Es herrschte eine angenehme Atmosphäre
hier im Raum. Shade sah sich um, doch außer ein paar Regalen mit
Büchern konnte er vorerst nicht viel erkennen. Weiter hinten im Raum
stand eine kleine Öllampe auf einem massiven Holztisch. Zwei gut gepolsterte
Sessel standen dort zwischen Türmen von Büchern, Gläsern
und Artefakten. Wurzeln, Kräuter und Ähnliches hingen von der
Decke herab und erfüllten den Raum mit angenehmen Düften. Die
Öllampe verstrahlte ein schwaches Licht, das die nähere Umgebung
etwas erleuchtete.
Einer der Sessel war leer. In dem anderen
saß ein Mann in einer tiefbraunen Kutte. Langes graues Haar und ein
langer Bart derselben Farbe verdeckten sein Gesicht zum Teil. Strähnen
fielen ihm ins faltige Gesicht und ein tiefer Schatten verdeckte seine
Augen. Als Shade näher trat, klappte er das Buch zu, in dem er gelesen
hatte, und legte es auf den Tisch. Er sah Shade an. Musterte seine Gestalt
von oben bis unten. Dann stand er auf, stützte sich mit der Linken
auf seinen Stock und machte eine einladende Geste, die Shade sagte, er
solle näher kommen. Als die beiden sich gegenüberstanden sah
der alte Mann tief in Shades Augen, der etwa einen ganzen Kopf größer
war als der Magier. Dann endlich lächelte der Alte und eine warme,
ruhige Stimme war zu hören.
"Shade! Es freut mich, dass du gekommen bist."
"Meister Nerophan, wie hätte ich nicht
kommen können, ich hatte es versprochen und es war gewiss auch die
Neugierde, die mich hierhin zog."
Der Magier lächelte, dann ließ
er sich wieder in seinen Sessel fallen.
"Setz dich, Shade. Du bist mir ein willkommener
Gast."
Shade tat, was man ihm anbot und auch der
große Südländer trat nun heran und ließ sich auf
einem Fass am Rande des Lichtkreises nieder, welchen die kleine Öllampe
warf. Er sah Shade kurz an, dann nahm er ein Buch vom Boden auf und begann,
darin zu lesen. Kurz beobachtete Shade den Hünen. Es erstaunte ihn
schon etwas, dass solch ein kriegerisch und barbarisch aussehender, kräftiger
Mann ein Buch in die Hand nahm. Nerophan lachte
kurz leise auf.
"Bewundernswert, nichtwahr? Er ist mein neuer
Leibwächter. Asuhl ist sein Name. Ich hatte ihn nur für meine
Sicherheit angeheuert, doch wer hätte gedacht, dass in einem solchen
Krieger der Drang zum Lernen und Lesen existiert."
Asuhl sah kurz auf, vertiefte sich dann aber
wieder in sein Buch. Shade kümmerte sich nicht weiter um ihn. Er wandte
sich Nerophan zu.
"Meister, ich weiß eure Gastfreundschaft
sehr zu schätzen. Und ich will nicht aufdringlich sein. Doch sagt
mir, was ist es, was ihr mir sagen wolltet. Warum musste ich erst diese
Prüfungen und Kämpfe hinter mich bringen?"
"Nun," begann der Alte Magier, "ich konnte
es dir nicht sofort sagen. Ich musste warten und beobachten. Deshalb diese
lange Zeitspanne, verstehst du?"
"Was beobachten?"
Nerophan lachte kurz leise und vergnügt
auf.
"Na dich. Sonst könnte ich dir heute
doch nichts sagen."
Shade verstand nicht. Verwirrt musterte er
sein Gegenüber als könnte er irgendwelche Antworten bekommen.
"Shade, pass auf."
Der Magier beugte sich etwas vor.
"Vor dreißig Jahren warst du hier, saßt
genau dort, wo du heute auch sitzt. Und du gabst mir das Versprechen, wieder
zu kommen. Ich brauchte diese Zeit, um dich zu beobachten. Deinen Werdegang
zu studieren..."
Der Magier faltete die Hände vor dem
Gesicht.
"Du hast dich nicht verändert, siehst
keinen Tag älter aus. Eine bewundernswerte Eigenschaft der Elfenrassen.
Du wandelst nun schon seit über 70 Jahren auf diesem Planeten und
du siehst aus wie 20. Ich bin nun 136 Jahre alt und man sieht es. Ich bin
ein alter Mann geworden Shade... Du wirst mit 140 noch aussehen wie 20."
Shade war verwirrt, das sah der Magier ihm
mit Belustigung sofort an.
"Nun, kommen wir nicht vom Thema ab. Ich habe
dich studiert. Dreißig Jahre lang und ich habe etwas herausgefunden."
Dass Shade langsamer alterte als ein Mensch,
weil er ein Dunkelelf war? Das hätte er ihm auch so sagen können.
Außerdem war es kein großes Geheimnis, dass es unter den Elfen
so manche gab, die nach der Zeitrechnung der Menschen bis zu neun Jahrhunderte
alt wurden.
"Das wolltet ihr mir sagen?"
"Nein, nein. Es ist etwas komplexer. Sieh
mal, Shade, alles was du in den dreißig Jahren tatest, war dir vorherbestimmt."
Nerophan griff einmal quer über den Tisch
und zog aus den Schatten ein Buch hervor. Es war ein dickes Buch in schwere
lederne Einbände eingeschlagen. Goldene Runen verzierten es. Runen,
die Shade sofort erkannte. Seit er denken konnte trug er diese Symbole
auf der Brust, auf dem Rücken, den Beinen, Armen, überall am
Körper. Es waren die Runen seines Clans, die Runen der ehrenwerten
Tarun’Dai.
"Unser Kodex? Außerhalb der Bibliothek
des Clans?"
"Nein, Shade. Bedauerlicherweise nur eine
Abschrift. Kein Clan der Dunkelelfen würde seinen Kodex in die Hände
eines Menschen geben. Nicht das Original."
Shade zeigte sich überrascht und lächelnd
fuhr Nerophan fort.
