem arbeitsreichen Tag nun bei Bier und Gesang die Nacht genießen wollten. Für die zwei Abenteurer jedoch lag dieser Genuss in anderen Tätigkeiten versteckt und diese zu verrichten waren sie nun im Begriff zu tun. Er ging hinaus auf die Straße und wusste, dass er nicht behelligt worden war, denn er trug weder Waffen noch Rüstung und hatte sich stattdessen mit einer typischen Abendgarderobe gekleidet, wie sie so oft in Nefarat getragen wurde. Er trug seine schwarzen, festen, knielangen Lederstiefel, die am oberen Rand mit grauweiß gemustertem Wolfsfell versehen waren und darüber eine schwarze, weit geschnittene Hose, die sich über den Stiefeln staute und von einem schweren, dunkelbraunen Wildledergürtel gehalten wurde. Seinen Oberkörper bedeckte ein eng anliegendes Leinenoberteil, dessen lange Ärmel die Arme bis zu den Fingern herunter versteckte und durch das sich deutlich die ausgeprägten Muskeln des Hünen drückten. Dies war noch gekrönt von einer Weste aus schwarzem Leder, an den Rändern verziert mit demselben weißgrauen Wolfsfell der Stiefel. Die schulterlangen dunkelbraunen Haare fielen ihm locker ins Gesicht und so sah er aus wie ein geschmackvoller, gut trainierter junger Mann, der sich die Nacht in einer Kneipe, einem  Bordell oder beidem vertreiben würde und nicht wie jemand, der im Begriff war, ein Attentat im großen Stil vom Zaun zu reißen. Als er die Straße hinunterging sah er kurz zum Fenster von Kazahnis Zimmer hoch und stellte fest, dass die Lichter nun erloschen waren und im schwachen Licht des Halbmondes glaubte er erkennen zu können, dass die Fenster noch geöffnet waren. Wollen wir doch mal sehen wie zuverlässig du bist, dachte er sich, als er die von Fackeln erhellte Straße hinab schritt und sorgsam darauf achtete sich zu vergewissern, dass niemand ihm folgte, ohne gerade dadurch verdächtig zu werden.

Die kleine Gasse in der Nähe des Einstiegs in Nefarats Kanalisation, den sie nutzen würden, um den geheimen Versammlungsraum der Totengräber erreichen zu können, lag in fast vollkommener Finsternis und die Lichter der größeren Straße erleuchteten nur die Umrisse von Fässern und Kisten, die hier scheinbar ohne großen Nutzen standen. Er sah sich ein letztes Mal um und versicherte sich, dass niemand ihn behelligte. Er stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass niemand auf der Straße war, außer zwei Trunkenbolden, die es – wie auch immer – geschafft hatten sich zu besaufen noch bevor die meisten Bürger der Stadt überhaupt die Türschwelle einer Kneipe überschritten hatten und die nun damit beschäftigt waren sich gegenseitig davor zu bewahren, das Gleichgewicht beim Torkeln zu verlieren. Als einer der beiden ausrutschte und grinsend der Länge nach auf der gepflasterten Straße aufschlug, musste Ragnor kurz schmunzeln und wandte sich dann von ihnen ab um in die Dunkelheit der Gasse einzutauchen und wie nach Plan mit seiner Arbeit fortzufahren.
Er ging auf die Fässer in der Dunkelheit zu und tauchte in die Schatten ein. Bis er sich etwas an die Finsternis gewöhnt hatte tastete er sich seinen Weg tiefer in die Gasse und kam schließlich zu dem Fass, welches sie markiert hatten, indem sie einen Stofffetzen von Kazahnis Kutte an einen hervorstehenden Nagel geknotet haben. Er öffnete den lose aufliegenden Deckel und tastete nach dem Inhalt, den er schließlich unversehrt vorfand. Der Hüne zog die schwere Axt am Griff heraus und stellte sie an eine Kiste gelehnt ab, um auch das Kettenhemd hervor zu holen und anzuziehen und dann das Fass wieder zu verschließen. Als er die Waffe wieder greifen wollte, packte seine Hand ins Leere und stieß an die Kannte der hölzernen Kiste, deren Umriss Ragnor nun besser erkennen konnte, da seine Augen sich schon fast ganz an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sofort zog er die Hand zurrück und wirbelte herum, doch er konnte niemanden sehen, der die Waffe hätte klauen können und war sich sicher, immer noch allein zu sein, bis ihn eine ruhige, doch fordernde Stimme fragte:
"Suchst du die hier?"
