Sieben gegen Sieben von Itariss
Kapitel 5: Taron

Riyonn fasste sich an den Kopf. So viele Namen, Ereignisse und Informationen waren seinem übernächtigten Gehirn nicht mehr zumutbar. Erschöpft kniete er auf den morschen Holzboden. Imogen legte ihm die Hand auf die Schulter.
"Es geht nicht... ist zu viel.", flüsterte Riyonn. Warum ich? Warum hier? Warum jetzt? Er ballte die Fäuste.
"Mir ist die Lust danach, auserwählt zu sein, jedenfalls gehörig vergangen." Imogen seufzte; sie blickte aus einem der Fenster. "Und jetzt?"
Riyonn verdrängte die Gedanken um Don Diaven und dessen Meister so gut er konnte und blinzelte müde auf.
"Ich für meinen Teil gehe jedenfalls noch mal schlafen."
Imogen stimmte ihrem Bruder insgeheim zu, aber ihre Neugierde war zu groß.
"Meinst du, wir sollten nicht Taron nach der Sache fragen?", wollte sie wissen.
"Taron? Ich hoffe. wir sprechen vom selben Mann! Allen Ernstes, von Taron erwartest du Hilfe?"
"Er war dabei!"
"Na und?"
"Nichts na und. Er könnte wissen, was genau wir nun zu tun haben!"
"Ich weiß, was ich zu tun habe!"
"Ach ja?"
"Ja! Ich haue mich aufs Ohr und penn bis zum nächsten Morgengrauen durch!"
"Sag, interessiert dich das Ganze denn gar nicht?"
"Anders als du denkst, und, nein! Es interessiert mich momentan nicht!"
"Aber es geht dich ebenso viel an!"
"Das Einzige, was mich hier und jetzt anzugehen hat, ist mein wohl verdienter Schlaf!"
"Du denkst immer nur an dich!"
"Wieso? Ach, lass mich doch zufrieden!"
Plötzlich klopfte es an der der Tür. Unverzüglich ging Imogen Richtung Eingangstür. Auf ihr Öffnen hin trat Wai Lonn ins Haus. Ihm sah man die Müdigkeit sehr deutlich an, schließlich hatte er bisher nicht einmal einen kurzen Schlaf genossen, wie es Riyonn und Imogen schon getan hatten. Unter seinen dunkelbraunen Augen zogen sich dunkle Ringe.
"Ich habe euch bei Taron gemeldet."
Riyonn nickte beiläufig.
"Schön, dann können wir ja alle schlafen gehen!"
"Riyonn!" Imogen begehrte auf.
"Wieso nicht?", wunderte der General sich.
"Weil... weil wir noch etwas zu erledigen haben."
"Das hat doch Zeit! Dir würde ein bisschen Schlaf bestimmt auch nicht schaden, Imogen."
Imogen blickte hilflos zu Boden. Männer!
Wai Lonn verabschiedete sich und verließ das Haus. Riyonn kam auf seine Schwester zu und legte den Arm um sie.
"He, du darfst nicht glauben, dass mir das vollkommen gleichgültig ist, aber ich weiß, dass der Schlaf dringender ist, als dieses `Auserwählten-Blabla`. Also reg dich bitte ab und träum was Schönes." Er lächelte sie über seine grauen Agen an.
"...meinetwegen. Vielleicht... vielleicht hast du ja sogar recht...", gab Imogen sich schließlich geschlagen. Zum Zeichen, dass der Streit beendet war, schloss sie Riyonn in die Arme.
"Schlaf gut!", wünschte sie ihm.
"Meine Wenigkeit wünschen dem Weibe ebenfalls eine geruhsame Nacht, verzeihen, Tag!", Riyonn knickste höflich vor Imogen,  stahl sich grinsend aus dem Essraum und stakste die knarzende und ächzende Treppe hinauf.
"Spinner!" Imogen beobachtete ihn nur kopfschüttelnd. "Was kommt dem überhaupt in den Sinn, mich Weib zu nennen."
Riyonn grinste noch immer. Langsam folgte Imogen ihm die Treppe in den ersten Stock, von wo aus sie zielstrebig in ihr Zimmer marschierte und dort, sobald sie auf ihr Bett gefallen war, einschlief.

* * *

Währenddessen begann Riyonn wieder zu träumen. Erst erblickte er nochmals Noreel, wie er seine letzten Worte wiederholte.