"Ich empfinde es als eine große Ehre,
dass mir dieses Buch anvertraut wurde, immerhin enthält es all eure
Geheimnisse und eure Legenden. Aber ich war auch lange Zeit gut Freund
mit eurem Clan. Einst kämpfte ich Seite an Seite mit deinem Vater,
möge er in Frieden ruhen..."
Sichtlich überrascht blickte Shade auf
und starrte geradezu erwartungsvoll in das Gesicht des Magiers.
"Ihr kanntet meinen Vater?"
"Aber sicher. Er und Dronmath vertrauten mir
seiner Zeit diese Abschrift des Kodex an. Du warst gerade ein Jahr alt."
"Dronmath. Er hat mich damals losgeschickt
auf diese Reise. Er sagte, ich sollte mein Schicksal finden, es wäre
wichtig für mich und den Clan."
"Richtig. Dronmath, Clanvater der Tarun’Dai.
Er, ich und dein Vater fieberten diesem heutigen Tag entgegen. Schade nur,
dass dein Vater ihn nicht erleben kann."
Kurz legte sich Stille. Dann sprach Shade
wieder.
"Aber, was ist nun mit mir?"
"Das, mein Freund, will ich dir nun sagen."
Er legte die Hand flach auf den Einband des
Buches.
"In diesem Buch gibt es eine Prophezeiung.
Sie betrifft die ganze Welt und in allen Kodexen der Dunkelelfen ist davon
die Rede."
Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort.
"Nun, diese Prophezeiung erzählt von
einem großen Krieger der Tarun’Dai, der die Welt vor dem Untergang
retten soll."
"Die Tarun’Dai haben hunderte junge Krieger,
die ausgebildet werden."
"Ja, aber keiner ist so, wie du, Shade."
Der junge Dunkelelf sah den Magier erwartungsvoll
an.
"Du bist das einzige Kind, das einer Vereinigung
von Elf und Mensch entsprungen ist und das fünfte Jahr seines Lebens
überlebt hat. Bei den Dunkelelfen wird ein Ritual durchgeführt,
das solche Kinder vor dem Wahnsinn schützen soll."
"Ich kenne mich mit den Sitten meiner Rasse
bestens aus", unterbrach Shade den Altmeister.
"Und ich musste hart um Anerkennung kämpfen,
weil ich dieses besondere Kind war, welches das Angraphara überlebte."
Finsternis hatte sich auf Shades Gesicht breit
gemacht. Diese Mine versetzte selbst den mächtigen Magier vor ihm
kurz in Angst. Doch dann lächelte er wieder munter und erzählte
Shade weiter von der Prophezeiung.
"Pass auf, mein Freund! Es geht darum, dass
ein Krieger kommen wird, in einer dunklen Stunde dieses Zeitalters, unseres
Zeitalters. Und er wird die Gefahr, die droht, zurückzuschlagen wissen.
Dieser Krieger bist du!"
Shade sah ihn ungläubig an.
"Was für eine Bedrohung meint ihr, Meister?
Ich habe keine gesehen?"
"Denke an den Dämon in den Wäldern
des Korand’Barius!"
"Ihr wisst von dem Bulgarniten?"
"Sicher, Shade. Wie schon gesagt, ich habe
dich studiert. Dieser Kampf, auch wenn er vielleicht unwichtig erscheint,
war die erste Schlacht eines Krieges, der so mächtig werden wird,
dass selbst die Götter erzittern werden."
"Und ihr glaubt, dass die Geschichte stimmt?"
"Geschichte???"
Große Empörung schwang in der Stimme
des Altmeisters mit.
"Es ist eine Prophezeiung der Elfenvölker.
Selbst in den Kodexen der Waldelfen steht, dass ein Dunkelelf kommen wird.
Die Hochelfen haben die selben Prophezeiungen, nur glauben sie an einen
aus ihren Reihen, welcher der Auserwählte sein wird. Aber das ist
Unfug!"
"Wieso? Wieso sollte es kein Hochelf sein,
der diese Welt rettet?"
Der Magier winkte ab.
"Diese eingebildeten Schnösel. Niemals.
Wie gesagt, auch die Waldelfen glauben an den Auserwählten der Dunkelelfen.
An dich, Shade. Auch dort habe ich Freunde. Sie halfen mir bei meinen Studien."
Shade legte die Stirn in Falten.
"Die Waldelfen?"
"Ja, Shade."
Die Stimme, die ihm antwortete, war nicht
Nerophans. Sie kam aus den Schatten hinter Shade und er kannte sie nur
zu gut. Sofort sprang er aus seinem Sessel auf und wirbelte herum. Aus
den Schatten zwischen zwei Regalen trat eine stolze, aufrechte Gestalt
hervor. Er erkannte ihn sofort, seinen alten Kampfgefährten.
"Kortas!!!"
Ein Lächeln legte sich auf die Züge
des Waldelfen.
"Es freut mich sehr, dich wieder zu sehen,
mein alter Freund!"
"Ein Krieg, so mächtig, dass selbst die
Götter erzittern werden? Was meint ihr damit?"
Sie saßen alle drei nun in einer kleinen
Runde. Nerophan, Kortas und Shade. Die Freude über das unerwartete
Wiedersehen war in Shade schnell der Neugierde gewichen und er beschloss
später mit Kortas zu feiern. Nun wollte er alles über diese Prophezeiung
wissen, von der Neorphan da erzählt hatte. Es erschien ihm als recht
unrealistisch, dass gerade er der Auserwählte sein sollte, und dass
sich eine solche Prophezeiung überhaupt erfüllte. Der Gedanke,
dass ein Mensch die Zukunft voraussagen könnte, erschien ihm geradezu
lächerlich.
"Es ist ein Konflikt, der zwischen allen Völkern
der uns bekannten Welt herrschen wird. Die Prophezeiung spricht in Rätseln,
deshalb ist es schwer sie korrekt zu deuten. Aber wir wissen, dass alle
Völker darin verwickelt sind und sie alle werden kämpfen und
Blut vergießen!"