Erneut wirbelte er herum und etwa einen Meter über ihm auf der Anhäufung von gestapelten Kisten und Fässern erblickte er die schlanke Gestalt, der die Stimme gehörte und die nun die Axt in Händen hielt.
"Kazahni. Ich bin beeindruckt!"
Die Frau sprang hinunter und landete nahezu lautlos auf dem gepflasterten Boden der kleinen Gasse, wo sie sich schnell aufrichtete um dem Abenteurer seine Waffe wieder zu geben. Sie war nun in ihren neun, hautengen Kampfanzug gehüllt und trug zwei Kutten bei sich. Mit der einen Verhüllte sie ihre eigene Gestallt und die andere, wesentlich breiter und länger geschnittene, reichte sie Ragnor, der sie zögernd überstreifte. So verhüllt schlichen sie weiter durch die Gassen, bis sie schließlich zu dem Kanaldeckel gelangten, durch den Ragnor hinabsteigen wollte und wenige Minuten später hatte der Untergrund die beiden verschlungen.

Nachdem sie lange durch die verwobenen Kanäle der Stadt gewatet waren, fanden sie schließlich  am Ende eines breiten Tunnels einen Torbogen, hinter dem Licht zu erkennen war. Als Kazahni vorsichtig um die Ecke blickte, erkannte sie einen von Fackeln erleuchteten großen Raum, der wie eine Empfangshalle wirkte. Allerdings gab es keinen Empfang, denn keine Menschenseele war zu sehen. Sie gab Ragnor ein Zeichen und dann betraten beide die Halle um sich genauer umzusehen. Dazu kamen sie allerdings nicht, denn kaum, als sie bis zur Mitte des Raumes vorgedrungen waren, wurden sie auf eine kleine, vermummte Gestalt aufmerksam, die aus einer Tür auf der rechten Seite des Saals kam. Sie wirkte kaum bedrohlich, weshalb Kazahni auch nicht sofort angriff, und als die Gestalt sie erblickte, kam sie zögernd auf die Beiden zu. Eine Stimme unter der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze fragte:
"Seid ihr von den Kriegern?"
Ragnor, der die Axt in seiner Rechten Hand fest gegriffen hatte, um sich für einen Angriff bereit zu machen, entspannte sich wieder etwas. Der Kleine muss sie für Totengräber halten. Kein Wunder, sie trugen ähnliche Kutten wie er und wahrscheinlich fühlte die Gilde sich hier unten sehr sicher.
"Ja!" antwortete er ohne groß darüber nachzudenken und beobachtete mit Zufriedenheit wie Kazahni sich auch wieder aus ihrer Angriffshaltung lockerte. Der kleine Totengräber kam nun hastiger auf sie zu und winkte mit der Hand zur linken Seite der Halle.
"Ihr kommt spät, die Versammlung hat bereits angefangen. Ihr wisst, wie ihr zum Saal der Toten kommt, also hurtet euch!"
Der Totengräber wandte sich von ihnen ab und verschwand schließlich wieder in der Tür, aus der er gekommen war. Ragnor und Kazahni wechselten kurz einen Blick, dann zog Kazahni ihr Schwert und deutete nach links, wo sich ein großer Durchgang befand, den der kleine Mann wohl gemeint haben muss.
"Also los."
Sie gingen durch einen langen Tunnel, auf dessen Seiten ständig kleinere Türen abzweigten, die aber unbedeutend schienen. Die beiden hatten keine Lust von Anfang an alles zu durchsuchen, denn wenn man sie eh für Angehörige der Totengräber hielt, hätten sie sicher später noch genügend Zeit. Was Ragnor wichtiger erschien, war, zuerst einmal einen Hauptmann zu finden, etwas in Erfahrung zu bringen über die Struktur dieser Gruppe. Vielleicht konnten sie sie mit kleinem Aufwand zerschlagen und später die Reste vernichten.