Doch dann verschwand der helle Cherubim. Anstelle Noreels sah er nun ein grässliches Ekel erregendes Monster in ein blausilbernes Gewand gekleidet, hautlosem Schädel, in dessen Inneren ein blaues mysteriöses Licht flackerte und je ein Horn links und rechts. Es starrte ihn finster an und fing an, mit einer geisterhaften schallenden Stimme zu sprechen.
"Ah, Krone. Du hast Don Diaven schön zugesetzt. Hoffentlich erholt der Arme sich wieder! Er wird es sich ab heute zumindest zweimal überlegen, bevor er sich so leichtfertig und überheblich mit dir anlegt, Krone."
Riyonn wusste nicht, was er von diesem Wesen halten sollte. Es kannte Don Diaven, soviel stand fest und es war vermutlich nicht auf seiner Seite.
"Wer und was bist du?"
"Wer ich bin? Ha! Ich hätte dich für etwas klüger gehalten, Krone. Was für Möglichkeiten bieten sich dir denn, bei einem genaueren Blick auf mich?", meinte es daraufhin spöttisch grinsend gefolgt von hohlem Gelächter.
"Ein... ein Dagora?", versuchte sich Riyonn beim Raten. Doch diese Antwort schlug fehl Das Wesen verzog keine Miene.
"Ein Dämon? Ein Cherubim..."
"Ein, bitte was?"
"Ein Cherubim?", wiederholte sich Riyonn.
Das Wesen verschränkte gereizt seine knöchernen Arme.
"Beleidige mich nicht in meiner Ehre als ... egal. Du kannst den Meister des Bösen zumindest nicht als einen Himmelsboten identifizieren, Krone."
Riyonn verstand und blickte das Wesen entsetzt und mit geweiteten Augen an.
"E-vo-rett.", meinte er beinahe flüsternd.
Der Lich schob ein selbstgefälliges Grinsen auf.
"Exakt. Du hast es erfasst. Vor dir, niederem Wesen, steht der schreckliche, grausame, gewaltige, souveräne Herrscher der Untoten. Gespickt mit der größten existenten schwarzen Magie Valyars, Krone."
Riyonn, den plötzlich wieder dieselbe respektlose Schlagfertigkeit überfiel, in Verbindung dieses dunklen warmen Etwas in sich selbst, wie es beim Gespräch mit Don Diaven der Fall gewesen war, konnte einen Kommentar zu Evoretts Selbstanpreisung nicht auslassen.
"Seltsam. Ich hatte mir den sagenhaften Führer der Lich etwas ausstrahlender, größer und charismatischer vorgestellt."
In Riyonns Hinterkopf begannen sich Warnschreie anzutürmen. Sein Kommentar würde bestimmt nicht ohne Folgen bleiben, versuchte er sich klar zu machen.
"Ha, wenn alle anderen Auserwählten mit ebenso viel Dummheit gestraft sind, treten ja nur geistliche Kinder gegen mich an. Dass die Engel uns so wenig zutrauen... oder haben sie nichts Besseres gefunden? Was auch immer, du bist es scheinbar nicht einmal wert, dass ich mich überhaupt vorbereite... der nächste wird dich ohnehin ausschalten, Krone. Anderenfalls, bedauerlich. Ich glaubte, du seiest zu etwas anderem nütze..."
"Du sprichst in Rätseln! Wenn du mir irgendetwas erzählen wolltest, das ich wissen sollte, könntest du das nicht normal sagen?"
"Gegenfrage: Wer hat dir überhaupt gestattet mich zu duzen?"
"Niemand?"
"Eben!"
"Wieso redest du mich ständig mit `Krone` an?"
"Wenn du jemals so weit kommst, wirst du es sowieso erfahren. Aber ich bezweifle ja schon, dass du deine eigene Dummheit überlebst, Krone!", spottete Evorett und verschwand. Um Riyonn war es schwarz. Schweißgebadet schreckte Riyonn von seinem Traum auf. Er saß aufrecht im Bett und verstand die Welt nicht mehr. Zuviel an Neuigkeiten auf einmal waren auf ihn eingedrungen. Er war Evorett begegnet, zwar nur in einem Traum, aber doch sehr reell. Nachdem er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, legte er sich wieder hin und schlief schließlich nochmals ein.

* * *

Wai Lonn schleppte sich müde zur Kaserne, der Ausbildungsstatt der Diebe und Unterkunft aller Lehrer, Lehrlinge und Befehlsstäbe.