Shade und Kortas gingen runter in den Schankraum
des Gasthauses. Rio war sehr überrascht und freute sich sichtlich
über das Wiedersehen. Nach einem kurzen Plausch zogen Shade und Kortas
los, um sich in der Stadt umzusehen und außerdem hatten sie noch
Sachen zu bereden, von denen die anderen vorerst nichts mitkriegen sollten.
Also machten die beiden sich auf den Weg, unbewaffnet natürlich, um
keinen unnötigen Streit zu provozieren. Als sie die Hauptstraße
hinunter schlenderten, fiel Kortas ein Waffenladen auf. Sie gingen rüber
und betraten das Geschäft.
Es war ein großer Raum, in dem man alles
Erdenkliche an Schwertern, Dolchen und Äxten kriegen konnte, was man
suchte. Shade war überrascht von der Auswahl. Kortas sah sich kurz
um und ging dann zum Tresen rüber, wo ein etwas untersetzter, dicklicher
Mann mit Halbglatze gerade die Klinge einer großen, meisterhaft geschmiedeten
Streitaxt polierte.
"Entschuldigt," sprach er den Mann an, der
sofort die Waffe beiseite legte und den Elfen mit einem Grinsen auf den
schmalen Lippen begrüßte.
"Werte Kundschaft, wie kann ich zu diensten
sein?"
Kortas stützte sich mit den Handballen
auf den Tresen und sah den Mann etwas belustigt, aber dennoch freundlich
an, während Shade im Hintergrund ein sehr langes Schwert aus einem
der Waffenschränke nahm. Kortas fuhr fort: "Ich suche einen guten
Bogen. Am besten ein Stück aus einer Elfenstädte. Carsantis am
liebsten."
Der Verkäufer musterte den Mann vor ihm,
der ihn um gut zwei Köpfe überragte. Er schien kurz zu überlegen,
dann legte er wieder sein altes Lächeln auf. "Ich müsste kurz
nachsehen, denn die Bögen sind von unseren Kunden nicht sehr gefragt."
Er redete weiter, während er durch eine Tür hinter der Theke
in einem kleinen Raum verschwand. "Es passiert öfters mal, dass Armbrüste
verlangt werden, aber den Hauptumsatz machen wir hier mit Langschwertern
und Streitäxten." Ein kurzes schelmisches Lachen war zu vernehmen
und Kortas sah kurz fragend über die Schulter zu Shade, der ebenso
fragend zurückblickte. Dann kam der Verkäufer wieder aus der
Tür und brachte einen Kurzbogen mit, den er Kortas gab. Es war ein
gutes Stück, aber schon etwas älter. Die Sehne sah abgenutzt
aus und saß nicht mehr ganz stramm. Ohne dass der Elf etwas sagte,
fing der Ladenbesitzer wieder an zu reden.
"Es ist ein älteres gebrauchtes Stück
und auch kein Elfenbogen. Es ist ein Jägerbogen, von Menschenhand
gefertigt, soweit ich weiß."
Kortas antwortete mit einem Kopfschütteln.
"Nein, kein Jägerbogen. Jäger benutzen
Langbögen."
"Aber ich habe ihn von einem Jäger gekauft."
"Vielleicht, aber dann war es ein mieser Jäger...",
entgegnete der Waldelf ohne von der Waffe in seiner Hand aufzusehen. Der
Verkäufer schien verdutzt, doch dann lächelte er schon wieder.
Leise sprach er zu Kortas:
"Ihr wisst, wovon ihr redet, guter Mann. Es
ist mir nicht entgangen, dass ihr ein Waldelf aus den Regionen um Senshaber
sein müsst, richtig?"
Kortas hatte sich nun von dem Bogen abgewandt
und sah interessiert den Mann an. Er nickte und fügte dann hinzu:
"Godward, wenn ihr es genau wissen wollt!"
Die Augen des Händlers glänzten.
"Godward. Sehr anspruchsvoll, wie ich’s mir
doch gedacht habe. Hört gut zu! Ich habe nichts, was euch interessieren
könnte, doch ich habe einen Freund, der in einer kleinen Schmiede
arbeitet, oben im Norden. Sie liegt in einem kleinen Waldstück, nicht
weit vom Nordtor der Stadt entfernt. Ein Waldelf, wie ihr einer seid. Wenn
ihr also einen guten Langbogen haben wollt, dann besucht ihn doch einfach.
Sagt, Gerald habe euch geschickt, er wird sofort freundlicher euch gegenüber
sein!"
Kortas Züge zeigten ein kleines Lächeln
und er bedankte sich bei dem Mann.
Dann verließen die zwei Elfen das Gebäude
wieder und draußen fragte Shade seinen Freund: "Was ist mit deinem
alten Bogen passiert? Er war doch perfekt!"
"Nun ja" der Waldelf lächelte kurz. "Sagen
wir, er war nicht stabil genug, um das Gewicht eines jungen Gebirgsdrachen
zu tragen, er zerbrach, als das Tier auf ihn trat."
Shade nickte leicht lächelnd und dann
fuhr er fort:
"Willst du noch zu diesem Waldelfen hinter
der Stadt? Wenn, dann sollten wir jetzt losgehen, diese Stadt ist so riesig,
wir werden es kaum schaffen sie einmal zu durchqueren und vor Anbruch der
Nacht wieder zurück zu sein."
Kortas überlegte kurz, dann schüttelte
er den Kopf. "Nein, wir gehen später. Sieh, da drüben ist eine
Schenke, lass uns etwas trinken. Wir müssen noch über die gemeinsame
Weiterreise reden."
"Du willst mich also begleiten?"
"Sicher, bevor du noch in Schwierigkeiten
gerätst!"
Shade lächelte leicht. Es tat gut wieder
mit einem so guten alten Freund zu lachen, obwohl Shade mit einem Wiedersehen
erst in zwei bis drei Jahren gerechnet hatte. Es freute ihn, dass Kortas
nun doch hier war, und mit ihm an seiner Seite würde die Reise sicher
ein Kinderspiel werden.
Sie gingen plaudernd zu dem kleinen Gasthof
hinüber und traten durch die Tür.
Die Schänke war gut besucht. Krieger saßen
in Gruppen zusammen, tranken und lachten gemeinsam, manche Männer
sahen eher nach Bauern aus, die ihren wohlverdienten Feierabend genossen.