Schon von weitem drangen Stimmen zu den Beiden und sie hielten sich bereit, sich gegen schlimmstes zur wehr zu setzen. Schließlich erreichten sie das Ende des Tunnels und fanden sich hinter einem weiteren Torbogen in einer art Arena wieder. Hinter dem Tor führten Stufen tief in den Raum zu einer mit Sand ausgelegten Fläche, auf der ein Podest aus Stein errichtet war. Auf diesem Podest stand ein schwarz gekleideter Mann und hinter ihm klaffte eine Grube, deren Inneres von hier nicht einzusehen war. Anhänger der Totengräber drängten sich auf den breiten Stufen, die den Raum kreisförmig wie die Tribünen einer Arena umschlossen, und lauschten neugierig den Worten des Redners. Kazahni sah sich um und entdeckte schließlich eine Galerie, die oben in den Schatten der scheinbar natürlichen Höhle verborgen lag. Eine Leiter neben dem Durchgang, durch den sie gekommen waren, führte in die Höhe und die beiden kletterten schnell an ihr empor, solange die Menschen noch durch die scheinbar mitreißende Rede ihres Führers abgelenkt waren.
Oben angelangt sahen sie sich um. Die Galerie, welche den ganzen Raum kreisförmig umspannte, war nicht wie normal an den Felswänden befestigt sondern nur stellenweise auf Vorsprünge gebaut. Der Rest hing an armdicken Ketten, die auf der anderen Seite in der felsigen Decke verankert waren. Sehr gewagt, dachte sich Ragnor, der nicht verstehen konnte, warum man eine solch schwere Konstruktion aus Mörtel, Stein und Holz an Ketten mindestens zehn Meter über dem Boden aufgehangen hatte. Sie sahen über das Geländer in den Raum hinunter und nun konnten sie die Grube genauer betrachten und Kazahni verstand sofort, was hier getan wurde. Die Grube war angefüllt mit Blut und die Gedärme und Körperteile, die darin schwammen, ließen darauf schließen, dass hier vor nur wenigen Minuten, vielleicht einer halben Stunde, mehrere Menschen brutal geschlachtet worden waren. Eine Leiche trieb an der Oberfläche und aus ihrem aufgerissenem Brustkorb loderte eine weiße Flamme, die garantiert magischer Herkunft war. In schwarze Kutten gehüllte Gestalten liefen am Rand der Grube entlang und streuten ständig etwas hinein. Kazahni wusste, was es war, auch wenn sie es von hier oben nicht erkennen konnte. Salbei, Weihrauch, Zimt... Sie wollten einen Feuerdämon herbeirufen. Einen sehr mächtigen wahrscheinlich. Flüsternd teilte sie ihre neue Erkenntnis ihrem Gefährten mit, woraufhin dieser einen besorgten Blick auf das Geschehen unter ihnen warf.
Die großen Flügeltüren des Eingangs schlossen sich. Und jemand verbarrikadierte sie von außen. Die Totengräber schien das nicht sonderlich zu interessieren, vielleicht kannten sie ja diese gottlose Prozedur schon aus vergangenen Tagen. Die Menge wurde unruhig, als der Prediger anfing seine Formeln zu sprechen. Es dauerte wenige Minuten, dann waren alle in einen gleichmäßigen, fremd klingenden Sprachgesang verfallen, den das Ritual erforderte. Kazahni sah sich auf der Galerie um. Auf der rechten Seite entdeckte sie auf einem Felsvorsprung eine Treppe, die hoch in die Dunkelheit führte. Sie gab Ragnor ein Zeichen und als die beiden gerade losgehen wollten um sich den Vorsprung genauer anzusehen, hörten sie Kampfeslärm. Leise, durch den Gesang der in schwarz gekleideten Gestalten kaum zu hören, aber doch präsent. Kurz darauf öffneten sich die Türflügel wieder und Soldaten strömten in den Raum. Das Klimpern der Kettenhemden und der Klang von beschlagenen Stiefeln auf dem steinernen Boden erfüllten den Raum und nur wenige Sekunden später war Chaos ausgebrochen.