"Heil Euch, General Lonn!", grüßte ihn Sotal Nimbun, gleichrangig mit Lonn, höflich an der Eingangspforte. "Man vermutete schon, Ihr kämt niemals wieder. Es ist eine Seltenheit, dass ihr zu Unpünktlichkeit greift."
Wai Lonn versuchte erfolglos den störenden Kollegen von sich abzuschütteln.
"Besser einmal verspätet, als die Feinde zu seinen Mitstreitern zu locken, nicht wahr Nimbun?" Verlegen schnaufte Sotal Nimbun laut auf.
"Das Wetter soll sich verschlechtern, meint Crazen Scroll", wechselte er rasch das Thema, von seinem Missgeschick ablenkend.
"Wer hat das behauptet? Crazen? Der meint doch auch, dass die Sonne scheint, wenn seine Kleider vom Regen völlig durchweicht sind."
"Fürwahr, bisher hatte unser Wettergenie nicht viel Glück, was seine Prognosen anbelangt. Vielleicht hat er beim Bau seiner selbst konstruierten Instrumente auch nur gepfuscht. Er macht sich eben doch nur als Doppelklingenkämpfer gut, wenn er nicht gerade, wie so oft, blau ist. Früher war er noch besser drauf... tja, aber die Zeiten ändern sich eben. Wie auch immer, er deutete heute in der Taverne warnend auf ein ungeheuerlich gewaltiges Sommergewitter hin. Außerdem erwähnte er noch was, von einem Hochwasser. Aber die einzigen Wolkenfetzen, die ab und an auftauchen, würde ich als kleinen Jahreszeitenirrtum des Wetters bezeichnen, und deshalb fiel Regen und ähnliches seit mindestens zwei Monden aus. Das ist doch das schöne am Sommer, die Sonne scheint und man kann in den lauwarmen Nächten die Taverne aufs Korn nehmen."
Lonn schmerzte der überbeanspruchte und schlafbedürftige Kopf.
"Elender Säufer. Dass dir das Zeug nicht zu Kopf steigt ist ein Wunder der Natur. Wir sehen uns, Nimbun. Schönen Tag auch, ich muss meinen Augen eine Pause gönnen." Nimbun nickte verständnisvoll.
"Selbstverständlich, Ihr hattet Euren Schlaf ja noch gar nicht. Ach, bevor ich es vergesse Euch mitzuteilen, Risa war heute früh schon in der Kaserne und hat sich nach Euch erkundigt." Sotal Nimbun unterdrückte ein Lachen. "Sie schien sehr besorgt, als man ihr mitteilte, Ihr seiet noch nicht zurückgekehrt."
"Mir ist völlig egal, was diese Frau tut, nur soll sie sich keine Hoffnungen machen und mich endlich in Ruhe lassen. Ich weiß, dass ihr hier in der Kaserne es unheimlich lustig findet, dass sich Risa in mich verguckt hat. Wie interessant, die Zeit damit totzuschlagen, zu wetten, wie sie mich das nächste Mal wohl wieder versucht zu umarmen und mir was weiß ich noch aufzuzwingen, was ihr glücklicherweise noch nie gelungen ist. Nimbun, ich kann mir nicht vorstellen, was diese Frau an mir findet, und wieso sie das ausgerechnet an mir tut. Wenn Ihr es als so furchtbar toll empfindet, wie sie mich ständig terrorisiert, warum meldet Ihr Euch nicht freiwillig als Heiratskandidat? Ich bin glücklich verliebt und brauche diese abgedrehte Schrulle kein bisschen. Selbst wenn ich das nicht wäre, diese Frau ist so abartig bescheuert und dermaßen hässlich, was kümmert es mich, dass sie die einzige Tochter von Freygos Lei, meinem Zimmermitbewohner und unserem Sprengstoffexperten ist."
Mit gestresstem Seufzen wandte Wai Lonn sich der Tür zu seinem und Leis Zimmer zu. Nun neugierig geworden folgte Sotal Nimbun ihm.
"Ihr seid verliebt? Darf man den Namen dieses Mädchens erfahren?"
"Nein!", meinte Lonn desinteressiert. "Sonst erführe die ganze Stadt im Laufe des Tages davon!" Hastig schüttelte Nimbun den blondbehaarten Kopf.