Manche hatten sich Mädchen geschnappt, wahrscheinlich gehörten
sie zum Haus und standen gut zahlenden Kunden zum Vergnügen zur Verfügung.
Shade und Kortas hatten sich in eine Ecke gesetzt und jeweils ein Bier
bringen lassen, auch wenn das ein unübliches Getränk für
Elfen war, bei ihren Feiern mit Rowland und seinen Schlägerkumpanen
hatten sie es kennen und mögen gelernt. Nachdem sie Anfangs etwas
über die alten Zeiten geplaudert hatten, redeten sie nun über
die Zukunft, die nahe vor ihnen lag und die sie wieder gemeinsam zu bestreiten
gedachten.
Shade konnte es immer noch nicht fassen, dass
er eine Art Auserwählter sein sollte, der die Welt retten musste.
Diese Verantwortung kam so überraschend wie auch ungelegen auf ihn
zu, denn er hatte gehofft, hier in Nefarat könnte er wenigstens kurz
etwas sorglos ausspannen.
"Also, Kortas", fing Shade an, "was ist geplant?
Hat Nerophan gesagt, was er mit mir vor hat? Jetzt, da er sich ja so in
die Idee hineinzusteigern scheint, dass ich auserwählt sei."
"Du bist es, Shade... das heißt, es
ist sehr wahrscheinlich, dass du es bist."
Shade sah seinem alten Freund tief in die
scharfen Waldelfen-Augen. Es ist sehr wahrscheinlich. Er ließ sich
diese Worte durch den Kopf gehen und musterte so gut er konnte die Gesichtszüge
seines Gefährten. Wenn sie sich nicht sicher wahren, wieso erzählten
sie ihm dann dies alles?
"Nun, Shade, es gibt da noch einen... Konkurrenten."
Hatte er schon die ganze Zeit interessiert
die Erzählungen von der alten Prophezeiung verfolgt, so wurde der
Dunkelelf jetzt erst richtig hellhörig.
"Was? Soll ich nun noch mit jemandem darum
kämpfen, die Welt retten zu dürfen?"
Kortas stieg ein leichtes Lächeln in
die Mundwinkel, welches er nicht ganz unterdrücken konnte, so sehr
er es auch wollte. Dieses Thema war sehr ernst und Shade gefiel es offensichtlich
ganz und gar nicht, plötzlich solch eine Verantwortung übernehmen
zu sollen.
"Wir werden morgen mit Nerophan darüber
reden. Es geht darum, dass es doch noch einen deines Stammes gibt, der
das Angraphara überlebte. Er ist jünger als du, doch unterschätze
ihn nicht!"
Die beiden saßen noch mindestens drei
Stunden in der kleinen Kneipe und redeten über die Reise, die sie
antreten sollten, und die Reise, die Shade hinter sich gebracht hat, um
hier her zu gelangen, und schließlich gingen sie wieder zurück
zu Nerophan, um den anderen von den Neuigkeiten zu berichten.
Das Zimmer war in den gemütlichen, rotgoldenen
Schein des frühen Abends getaucht, den die schweren, zur Seite gezogenen
Vorhänge der Fenster einladend hineinließen. Im Kamin brannte
ein kleines Feuer, welches willkommene Wärme spendete, die von den
dicken Glasscheiben und der schweren Tür im Raum eingesperrt wurde.
Kazahni und Ragnor waren den ganzen Tag über in der Stadt unterwegs
gewesen und er hatte ihr erklärt, wie und wo sie diese finstere Bruderschaft
finden konnten, die sich selbst Totengräber nannten. Ragnor hatte
von einem Magier hier in Nefarat den Auftrag bekommen diese Gruppe außer
Gefecht zu setzten, allerdings wurde ihm der Grund nicht gesagt. Solche
Aufträge waren sicherlich immer eine etwas fragwürdige Art von
Abenteuer. Schließlich war es in höchstem Maße illegal,
einen Mord an jemandem zu begehen, auf den kein Kopfgeld ausgesetzt war.
Da sie sich vermummen mussten um nicht erkannt
zu werden, hatten sie Kazahni am Nachmittag in der Stadt entsprechende
Kleidung besorgt. Dies hat etwas mehr Zeit in Anspruch genommen, denn Ragnor,
der sich anscheinend schon öfters mit Aufträgen dieser Art beschäftigt
hatte, war sehr bedacht darauf, bei verschiedenen Händlern zu kaufen.
Es sollte niemand Verdacht schöpfen. Wenn ein Kunde eine komplette
Garderobe bei ein und dem selben Händler kaufte, die "Verbrecher"
geradezu zu schreien schien, würde man sich nach dem Bekanntwerden
der Tat sicher daran erinnern. Und dies war zu vermeiden.
Danach hatten sie sich zwei Zimmer in einem
billigen Gasthof besorgt. Kazahni hatte sich für ein Zimmer im vierten
Stock entschieden, da die meisten Häuser der Stadt nur bis zum dritten
reichten. So konnte sie bequem das Haus durchs Fenster verlassen, ohne
dass jemand sie in ihrem schwarzen Gewand behelligen konnte. Ragnor dagegen
hatte keine andere Wahl als den Haupteingang des Gebäudes zu benutzen,
denn bei seinem Gewicht wäre das Dach des Nachbargebäudes wahrscheinlich
eingebrochen, hätte er versucht darauf zu springen. Kazahni würde
bei Einbruch der Nacht seine Ausrüstung mitnehmen, sodass es aussah,
als wolle Ragnor nur wie so viele Andere die Freuden der Nacht genießen.
Seine schwere Streitaxt und ein Kettenhemd hatten sie vorher in einer dunklen
Seitengasse in einem Fass versteckt und dieses mit einem Fetzen von Kazahnis
ohnehin schon mitgenommen aussehender Kutte markiert. Sie gingen davon
aus, dass sie dort niemand finden würde bis zu ihrem Aufbruch.