Mitten in der Nacht erwachte Shade in seinem Zimmer. Sein Schlaf war traumlos gewesen und er wusste nicht, was ihn sonst hätte wecken können nach solch einem ereignisreichen Tag, doch er war wieder hell wach. Nachdem seine Elfenaugen sich schnell an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er sich kurz im Raum um und erkannte keine unmittelbare Gefahr. Er richtete sich auf und strich sich mit den Fingern die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Einschlafen würde er so schnell sicher nicht mehr, also entschloss er sich dazu ein wenig an die frische Luft zu gehen.
Auf den Fluren des Gasthauses war alles ruhig. Die Besucher schienen allesamt zu schlafen und die Angestellten samt Hausherren waren wohl auch zu Bett gegangen. Shade ging ein paar Treppen hoch und fand sich schließlich auf der kleinen Dachterrasse des Hauses wieder. Die Sterne wurden zum größten Teil von Wolken verdeckt und es war sehr kalt. Der Dunkelelf wollte gerade wieder hineingehen um sich eine Jacke zu holen, denn er trug nur seine schwarze, weit geschnittene Hose aus Kressleder, als er im Westen etwas ungewöhnliches bemerkte. Die Stadt war längst nicht zum schlafen gekommen, auch wenn es Mitternacht war, und oft schien hier und da noch Licht aus den Fenstern und auf den Hauptstraßen erleuchteten immer noch große Fackeln die Bürgersteige, auf denen auch zu so später Stunde noch Leute ihrer Wege gingen. Doch im Westen lag das Arbeiterviertel. Der Hauptsitz des Handwerks hier in Nefarat. Die Schmieden und Tischlereien schliefen des nachts normalerweise und ihre Lichter sollten erloschen sein. Das waren sie auch, doch mitten in diesem großen Fleck Finsternis zwischen dem noch belebten Händlerviertel auf der einen und der noch weitaus lebhafteren  Hauptstraße auf der anderen Seite, erhellte ein großer Flecken Licht die Nacht. Shade sah genauer hin und erkannte Flammen, die zwischen den Häusern tanzten. Vielleicht eine Schmiede, die in Brand geraten ist. Er verrenkte die Arme vor der Brust und verweilte noch etwas, um die Situation zu beobachten.

Ragnor hatte ihr eine Adresse gesagt, zu der sie gehen sollte, sollte der Auftrag schief gehen, oder der Barbar die Nacht nicht überleben. Kazahni hatte das Chaos hinter sich gelassen und rannte nun durch die Finsternis, sprang von Dach zu Dach und bahnte sich ihren Weg durch die dunklen Schatten der Nacht. Auf dem nächsten Gebäude thronte ein großer, halbrunder Wasserspeicher aus Stahl und Stein, der durch die momentane Regenzeit in dieser Gegend sicher randvoll gelaufen war. Behände sprang sie auf das Blechdach der riesigen, steinernen Schüssel und verweilte dort kurz. Sie sah zurück auf die lodernden Flammen zwischen den Häusern wo vor noch wenigen Minuten die Höhle der Totengräber in sich zusammen gebrochen war und Dämon mitsamt Totengräbern und Stadtwache unter Trümmern begraben hatte. Die Untote dachte zurück. Was war eigentlich geschehen?
Es begann damit, dass die Truppen den Raum stürmten und die schwarz gekleideten Gestalten attackierten. Ein Gefecht brach aus. Kazahni und Ragnor flohen über die Treppe, welche sie gefunden hatten, und kamen in einem Lagerhaus an die Oberfläche. Das letzte, was Kazahni in der Höhle gesehen hatte, war der Dämon gewesen, den der Priester beschworen hatte. Er war mächtig, sein Leib brannte lichterloh und für einen Moment war alles still und als die beiden Gefährten das Lagerhaus fluchtartig verlassen hatten, gab es einen großen Knall und unter Ohren betäubendem Lärm brach es hinter ihnen in sich zusammen. Der Körper des Dämonen war zerrissen und das Wesen gebannt, soviel stand fest, denn ein so helles und intensives Feuer entsteht nur, wenn ein Feuerwesen es auch will, oder wenn es stirbt.