"Nicht doch, was denkt Ihr. Ist sie hübsch?" Statt einer Antwort knallte Lonn die Tür vor Nimbuns Nase zu. Aber Nimbun reichte das nicht als Grund, endlich abzuziehen.
"Das ist nicht fair, Lonn. Ich verrate Euch doch auch immer alles. Lonn! Lonni? Wai alter Kumpel!"
Total fertig fiel Wai Lonn ins Bett und versuchte einzuschlafen. Doch Freygos Lei, der am anderen Bett innerhalb des Raums auf der Bettkante saß, und Lonns Mitbewohner war, ließ Lonn seine Ruhe nicht.
"Auch schon angekommen? Risa fragte nach Euch. Sie war sehr in Sorge über Euren Verbleib."
"Hm." Lei knetete seine Unterlippe zwischen den Fingern.
"Mehr sagt Ihr dazu nicht? Es ist eine Ehre für einen Mann, wenn sich eine so wunderbare Frau wie Risa um einen sorgt. Sie hat sich wirklich seit meiner Ankunft verrückt gemacht, weil Ihr noch nicht da wart. Ich hörte eben, dass Ihr verliebt seid. Selbstredend habe ich nicht gelauscht, doch Euer und Nimbuns Gespräch war von derartiger Lautstärke, dass man es durch die Tür schwerlich überhören konnte. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie lange ich schon auf diesen Augenblick gewartet habe. Natürlich hatte ich erwartet es käme früher dazu, da sie ja so außerordentlich hübsch und von solcher Grazie ist, aber lieber jetzt erst, als zu spät, nicht? Risa wird sich unheimlich über diese Nachricht freuen. Doch trotzdem gestattet bitte, dass ich frage, was gab Euch den letzten Ruck, dass Ihr gemerkt habt, dass Ihr in Risa verliebt seid?"
Urplötzlich setzte sich Lonn im Bett auf.
"Ich bin von lauter Idioten umgeben! Durchlöchert wen anders mit Euren dämlichen Fragen! Ich bin todmüde und sehne mich nach nichts mehr, als ein bisschen Schlaf. Ist das so schwer zu verstehen?"
"Entschuldigt, Lonn. Ich wollte Euch sicher nicht beim Schlafen stören. Am besten wird es sein, ich verlasse den Raum und trinke ein kühles Bier in der Taverne beim alten Wirt Dran, zur Feier des Tages."
"Zur... bitte was?" Wai Lonn seufzte.
Freygos Lei stand auf und ging hinaus. Habe ich nur das Gefühl, oder sind heute alle dran und drauf mich zu nerven? fragte Lonn sich am Ende seiner Nerven. Erst die Torwachen, dann Taron, danach Sotal Nimbun, und zuletzt Freygos Lei mit seiner Tochter Risa. Seit längerem belästigte ihn diese verrückte Schwerverliebte. Freygos, als ihr Vater, hatte sich in den Kopf gesetzt, dass er Risa und Wai Lonn zusammenbekäme. Die anderen Bewohner der Kaserne machten sich einen Witz daraus, die ständige nervenaufreibende Geschichte um Lonn und seine Verehrerin zu verfolgen, und schlossen darüber sogar Wetten ab. Der einzige, der davon nichts mitbekam, war der Vater jenes Mädchens.
Lei glaubte seine Tochter wunderschön und unheimlich aufreizend. Mit dieser Meinung stand er allerdings alleine. Seit der Sprengstoffexperte seine Frau Jira verloren hatte, sagte man ihm einen Tochterkomplex nach. Ganz stimmte diese Behauptung aber nicht, er war hauptsächlich an seiner Arbeit am Sprengstoff interessiert, seine Tochter Risa war zweitrangig. Deshalb hatte man das hitzige Mädchen des Öfteren schon ihrem Vater Sprengstoff-Fetischist nachrufen hören. Lonn wusste nicht an wem er sich so sehr schuldig gemacht hatte, dass Risa ausgerechnet in ihn vernarrt war. Vielleicht würde sich das eines Tages legen. Aber bis dahin war der bedauernswerte General Risa schutzlos ausgeliefert, da Lonn sich strikt weigerte, mithilfe von Gewalt in den eigenen Reihen irgendetwas zu erreichen, selbst wenn es darum ging, sich Risa zu entziehen.
Bald schlief Lonn über diesen Gedanken hin ein. Obgleich er auch mit Stiefeln und Rüstung im Bett lag, ruhte er bequem und entspannt, denn wenn man todmüde ist, geplagt worden von den Waffen der Feinde und Freunde, kann einem nichts ohne weiteres die Ruhe nehmen, wenn er nur im Bett liegt.