Nun saß Kazahni in ihrem Zimmer und
probierte ihre neuen Kleider an. Zuerst bedeckte sie den nackten Körper
mit eng anliegender Kleidung aus schwarz gefärbter Baumwolle, die
später die Stellen der Haut verdecken sollte, die die Lederrüstung
ausließ. Dann schlüpfte sie in lange Stiefel aus dünnem
Leder, die ihr bis in den Schritt reichten, und für die Bewegungsfreiheit
vorne und hinten an den Knien unterbrochen waren. Diese wurden mit schwarzen
Lederriemen, die an einen breiten Gürtel geschnallt wurden, vor dem
Verrutschen gesichert. Schließlich kamen noch die Lederhandschuhe
und die dazu passenden Unterarmschienen dazu und eine schwarze Lederweste,
die sie an dünnen Riemen vor der Brust zusammenzog. Zum Schluss steckte
sie die Haare hoch, um sie unter der Maske zu verbergen, die ihr Gesicht
verhüllte.
Als sie alles angelegt hatte sah sie sich
im Spiegel an, der in ihrem Zimmer an der Wand lehnte. Es war nicht gerade
das beste Stück, denn gute Spiegel waren teuer und dies war kein teueres
Hotel sondern nur ein Gasthof einer Großstadt. Doch sie konnte in
dem leicht verzerrten Spiegelbild genug erkennen um zu wissen, dass sie
in dem Aufzug zwar verdächtig war, aber niemand sie erkennen würde.
Sie bewegte sich etwas. Streckte die Beine auseinander, hob und senkte
die Arme bis sie sich sicher war, dass sie sich gut und frei bewegen konnte
und der Anzug auf ihr wie eine zweite Haut lag. Dann sah sie aus dem Fenster
und bemerkte wie früh der Abend noch war. Es würde sicher noch
zwei Stunden dauern, bis es los ging und so legte sie die Kleidung wieder
ab und legte sich auf das große, weiche Bett, wo sie in der dicken,
warmen Decke einsank. Es überraschte sie auch hier wieder, was es
in der Welt der Menschen für wohltuende Gefühle gab. Auch wenn
Untote weder Kälte noch Wärme spürten, fühlte sie doch
diese einhüllende weiche Präsenz um sie herum, die bei jeder
Bewegung irgendwo an ihrem nackten Körper rieb. Die Schlafstätten
in den Heeren waren nie so bequem gewesen. Dort hatte man sich mit hundert
anderen in einen engen feuchten Raum gelegt und blieb so lange dort, bis
man seinen Körper für regeneriert hielt um dann wieder seiner
Arbeit nachzugehen. So blieb sie liegen und wartete, bis der Schatten der
Nacht über die Stadt kommen würde und ihr Abenteuer beginnen
konnte.
Ragnor ging aufrecht und lächelnd durch
die Gaststube des Hauses, in dem sie ihre Zimmer genommen hatten und den
Rest des Tages mit Vorbereitungen für die Nacht beschäftigt waren,
zu denen unter anderem auch Schlafen gezählt hatte. Bei dem Gedanken,
dass der hünenhafte Abenteurer dies gerne im Bett seiner neuen Weggefährtin
getan hätte, schlich sich ein leichtes Grinsen auf seine Züge,
doch er begrub diesen Gedanken schnell wieder und schritt weiter durch
den Raum, der sich langsam mit Leuten füllte, die nach einem arbeitsreichen
Tag nun bei Bier und Gesang die Nacht genießen wollten. Für
die zwei Abenteurer jedoch lag dieser Genuss in anderen Tätigkeiten
versteckt und diese zu verrichten waren sie nun im Begriff zu tun. Er ging
hinaus auf die Straße und wusste, dass er nicht behelligt worden
war, denn er trug weder Waffen noch Rüstung und hatte sich stattdessen
mit einer typischen Abendgarderobe gekleidet, wie sie so oft in Nefarat
getragen wurde. Er trug seine schwarzen, festen, knielangen Lederstiefel,
die am oberen Rand mit grauweiß gemustertem Wolfsfell versehen waren
und darüber eine schwarze, weit geschnittene Hose, die sich über
den Stiefeln staute und von einem schweren, dunkelbraunen Wildledergürtel
gehalten wurde. Seinen Oberkörper bedeckte ein eng anliegendes Leinenoberteil,
dessen lange Ärmel die Arme bis zu den Fingern herunter versteckte
und durch das sich deutlich die ausgeprägten Muskeln des Hünen
drückten. Dies war noch gekrönt von einer Weste aus schwarzem
Leder, an den Rändern verziert mit demselben weißgrauen Wolfsfell
der Stiefel. Die schulterlangen dunkelbraunen Haare fielen ihm locker ins
Gesicht und so sah er aus wie ein geschmackvoller, gut trainierter junger
Mann, der sich die Nacht in einer Kneipe, einem Bordell oder beidem
vertreiben würde und nicht wie jemand, der im Begriff war, ein Attentat
im großen Stil vom Zaun zu reißen. Als er die Straße
hinunterging sah er kurz zum Fenster von Kazahnis Zimmer hoch und stellte
fest, dass die Lichter nun erloschen waren und im schwachen Licht des Halbmondes
glaubte er erkennen zu können, dass die Fenster noch geöffnet
waren. Wollen wir doch mal sehen wie zuverlässig du bist, dachte er
sich, als er die von Fackeln erhellte Straße hinab schritt und sorgsam
darauf achtete sich zu vergewissern, dass niemand ihm folgte, ohne gerade
dadurch verdächtig zu werden.
Die kleine Gasse in der Nähe des Einstiegs
in Nefarats Kanalisation, den sie nutzen würden, um den geheimen Versammlungsraum
der Totengräber erreichen zu können, lag in fast vollkommener
Finsternis und die Lichter der größeren Straße erleuchteten
nur die Umrisse von Fässern und Kisten, die hier scheinbar ohne großen
Nutzen standen. Er sah sich ein letztes Mal um und versicherte sich, dass
niemand ihn behelligte. Er stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass niemand
auf der Straße war, außer zwei Trunkenbolden, die es – wie
auch immer – geschafft hatten sich zu besaufen noch bevor die meisten Bürger
der Stadt überhaupt die Türschwelle einer Kneipe überschritten
hatten und die nun damit beschäftigt waren sich gegenseitig davor
zu bewahren, das Gleichgewicht beim Torkeln zu verlieren. Als einer der
beiden ausrutschte und grinsend der Länge nach auf der gepflasterten
Straße aufschlug, musste Ragnor kurz schmunzeln und wandte sich dann
von ihnen ab um in die Dunkelheit der Gasse einzutauchen und wie nach Plan
mit seiner Arbeit fortzufahren.