Kazahni wandte sich von dem Anblick der lodernden Flammen ab und sprang mit einem großen Satz auf das nächste Dach um ihre Flucht fortzusetzen und während die Dachpfannen unter ihren Füßen leise klapperten und knarrten, dachte sie an Ragnor. Sie wusste nicht, ob der Barbar es geschafft hatte, lebend den Soldaten der Stadtwache zu entkommen, von denen es in den Straßen plötzlich nur so wimmelte und eigentlich war es ihr auch egal, doch irgend etwas in ihr machte sich die Mühe, die Gedanken an diesen Mann an die Oberfläche zu bringen, auch wenn sie nicht genau wusste was. Während sie noch nachdachte trugen ihre Beine den schlanken Körper weiter über die Dächer und nach dem nächsten großen Sprung landete sie auf einer kleinen Dachterrasse, wo sie fast das Gleichgewicht verlor, weil sie sich so plötzlich wieder auf festem, berechenbarem Boden befand. Wieder sah sie zurück und war selbst überrascht, wie weit sie schon gekommen war. Allerdings mochte die Entfernung auch täuschen, denn es schien, als würden die Flammen beständig kleiner werden. Wahrscheinlich waren die Kutschen der Feuerwehr schon angerückt und hatten damit begonnen das Feuer zu bändigen.
"Eine seltsame Art habt ihr da entdeckt, des Nachts spazieren zu gehen!"
Instinktiv griff sie über ihre rechte Schulter hinter sich, wo der Griff ihres Schwertes sein sollte, und drehte sich um in die Richtung, aus der sie die Stimme vernommen hatte. Vom Schatten verdeckt erkannte sie die Umrisse einer menschlichen Gestalt und als sie merkte, wie ihre Hand ins Leere packte, weil ihr Schwert unterwegs verloren gegangen war, geriet sie kurz in Unsicherheit. Sofort stoppte sie ihren Angriff und entschloss sich zu fliehen.

Die Frau, die so plötzlich auf der Terrasse aufgetaucht war, drehte sich mitten im Angriff schlagartig um und sprang über das Geländer hinab in die Tiefe. Shade dachte nicht lange nach. Er verfolgte immer alles etwas genauer, was irgendwie merkwürdig war, und das hier war sehr merkwürdig. Also sprang er hinterher, landete auf einem Vordach und rannte der dunklen Gestalt hinterher, die sich schnell entfernte. Am Ende des Daches folgte er ihrem Sprung auf das Nachbargebäude und von dort aus weiter über die nächsten drei Dächer, während die Dachpfannen und die darunter liegenden Holzplatten unter dem Gewicht hin und wieder protestierend stöhnten und ächzten. Schließlich verlagerte sich die Jagd auf eine Brücke zwischen zwei Häusern, von der aus die Frau direkt weiter Sprang auf die nächste Brücke, die allerdings verdammt weit entfernt lag. Shade, der sehr gut trainiert war und dem das Dunkelelfenblut in seinen Adern die Fähigkeit gab, Sprünge zu machen, die ein Mensch nie schaffen würde, hielt ein. Er stand auf dem schmalen Steg der kleinen Brücke und sah der Gestalt hinterher, wie sie in den Schatten verschwand, die der Mond aus der Finsternis der Nacht riss. Wer auch immer diese Frau war, ein Mensch war sie auf keinen Fall. Und sie war es ihm auch nicht Wert, dass er mitten in der Nacht hier draußen stand und frieren musste, denn er hatte sich immer noch nichts übergezogen. Shade sah sich um, entschloss sich dazu, nicht in die privaten Gemächer einzutreten, die an den Enden der Brücke hinter verschlossenen Türen ruhten, und ließ sich deshalb hinab auf die Straße fallen, wo er den Weg zurück zum Gasthaus antrat. Wenn diese Begegnung für Shades  Schicksal wichtiger war, als ein zufälliges Aufeinandertreffen mit einer elfischen Diebin auf der Flucht, würde es sich sicher bald wiederholen.
 

© V.Geist
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Und sicher schon bald geht es hier weiter zum 5. Kapitel...

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