Vor vielen Jahren gab es einmal einen großen
Drachenkrieg, fast alle Drachen kamen damals um, nur ein kleiner Drache
namens Shelaby überlebte.
Sie hatte den großen Drachenkrieg überlebt,
weil ihr Vater sie noch rechtzeitig in einer Höhle in Sicherheit bringen
konnte.
Jedoch waren Shelabys Erinnerungen an die
Vergangenheit und an ihre Eltern ganz schwach, denn der Drachenkrieg war
bereits seit Jahren vorüber.
.
Nach so vielen Jahren beschloss Shelaby nun
endlich ihre Höhle zu verlassen, um in die große weite Welt
zu tapsen.
Als erstes traf Shelaby eine kleine Ameise
auf ihren Weg.
"Huch, du bist aber winzig. Da muß man
ja aufpassen, dass man dich nicht zertritt", sagte Shelaby.
"Hey du, ich bin vielleicht winzig, dafür
aber ganz stark. Ich kann das zehnfache meines eigenen Gewichte tragen.
Das kannst du nicht", schimpfte die kleine Ameise, die wütend war,
dass alle sie nur nach ihrer Größe beurteilten.
"Oh, das kann ich doch auch. Ich kann sogar
das hundertfache deines Gewichtes tragen", rief Shelaby stolz.
"Ach kleiner Drache, du mußt noch eine
ganze Menge lernen.
So ich muss jetzt weiter gehen, sonst schaff
ich meine Arbeit nicht."
Und schon war die kleine Ameise verschwunden.
Shelaby stand ganz verwirrt da und verstand
die Worte der kleinen Ameise nicht.
"Ich kann doch das hundertfache ihres Gewichtes
tragen."
Kopfschüttelnd setzte Shelaby ihren Weg
in die große weite Welt fort und schon bald vergaß sie die
Worte der kleinen Ameise.
Unser kleiner Drache fand sich nun bald am
Fuße des Berges wieder, in einem wundervollen Tal wo alles grünte
und blühte. Shelaby stürzte sich sofort in das hohe Gras und
spielte mit einem kleinen Schmetterling fangen. Allerdings war dieser viel
zu schnell für klein Shelaby.
"Hey warte doch mal", rief Shelaby völlig
außer Puste. "Warum fliegst du denn immer davon? Ich will doch nur
mit dir spielen."
"Spielen?", schrie der Schmetterling verächtlich.
"Fangen willst du mich und in ein Glas sperren. Außerdem wer bist
du überhaupt? Ich hab dich hier noch nie gesehen."
Shelaby stand ganz verdutzt da und verstand
das Misstrauen des kleinen Schmetterlings nicht.
"Ich heiße Shelaby und will in die große
weite Welt. Aber wieso sollte ich dich fangen wollen? Ich will doch nur
mit dir spielen, weil du so schön bist!"
"Ach Shelaby, kleiner Drache, du mußt
noch eine Menge lernen. Schönheit ist in dieser Welt ein Laster, die
Menschen wollen dich fangen deswegen. Außerdem darfst du keine Kreatur
nach ihren Äußerlichkeiten beurteilen. Nimm mich zum Beispiel,
ich war früher eine kleine hässliche Raupe und glaub mir, das
Leben war früher leichter für mich."
Nach diesen Worten verschwand er kleine Schmetterling
und Shelaby verstand die Worte wieder nicht.
"Es ist doch toll, schön zu sein, man
wird bewundert und alle lieben einen. Außerdem glaube ich nicht,
dass so eine Schönheit mal so etwas Hässliches gewesen sein soll."
Shelaby dachte auch nicht weiter darüber
nach und setzte ihren Weg in die große weite Welt fort. Nach einer
Weile war Shelaby bei einem Menschendorf angelangt.
Naiv wie der kleine Drache war, rannte er
auch gleich fröhlich munter drauf zu.
Ein kleines Mädchen fand Shelaby als erstes.
"Wer bist du denn?", fragte das Mädchen.
"Ich bin Shelaby, der kleine Drache. Und Du?"