Er ging auf die Fässer in der Dunkelheit
zu und tauchte in die Schatten ein. Bis er sich etwas an die Finsternis
gewöhnt hatte tastete er sich seinen Weg tiefer in die Gasse und kam
schließlich zu dem Fass, welches sie markiert hatten, indem sie einen
Stofffetzen von Kazahnis Kutte an einen hervorstehenden Nagel geknotet
haben. Er öffnete den lose aufliegenden Deckel und tastete nach dem
Inhalt, den er schließlich unversehrt vorfand. Der Hüne zog
die schwere Axt am Griff heraus und stellte sie an eine Kiste gelehnt ab,
um auch das Kettenhemd hervor zu holen und anzuziehen und dann das Fass
wieder zu verschließen. Als er die Waffe wieder greifen wollte, packte
seine Hand ins Leere und stieß an die Kannte der hölzernen Kiste,
deren Umriss Ragnor nun besser erkennen konnte, da seine Augen sich schon
fast ganz an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sofort zog er die Hand
zurrück und wirbelte herum, doch er konnte niemanden sehen, der die
Waffe hätte klauen können und war sich sicher, immer noch allein
zu sein, bis ihn eine ruhige, doch fordernde Stimme fragte:
"Suchst du die hier?"
Erneut wirbelte er herum und etwa einen Meter
über ihm auf der Anhäufung von gestapelten Kisten und Fässern
erblickte er die schlanke Gestalt, der die Stimme gehörte und die
nun die Axt in Händen hielt.
"Kazahni. Ich bin beeindruckt!"
Die Frau sprang hinunter und landete nahezu
lautlos auf dem gepflasterten Boden der kleinen Gasse, wo sie sich schnell
aufrichtete um dem Abenteurer seine Waffe wieder zu geben. Sie war nun
in ihren neun, hautengen Kampfanzug gehüllt und trug zwei Kutten bei
sich. Mit der einen Verhüllte sie ihre eigene Gestallt und die andere,
wesentlich breiter und länger geschnittene, reichte sie Ragnor, der
sie zögernd überstreifte. So verhüllt schlichen sie weiter
durch die Gassen, bis sie schließlich zu dem Kanaldeckel gelangten,
durch den Ragnor hinabsteigen wollte und wenige Minuten später hatte
der Untergrund die beiden verschlungen.
Nachdem sie lange durch die verwobenen Kanäle
der Stadt gewatet waren, fanden sie schließlich am Ende eines
breiten Tunnels einen Torbogen, hinter dem Licht zu erkennen war. Als Kazahni
vorsichtig um die Ecke blickte, erkannte sie einen von Fackeln erleuchteten
großen Raum, der wie eine Empfangshalle wirkte. Allerdings gab es
keinen Empfang, denn keine Menschenseele war zu sehen. Sie gab Ragnor ein
Zeichen und dann betraten beide die Halle um sich genauer umzusehen. Dazu
kamen sie allerdings nicht, denn kaum, als sie bis zur Mitte des Raumes
vorgedrungen waren, wurden sie auf eine kleine, vermummte Gestalt aufmerksam,
die aus einer Tür auf der rechten Seite des Saals kam. Sie wirkte
kaum bedrohlich, weshalb Kazahni auch nicht sofort angriff, und als die
Gestalt sie erblickte, kam sie zögernd auf die Beiden zu. Eine Stimme
unter der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze fragte:
"Seid ihr von den Kriegern?"
Ragnor, der die Axt in seiner Rechten Hand
fest gegriffen hatte, um sich für einen Angriff bereit zu machen,
entspannte sich wieder etwas. Der Kleine muss sie für Totengräber
halten. Kein Wunder, sie trugen ähnliche Kutten wie er und wahrscheinlich
fühlte die Gilde sich hier unten sehr sicher.
"Ja!" antwortete er ohne groß darüber
nachzudenken und beobachtete mit Zufriedenheit wie Kazahni sich auch wieder
aus ihrer Angriffshaltung lockerte. Der kleine Totengräber kam nun
hastiger auf sie zu und winkte mit der Hand zur linken Seite der Halle.
"Ihr kommt spät, die Versammlung hat
bereits angefangen. Ihr wisst, wie ihr zum Saal der Toten kommt, also hurtet
euch!"
Der Totengräber wandte sich von ihnen
ab und verschwand schließlich wieder in der Tür, aus der er
gekommen war. Ragnor und Kazahni wechselten kurz einen Blick, dann zog
Kazahni ihr Schwert und deutete nach links, wo sich ein großer Durchgang
befand, den der kleine Mann wohl gemeint haben muss.
"Also los."
Sie gingen durch einen langen Tunnel, auf
dessen Seiten ständig kleinere Türen abzweigten, die aber unbedeutend
schienen. Die beiden hatten keine Lust von Anfang an alles zu durchsuchen,
denn wenn man sie eh für Angehörige der Totengräber hielt,
hätten sie sicher später noch genügend Zeit. Was Ragnor
wichtiger erschien, war, zuerst einmal einen Hauptmann zu finden, etwas
in Erfahrung zu bringen über die Struktur dieser Gruppe. Vielleicht
konnten sie sie mit kleinem Aufwand zerschlagen und später die Reste
vernichten.
Schon von weitem drangen Stimmen zu den Beiden
und sie hielten sich bereit, sich gegen schlimmstes zur wehr zu setzen.