* * *

Riyonn reckte sich. Nun ausgeschlafen blickte er blinzelnd aus dem Fenster. Die Abendsonne stand tief am Horizont und der Himmel dunkelte. Die Baumkronen des Sichelwalds Cios schillerten in allen erdenklichen Grüntönen im fahlen Licht des aufgehenden Mondes.
Riyonn war tief in Gedanken über Gerjyho-Zuras Brief, Noreels Auftrag, seiner Begegnung mit Evorett und Don Diaven vertieft, als die Tür zu seinem Zimmer aufgestoßen wurde und Imogen hinein trat.
"Abend, Riyonn."
"Abend. Na, auch ausgeschlafen?" Lächelnd ging er an Imogen vorbei aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und zur Tür. Imogen betrachtete seine Frisch-aus-dem-Bett-gepurzelt-Frisur.
"Ich wundere mich wieder einmal, wie geschwind du es schaffst, deine Haare zu bürsten. Oder tun sie das von selbst?"
Riyonn betrachtete seine wild gewachsenen schwarzen Haare.
"Darauf schaut doch keiner. Es sind die inneren Werte, die wirklich zählen!"
"Trotzdem wirkt es sehr ungepflegt, wenn man mit derart zerzausten Zotteln herumläuft, und diese Zotteln dann auch noch Haare schimpft."
"Außer dich stört das doch keinen."
"Wohin gehst du überhaupt?"
"Ich schaue mal bei Taron vorbei..." Damit drehte er ihr den Rücken zu und verließ das Haus. Draußen atmete er tief die abendliche laue Luft ein. Der Wind kräuselte seine ungekämmten Haare. Bald schon würde die Sonne hinter dem Horizont verschwinden. Riyonn liebte die Abenddämmerung. Selten am Tag war so wenig los in der Stadt als abends, wenn die Frauen ihre Kinder zu Bett brachten und die Männer meist in die Taverne von Dran verschwanden, um meist nicht nur einen zu heben, oder wie jetzt im Sommer in ihren Sesseln bequem gemacht hatten, und die Nacht dösend empfingen.
Riyonn war da anders; der Abend, die Nacht – Dunkelheit weckte seit jeher sein Interesse. Sie schienen ihn zu beleben, vermittelten ein Gefühl von Freiheit. Sie hatten ihm Stille geschenkt - Stille, wie er sie bei der ständig redefreudigen Imogen und seinem ewig zurechtweisenden Vater Zoran nie genießen hatte können. Diese wenigen Momente des Tages hatte Riyonn oft mit Nachdenken verbracht. Nicht selten hingen die Gedanken, die ihm dabei kamen, mit seiner Identität zusammen. Niemand wusste wer er und Imogen wirklich waren. Imogen beschäftigte das weniger, sie lebte fröhlich und ungezwungen im Jetzt. Doch Riyonn war anders. Er grübelte viel über vergangenes und bevorstehendes.
"Lonn?" Wai Lonn schreckte von seinem Bett hoch. Jemand war an der Tür.
"Was ist los?" Mürrisch stand er auf und öffnete.
"Hey, General! Ich wollte Euch bitten mir ein Gespräch mit Taron zu besorgen." Riyonn konnte sich sein Grinsen nicht verkneifen, als er die vollkommen zerzauste und verschlafene Gestalt seines Generals erblickte.
"Hat das nicht bis morgen Zeit? Außerdem, wieso willst du mit Taron reden?"
"Ich zitiere: Dabei hat er Zoran versprochen auf uns aufzupassen und für uns zu sorgen. Gruß von Imogen. Ich würde gewissermaßen Selbstmord begehen, wenn ich mich selbst zu Taron vorlade, oder etwa nicht?"
Lonn fasste sich an den Kopf und ließ seine schwarzen Haare durch die Finger gleiten, grummelte irgendetwas Unverständliches von: Man sollte niemandem ein Versprechen geben, solange es Leute gibt, die das ausnützen...
"Na schön. Warte einen Augenblick." Wai Lonn streifte mit einem Hornkamm kurz durch die verstrubbelten Haare und band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen.