"Ich heiße Chantal, bin 8 Jahre alt
und wohne in diesem Dorf", gab Chantal liebevoll zur Antwort. "Willst Du
mit mir nach Hause kommen? Ich find dich so niedlich!"
"Mmmh, na gut. Warum eigentlich nicht?", antwortete
Shelaby schnell, zu schnell, sie hätte lieber an die Worte des Schmetterlings
denken sollen...
Shelaby führte ein wundervolles Leben
in dem Dorf. Alle Menschen liebten und verehrten sie. Eigentlich könnte
Shelaby jetzt bis zu ihrem Lebensende glücklich sein und die Geschichte
enden, aber dann passierte Schreckliches.
Nach ungefähr einem Jahr häuften
sich die Unglücksfälle in dem Dorf. Es gab Missernten, Krankheiten
und eine große Hungersnot. Doch das alles hätte die Liebe der
Dorfbewohner zu Shelaby nicht zerstören können. Doch was dann
geschah war etwas, was Shelabys Leben eine harte Wendung geben sollte.
Chantal, bei der Shelaby noch immer lebte,
hatte einen schweren Unfall und starb dabei.
Die Dorfbewohner trauerten sehr um diesen
Verlust. Sie gaben Shelaby die Schuld an dem Tod von Chantal und jagten
sie mit Fackeln aus dem Dorf. Denn für sie war Shelaby jetzt ein Drache
der Unglück bringt.
Nach einer zweistündigen Jagd ließen
die Dorfbewohner endlich von Shelaby ab und drohten ihr, dass sie nie wieder
zurückkehren sollte, denn sonst würde man auch sie töten
und sie wegen ihrer Schönheit ausstellen.
Shelaby saß nun ganz verängstigt
hinter einem großen Stein und versuchte ihre Gedanken zu ordnen.
"Warum nur hassen sie mich so?
Ich habe ihnen doch nichts getan.
Ich liebte Chantal doch auch.
Wäre ich doch bloß in meiner Höhle
geblieben."
"Ich habe dein Gespräch mitbekommen",
antwortete eine schwarze Katze, die plötzlich hinter dem Stein hervor
kam.
"Wer bist du?" Shelaby erschrak fürchterlich,
denn sie wollte niemanden mehr sehen.
"Beruhige dich, ich will dir nichts böses.
Übrigens heiß ich Shiana, verzeih, dass ich mich nicht gleich
vorstellte."
"Wenn du mir nichts böses will, was willst
du dann von mir?" fragte Shelaby noch immer verängstigt.
"Ich möchte dir nur die Menschen etwas
näher erklären", antwortete Shiana und leckte sich die Pfote.
"Paß auf, auch ich lebte einmal in dem Dorf und wurde wie du vertrieben.
Die Menschen sind schon eigenartige Wesen Weißt du, auch bei mir
häuften sich plötzlich die Unglücksfälle und auch ich
wurde dafür zur Rechenschaft gezogen. Folgendes: die Menschen wollen
für ihre Schicksalsschläge jemanden verantwortlich machen. Menschen
sind abergläubisch, sie machen diejenigen für die Schicksalsschläge
verantwortlich, die anders sind als sie. Die Schuld bei sich zu suchen
ist ihnen fremd."
"Aber warum tun sie das?", fragte Shelaby
unsicher.
"Was weiß ich. Es sind halt nur Menschen",
antwortete Shiana resigniert. "Aber wie auch immer. Du mußt deinen
Weg selbst machen", sagte Shiana, streckte sich noch einmal und schritt
dann majestätisch davon.
Grübelnd saß Shelaby noch ganze
zwei Tage hinter ihrem Stein.
"Ja ich muß meinen Weg selbst machen
und ich werde meine Reise fortsetzen. Schließlich will ich die große
weite Welt sehen", sagte Shelaby überzeugend zu sich selbst und setzte
ihre Reise fort.
Mehrere Monate durchreiste Shelaby nun das
Land. Lebte mal hier und mal dort, war aber immer erpicht darauf nie länger
bei ein und derselben Person zu bleiben. Doch diese unbeschwerte Lebensweise
sollte einen Hacken für Shelaby haben. Durch ihre unbeschwerte Reise
wurden machtgierige Menschen auf sie aufmerksam. Mehrere Aussteller hatten
sogar bereits eine hohe Fangprämie auf sie ausgesetzt, schließlich
war sie die letzte ihrer Art.