Schließlich erreichten sie das Ende des Tunnels und fanden sich hinter
einem weiteren Torbogen in einer art Arena wieder. Hinter dem Tor führten
Stufen tief in den Raum zu einer mit Sand ausgelegten Fläche, auf
der ein Podest aus Stein errichtet war. Auf diesem Podest stand ein schwarz
gekleideter Mann und hinter ihm klaffte eine Grube, deren Inneres von hier
nicht einzusehen war. Anhänger der Totengräber drängten
sich auf den breiten Stufen, die den Raum kreisförmig wie die Tribünen
einer Arena umschlossen, und lauschten neugierig den Worten des Redners.
Kazahni sah sich um und entdeckte schließlich eine Galerie, die oben
in den Schatten der scheinbar natürlichen Höhle verborgen lag.
Eine Leiter neben dem Durchgang, durch den sie gekommen waren, führte
in die Höhe und die beiden kletterten schnell an ihr empor, solange
die Menschen noch durch die scheinbar mitreißende Rede ihres Führers
abgelenkt waren.
Oben angelangt sahen sie sich um. Die Galerie,
welche den ganzen Raum kreisförmig umspannte, war nicht wie normal
an den Felswänden befestigt sondern nur stellenweise auf Vorsprünge
gebaut. Der Rest hing an armdicken Ketten, die auf der anderen Seite in
der felsigen Decke verankert waren. Sehr gewagt, dachte sich Ragnor, der
nicht verstehen konnte, warum man eine solch schwere Konstruktion aus Mörtel,
Stein und Holz an Ketten mindestens zehn Meter über dem Boden aufgehangen
hatte. Sie sahen über das Geländer in den Raum hinunter und nun
konnten sie die Grube genauer betrachten und Kazahni verstand sofort, was
hier getan wurde. Die Grube war angefüllt mit Blut und die Gedärme
und Körperteile, die darin schwammen, ließen darauf schließen,
dass hier vor nur wenigen Minuten, vielleicht einer halben Stunde, mehrere
Menschen brutal geschlachtet worden waren. Eine Leiche trieb an der Oberfläche
und aus ihrem aufgerissenem Brustkorb loderte eine weiße Flamme,
die garantiert magischer Herkunft war. In schwarze Kutten gehüllte
Gestalten liefen am Rand der Grube entlang und streuten ständig etwas
hinein. Kazahni wusste, was es war, auch wenn sie es von hier oben nicht
erkennen konnte. Salbei, Weihrauch, Zimt... Sie wollten einen Feuerdämon
herbeirufen. Einen sehr mächtigen wahrscheinlich. Flüsternd teilte
sie ihre neue Erkenntnis ihrem Gefährten mit, woraufhin dieser einen
besorgten Blick auf das Geschehen unter ihnen warf.
Die großen Flügeltüren des
Eingangs schlossen sich. Und jemand verbarrikadierte sie von außen.
Die Totengräber schien das nicht sonderlich zu interessieren, vielleicht
kannten sie ja diese gottlose Prozedur schon aus vergangenen Tagen. Die
Menge wurde unruhig, als der Prediger anfing seine Formeln zu sprechen.
Es dauerte wenige Minuten, dann waren alle in einen gleichmäßigen,
fremd klingenden Sprachgesang verfallen, den das Ritual erforderte. Kazahni
sah sich auf der Galerie um. Auf der rechten Seite entdeckte sie auf einem
Felsvorsprung eine Treppe, die hoch in die Dunkelheit führte. Sie
gab Ragnor ein Zeichen und als die beiden gerade losgehen wollten um sich
den Vorsprung genauer anzusehen, hörten sie Kampfeslärm. Leise,
durch den Gesang der in schwarz gekleideten Gestalten kaum zu hören,
aber doch präsent. Kurz darauf öffneten sich die Türflügel
wieder und Soldaten strömten in den Raum. Das Klimpern der Kettenhemden
und der Klang von beschlagenen Stiefeln auf dem steinernen Boden erfüllten
den Raum und nur wenige Sekunden später war Chaos ausgebrochen.
Mitten in der Nacht erwachte Shade in seinem
Zimmer. Sein Schlaf war traumlos gewesen und er wusste nicht, was ihn sonst
hätte wecken können nach solch einem ereignisreichen Tag, doch
er war wieder hell wach. Nachdem seine Elfenaugen sich schnell an die Dunkelheit
gewöhnt hatten, sah er sich kurz im Raum um und erkannte keine unmittelbare
Gefahr. Er richtete sich auf und strich sich mit den Fingern die Haarsträhnen
aus dem Gesicht. Einschlafen würde er so schnell sicher nicht mehr,
also entschloss er sich dazu ein wenig an die frische Luft zu gehen.
Auf den Fluren des Gasthauses war alles ruhig.
Die Besucher schienen allesamt zu schlafen und die Angestellten samt Hausherren
waren wohl auch zu Bett gegangen. Shade ging ein paar Treppen hoch und
fand sich schließlich auf der kleinen Dachterrasse des Hauses wieder.
Die Sterne wurden zum größten Teil von Wolken verdeckt und es
war sehr kalt. Der Dunkelelf wollte gerade wieder hineingehen um sich eine
Jacke zu holen, denn er trug nur seine schwarze, weit geschnittene Hose
aus Kressleder, als er im Westen etwas ungewöhnliches bemerkte. Die
Stadt war längst nicht zum schlafen gekommen, auch wenn es Mitternacht
war, und oft schien hier und da noch Licht aus den Fenstern und auf den
Hauptstraßen erleuchteten immer noch große Fackeln die Bürgersteige,
auf denen auch zu so später Stunde noch Leute ihrer Wege gingen. Doch
im Westen lag das Arbeiterviertel. Der Hauptsitz des Handwerks hier in
Nefarat. Die Schmieden und Tischlereien schliefen des nachts normalerweise
und ihre Lichter sollten erloschen sein. Das waren sie auch, doch mitten
in diesem großen Fleck Finsternis zwischen dem noch belebten Händlerviertel
auf der einen und der noch weitaus lebhafteren Hauptstraße
auf der anderen Seite, erhellte ein großer Flecken Licht die Nacht.
Shade sah genauer hin und erkannte Flammen, die zwischen den Häusern
tanzten. Vielleicht eine Schmiede, die in Brand geraten ist. Er verrenkte
die Arme vor der Brust und verweilte noch etwas, um die Situation zu beobachten.