"Würde dir auch einmal gut tun, diese Art von Körperpflege", meinte Lonn spöttisch als er Riyonns Zottel musterte. Dieser jedoch zuckte nur mit den Schultern. Wai Lonn schloss leise die Türe hinter sich, damit Lei nicht davon aufwachte, der sich bereits am frühen Abend schon zu Bett gelegt hatte.
Gemütlich und langsam spazierten Wai Lonn und Riyonn Katapura den Steinweg der Hauptstraße entlang zum Hause Tarons.
"Was willst du von Taron eigentlich?", unterbrach Lonn das Schweigen.
"Dies und jenes. Ich habe es mir eigentlich so genau noch nicht überlegt. Ich dachte daran, ihm einige Fragen zu stellen." Riyonn schaute gen Himmel. Die rote Abendsonne war schon fast hinter den Gipfeln des Kmihon-Gebirges verschwunden. Die Dämmerung warf ein oranges Licht auf die Ziegeldächer der Fachwerkhäuser. Letzte Vögel verstummten, Nachtschwärmer beendeten ihren Tagschlaf.
"Ich bezweifle, dass Taron es begrüßt, zu so später Stunde noch besucht zu werden.", überlegte Lonn laut.
"Er wird müssen. Schließlich seid Ihr einer seiner Generäle", entgegnete ihm Riyonn selbstsicher. Der General gab ein Gähnen von sich.
"Zumindest kann ich immer noch dich für schuldig erklären, falls er wütend wird."
"Das würdet Ihr nicht tun!", meinte Riyonn überzeugt.
"...möglich."
Sie erreichten das große aus groben Steinbrocken zusammengesetzte Gebäude Tarons. Zielstrebig ging Riyonn zu der schweren eisenbeschlagenen Eichentüre und klopfte an. Bald vernahmen sie Schritte aus dem Inneren des Hauses. Ein Guckloch wurde aufgeschoben.
"Wer begehrt Einlass?", hörten sie die heisere und entkräftete Stimme Juizul Arms, der alte Nachtwächter Tarons. Lonn trat an Riyonn vorbei vor das Guckloch.
"Ich, General Lonn. Ich erbitte mir mit Taron sprechen zu dürfen, Arm."
"Zum letzten Mal, Herr General, Ihr dürft und sollt mich Juizul nennen. Meinen Beinamen weiß ich selber doch auch." Mit fröhlichem Kichern schob der Alte den Riegel der Türe zurück und öffnete sie.
"Ah, der Junge von Herr Zoran Vieotan, möge er in Frieden ruhen und selig sein." Riyonn zwang sich ein höfliches Lächeln ab. Er konnte es beim besten Willen nicht leiden, Junge genannt zu werden. Mit seinen knapp sechzehneinhalb Jahren sah er sich mehr als erwachsenen Mann.
"Heil Euch, Herr Arm!", grüßte er zurück.
"Juizul, mein Lieber, Juizul!" Der Alte zeigte bei einem breiten Grinsen alle seine schwarzen abgestumpften Zähne. Lonn packte Riyonn am Arm und zerrte ihn ins Haus hinein, vorbei an Juizul.
"Komm schon!"
In der großen düsteren, mit Marmorplatten ausgelegten Eingangshalle standen zu beiden Seiten zwei riesige Steinsäulen. Ein großer weinroter Vorhang grenzte den Eingangsbereich von Tarons Wohnstatt ab. Im Dunkel des Raums sah Riyonn ein Paar orange Augen auf sie zukommen.
"Was führt meinen General des Nachts zu mir?", erschall plötzlich die Stimme Tarons.
"Vieotans Kleiner verlangt nach einem Gespräch mit Euch. Dafür bat er mich um Vorsprache." Neugierig auf Tarons Reaktion blickten Lonn und Riyonn zu dem Mutanten.
"Er soll verschwinden!" Der Zorn in Tarons Stimme war deutlich herauszuhören.
"Wartet, Taron! Sagt Euch der Name Noreel etwas?", wagte Riyonn sich zu einer Frage.
"Nein!" Taron starrte Riyonn finster in die grauen Augen.
"Es ist besser wir gehen, Riyonn.", versuchte Lonn Riyonn zur Umkehr zu bewegen.
"Aber Ihr könnt mich nicht einfach hinausschicken! Das ist unfair. Ihr seid ein Feigling, ja, nur ein Feigling drückt sich auf solche Weise vor etwas." Hilflos sah Riyonn zu Lonn.
"Im Grunde hat er nicht ganz Unrecht Taron, er..."