Shelaby kriegte von all dem nichts mit, sie
lebte ihr Leben weiterhin frei fort. Sie liebte es frei und unabhängig
zu sein. Doch dann geschah, was geschehen musste. Ein Zirkusdirektor namens
Mortis fing sie in einem unkonzentrierten Augenblick ein.
"Du wirst mich reich machen meine Kleine",
sprach Mortis verhöhnend .
"Aber warum? Ich will doch nur die große
weite Welt sehen!", schrie Shelaby in ihrer Verzweiflung.
"Wenn du aber frei herumläufst, dann
werde ich nicht reich durch dich. Du willst die große weite Welt
sehen? Jetzt hast du die Gelegenheit dazu", sagte Mortis mit einem verächtlichen
Unterton.
Ja das stimmt, Shelaby wollte die große
weite Welt sehen, aber nicht hinter Gitterstäben.
Die Monate zogen ins Land und langsam fielen
die Blätter von den Bäumen. Mortis machte ein großes Geschäft
mit Shelaby, denn jeder wollte den letzten überlebenden Drachen sehen.
Doch Mortis interessierte sich nicht für
Shelaby persönlich, ihn faszinierte nur der Gewinn und er wollte noch
mehr davon machen.
Shelaby selbst wurde immer verbitterter und
härter. Ihr Herz gefror langsam zu Eis und sie verlor jeglichen Respekt
und jegliches Vertrauen zu den Menschen. Sie war nur noch die große
Attraktion im Zirkus Mortis.
Viele Menschen fühlten sich zur großen
Attraktion hingezogen, auch ein Ehepaar namens Bianca und Theo. Auch sie
interessierten sich für Shelaby, allerdings aus einem anderen Grund.
In einer Nacht, als Mortis bereits beruhigt
schlief, schlichen sich Bianca und Theo zu Shelaby. Sie hatten noch jemanden
mitgebracht. Einen alten Verwandten von Shelaby, jemanden den sie längst
für tot erklärt hatte und den sie schon lange vergessen hatte.
"Shelaby wach auf, wir wollen dich retten
und dir deine Freiheit zurückgeben."
Shelaby, die nur noch Bitterkeit im Herzen
besaß, wollte die beiden schon verjagen, doch plötzlich erblickte
sie zwei liebevolle Augen, die ihr schon einmal das Leben retteten.
Es waren die liebevollen Augen ihres Vaters.
"Shelaby meine Liebe, diese zwei Menschen
nahmen mich und noch ein paar andere Drachen nach dem großen Krieg
bei sich auf. Komm mit uns, du wirst sehen, nirgendwo sonnst kannst du
glücklicher Leben. Du wolltest die große weite Welt sehen und
nun sieh was aus dir geworden ist", sprach Shelabys Vater liebevoll zu
ihr.
So liebevoll wie noch nie jemand mit Shelaby
gesprochen hatte.
"Aber Vater, wie soll ich wissen, dass mich
diese zwei nicht auch verraten und verkaufen, dass sie mich nicht fortjagen?",
zweifelte Shelaby an.
"Mein liebes Kind, eine Gewissheit kann ich
dir nicht geben, aber nimm dir ein Beispiel an der Hummel. Nach menschlichen
Berechnungen kann die Hummel gar nicht fliegen. Ihre Flügel sind zu
klein und ihr Körper zu schwer. Doch die Hummel interessiert das nicht,
sie fliegt einfach. Halte du es genauso mit deinem Vertrauen, gehe nicht
nach deinem Verstand, vertraue einfach."
Diese Worte rührten Shelaby sehr und
die Bitterkeit in ihrem Herzen verschwand.
.
Shelaby, ein kleiner Drache der auszog, um
die große weite Welt zu sehen, fand nun das, was er immer suchte:
eine Heimat und verständnisvolle, liebende Herzen.
© Nicole
Schierenberg
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
|