Ragnor hatte ihr eine Adresse gesagt, zu der
sie gehen sollte, sollte der Auftrag schief gehen, oder der Barbar die
Nacht nicht überleben. Kazahni hatte das Chaos hinter sich gelassen
und rannte nun durch die Finsternis, sprang von Dach zu Dach und bahnte
sich ihren Weg durch die dunklen Schatten der Nacht. Auf dem nächsten
Gebäude thronte ein großer, halbrunder Wasserspeicher aus Stahl
und Stein, der durch die momentane Regenzeit in dieser Gegend sicher randvoll
gelaufen war. Behände sprang sie auf das Blechdach der riesigen, steinernen
Schüssel und verweilte dort kurz. Sie sah zurück auf die lodernden
Flammen zwischen den Häusern wo vor noch wenigen Minuten die Höhle
der Totengräber in sich zusammen gebrochen war und Dämon mitsamt
Totengräbern und Stadtwache unter Trümmern begraben hatte. Die
Untote dachte zurück. Was war eigentlich geschehen?
Es begann damit, dass die Truppen den Raum
stürmten und die schwarz gekleideten Gestalten attackierten. Ein Gefecht
brach aus. Kazahni und Ragnor flohen über die Treppe, welche sie gefunden
hatten, und kamen in einem Lagerhaus an die Oberfläche. Das letzte,
was Kazahni in der Höhle gesehen hatte, war der Dämon gewesen,
den der Priester beschworen hatte. Er war mächtig, sein Leib brannte
lichterloh und für einen Moment war alles still und als die beiden
Gefährten das Lagerhaus fluchtartig verlassen hatten, gab es einen
großen Knall und unter Ohren betäubendem Lärm brach es
hinter ihnen in sich zusammen. Der Körper des Dämonen war zerrissen
und das Wesen gebannt, soviel stand fest, denn ein so helles und intensives
Feuer entsteht nur, wenn ein Feuerwesen es auch will, oder wenn es stirbt.
Kazahni wandte sich von dem Anblick der lodernden
Flammen ab und sprang mit einem großen Satz auf das nächste
Dach um ihre Flucht fortzusetzen und während die Dachpfannen
unter ihren Füßen leise klapperten und knarrten, dachte sie
an Ragnor. Sie wusste nicht, ob der Barbar es geschafft hatte, lebend den
Soldaten der Stadtwache zu entkommen, von denen es in den Straßen
plötzlich nur so wimmelte und eigentlich war es ihr auch egal, doch
irgend etwas in ihr machte sich die Mühe, die Gedanken an diesen Mann
an die Oberfläche zu bringen, auch wenn sie nicht genau wusste was.
Während sie noch nachdachte trugen ihre Beine den schlanken Körper
weiter über die Dächer und nach dem nächsten großen
Sprung landete sie auf einer kleinen Dachterrasse, wo sie fast das Gleichgewicht
verlor, weil sie sich so plötzlich wieder auf festem, berechenbarem
Boden befand. Wieder sah sie zurück und war selbst überrascht,
wie weit sie schon gekommen war. Allerdings mochte die Entfernung auch
täuschen, denn es schien, als würden die Flammen beständig
kleiner werden. Wahrscheinlich waren die Kutschen der Feuerwehr schon angerückt
und hatten damit begonnen das Feuer zu bändigen.
"Eine seltsame Art habt ihr da entdeckt, des
Nachts spazieren zu gehen!"
Instinktiv griff sie über ihre rechte
Schulter hinter sich, wo der Griff ihres Schwertes sein sollte, und drehte
sich um in die Richtung, aus der sie die Stimme vernommen hatte. Vom Schatten
verdeckt erkannte sie die Umrisse einer menschlichen Gestalt und als sie
merkte, wie ihre Hand ins Leere packte, weil ihr Schwert unterwegs verloren
gegangen war, geriet sie kurz in Unsicherheit. Sofort stoppte sie ihren
Angriff und entschloss sich zu fliehen.
Die Frau, die so plötzlich auf der Terrasse
aufgetaucht war, drehte sich mitten im Angriff schlagartig um und sprang
über das Geländer hinab in die Tiefe. Shade dachte nicht lange
nach. Er verfolgte immer alles etwas genauer, was irgendwie merkwürdig
war, und das hier war sehr merkwürdig. Also sprang er hinterher,
landete auf einem Vordach und rannte der dunklen Gestalt hinterher, die
sich schnell entfernte. Am Ende des Daches folgte er ihrem Sprung auf das
Nachbargebäude und von dort aus weiter über die nächsten
drei Dächer, während die Dachpfannen und die darunter liegenden
Holzplatten unter dem Gewicht hin und wieder protestierend stöhnten
und ächzten. Schließlich verlagerte sich die Jagd auf eine Brücke
zwischen zwei Häusern, von der aus die Frau direkt weiter Sprang auf
die nächste Brücke, die allerdings verdammt weit entfernt lag.
Shade, der sehr gut trainiert war und dem das Dunkelelfenblut in seinen
Adern die Fähigkeit gab, Sprünge zu machen, die ein Mensch nie
schaffen würde, hielt ein. Er stand auf dem schmalen Steg der kleinen
Brücke und sah der Gestalt hinterher, wie sie in den Schatten verschwand,
die der Mond aus der Finsternis der Nacht riss. Wer auch immer diese Frau
war, ein Mensch war sie auf keinen Fall. Und sie war es ihm auch nicht
Wert, dass er mitten in der Nacht hier draußen stand und frieren
musste, denn er hatte sich immer noch nichts übergezogen. Shade sah
sich um, entschloss sich dazu, nicht in die privaten Gemächer einzutreten,
die an den Enden der Brücke hinter verschlossenen Türen ruhten,
und ließ sich deshalb hinab auf die Straße fallen, wo er den
Weg zurück zum Gasthaus antrat. Wenn diese Begegnung für Shades
Schicksal wichtiger war, als ein zufälliges Aufeinandertreffen mit
einer elfischen Diebin auf der Flucht, würde es sich sicher bald wiederholen.
© V.Geist
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