"Seid Ihr sein Vormund, Lonn? Nein, seid Ihr nicht, also seid Ihr nicht befugt für ihn vorzusprechen.", begehrte Taron auf. Lonn zögerte kurz, dann meinte er:
"Zoran hat mir seine Kinder anvertraut. Rein theoretisch bin ich also sein Vormund." Lonn konnte sich nicht erklären, weshalb er plötzlich so für den Quälgeist Riyonn einsprang. Wahrscheinlich war es ein Akt seiner nicht immer steuerbaren Warmherzigkeit.
"So seid Ihr denn als Vormund von Imogen und Riyonn Katapura bestimmt, was aber nichts an der Sache ändern muss." Taron winkte Juizul Arm herbei. "Schreib auf, was ich eben gesagt habe."
"Jawohl, Meister!" Juizul knickste vor Taron und langte nach einem Stück Papier und einer Feder in seinem Beutel. Hastig kritzelte er Tarons Worte darauf.
"Erledigt, mein Herr!" Doch Taron kümmerte sich des Weiteren nicht um seinen Angestellten.
"Ich werde dir auf deine vorher gestellte Frage eine Antwort gewähren. Könntest du sie nochmals wiederholen?"
Sein Glück gar nicht fassend blickte Riyonn zu Taron.
"Kennt Ihr Noreel?"
"Ja! Und nun hattest du deine eine Frage, Katapura. Juizul?"
"Ja, Meister?"
"Die Herren möchten hinaus. Geleite sie bitte zur Tür."
Riyonn war verwirrt.
"Das war alles? Ein einfaches Ja?"
"Du hättest deine Frage anders formulieren müssen, Kleiner. Auf die Frage, die du gestellt hast, waren Nein oder Ja die einzig möglichen korrekten Antworten. Gute Nacht!" Taron grinste. Folgsam schob Juizul die Besucher zur Tür hinaus.
"Er hat mich reingelegt! Er hat genau gewusst, was ich hören wollte und absichtlich anders geantwortet. Dieser miese verlauste...!", erregte sich Riyonn. Ohne zu überlegen zog er seinen Lyk-tai und drängte sich an Juizul vorbei wieder ins Haus.
"Halt!", Lonn ergriff Riyonn am Kragen und zog ihn zurück. "Zügle dein Temperament!"
In Riyonns Augen schien ein roter Funke entzündet zu sein. Etwas Warmes und finsteres schoss durch Riyonns Adern. Das schwarze "Ding" in ihm kämpfte gegen seinen Käfig an.
Juizul schloss und verriegelte eilig die Tür. Als Lonn Riyonn losließ, trommelte der wutentbrannt gegen die Eichentür.
"Lasst mich rein! He, ihr Feiglinge! Schlappschwänze! Rattenbrut!"
"Riyonn!" Lonn zerrte ihn von der Tür fort. "Beruhige dich. Du benimmst dich ja schon fast so schlimm wie Risa."
"Risa?" Riyonn blickte verwirrt zu dem General und ließ von der Tür endgültig ab. Der Drang des Stroms erstarb. Lonn seufzte.
"Risa Lei, die Tochter von Freygos Lei, unserem Sprenger. Er ist mein Zimmermitbewohner, musst du wissen."
Riyonn hatte sich schnell wieder beruhigt.
"Man sagt, sie wäre Eure Verehrerin."
"Man sagt viel, wenn der Tag lang ist. Besonders Leute wie Sotal Nimbun, oder Crazen Scroll... und wie die Trottel sonst noch alle heißen. Sei’s drum. Als dein Vormund finde ich, könntest du mich eigentlich mit Wai anreden, und das formelle Ihr statt dem Du vergessen wir auch."
Riyonn nickte einverstanden.
"Na schön, Wai. Dann wünsche ich dir noch einen erholsamen Schlaf – bis morgen."
Wai lächelte.
"Gute Nacht."
Dann trennten sich ihre Wege, Lonn ging Richtung Kaserne und Riyonn trat den Heimweg zu Zorans Haus an. Wai Lonn, der sich die Nacht hindurch wenigstens Ansatzweise ein bisschen Erholung gönnen wollte, und Riyonn, der nachdachte. Zu viel nachdachte. Nachdachte über all die Dinge, die ihm seit dem Vortag durch den Kopf schwirrten und nach Antworten schrieen.
 

© Itariss
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Und schon geht es weiter zum 6. Kapitel: Revol Taron

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