"Mein Herr, Ihr wünschtet die neuesten
Neuigkeiten zu hören, die in Umlauf sind?" Juizul Arm kniete demütig
vor Tarons Spinnenbeinen nieder.
"Erzähl!"
Der Mutant streifte seine eisblauen Rastas
aus dem leichengrauen und tief vernarbten Elfengesicht.
Juizul griff zu einer Liste, auf der er sich
Notizen zu den aktuellen Stadtgesprächen gemacht hatte.
"Also da hätten wir: General Lonn soll
in Zorans Kleine verliebt sein, hat Leis Töchterchen dafür abblitzen
lassen und hat sich einigen Ärger mit Lei eingehandelt. Außerdem
soll er zu seinen Mündeln gezogen sein. Des weiteren: Scroll hat wieder
einen Schlechtwetterprognosenanfall, warnt die ganze Stadt vor einem nahenden
furchtbar gefährlichen Unwetter, dem er den Namen Ragnarök verliehen
hat. Doch das ist sicher nur Unfug, ein weiterer Dummejungenstreich Scrolls,
wie sonst auch. Ansonsten: ein paar weniger interessante Streitgespräche
zwischen Risa und sämtlichen Bewohnern Revol Tarons. Freygos` Aussage
zufolge treffen sich übrigens gerade dieser Scroll, General Lonn und
Riyonn in der Kaserne. Ich finde das nur merkwürdig, weil alle drei
heute ziemlich viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Vielleicht ist da eine
Verschwörung oder Intrige gegen Euch im Gange."
Der kleinwüchsige alte Mann räusperte
sich.
"Das war alles, was ich im Lauf des Tages
so aufgeschnappt habe, mein Herr."
Taron zeigte ihm mit einer Handbewegung, dass
er sich entfernen durfte.
"Ist das so, General Lonn?", sagte der Mutant
Gedankenversunken zu sich selbst. Er blickte aus dem kleinen verdreckten
Fenster hinaus, das links von ihm das einzige Licht in die große
Halle warf. Plötzlich wich Taron vom Fenster zurück, er war kreidebleich,
seine Augen glühten sonderbar befangen, seine spitzen Zähne blitzten.
"Juizul!", keuchte er mit belegter Stimme.
So schnell er konnte eilte der kleine Mann
auf den Ruf seines Herrn hin zu diesem.
"Was wünscht Ihr, mein Herr? Ist Euch
nicht gut? Ihr seid blasser als sonst."
"Packe mir das notwendigste für eine
Flucht von hier und versteck es ein Stück weg im Gebirge Richtung
Kouwah, dabei darf dich niemand, aber auch kein einziger sehen. Danach
gehst du zur Kaserne. Bring General Lonn, Scroll und Zorans Kleinen hierher!"
Dem Befehl Tarons widerspruchslos Folge leistend
machte sich Juizul Arm auf, suchte genügend Nahrung und andere Notwendigkeiten
zusammen, lief aus dem steinernen Gebäude und schlug den direkten
Weg zu den Pferdeställen ein. Dort belud er damit Circle, Tarons Schimmelwallach,
den dieser zwar noch nie geritten hatte aber dies auch nie würde,
wegen seiner Spinnenbeine. Danach führte Juizul Circle den Gebirgspfad
Richtung Kouwah hinauf, bis zu einem großen Felsen, hinter dem er
den Schimmel an einen verkümmerten knorrigen Baum band und kehrte
zurück nach Revol Taron.
* * *
"Der Donnersee!", rief Riyonn plötzlich
auf.
"Was für ein See?", wunderte sich Wai.
"Er meint den großen See zwischen den
Gipfeln des Braeg und des Karachme. Wenn er über seine Ufern tritt,
fließt das Wasser talabwärts in den Cios, aber das auch nur,
weil das Wasser über eine Holzrinne geleitet wird, sonst hätten
wir in Revol Taron schon einige Male mehr Hochwasser gehabt und das dann
nicht nur durch einfachen Regen, der nicht durch den trockenen Boden kann.",
klärte Crazen den General schnell auf.
"Das heißt also, dieser See ist die
Hauptbedrohung, wenn die Rinnen den Wassermassen nicht mehr standhalten
können.", fügte Riyonn noch hinzu. "Deshalb müssen wir irgendetwas
dort oben verändern, wenn wir die Stadt zumindest größtenteils
retten wollen."
"Aber was willst du an einem See verändern,
Riyonn?", fragte Wai beinahe spöttisch. "Wir sind nicht allmächtig.
Es sei denn wir..."
"Wir was?", wollte Crazen wissen und kratzte
sich hinterm Ohr.
"Ein Damm! Wir bauen einen Damm auf der Seite
zum Tal, damit der Donnersee mehr Wasser aufnehmen kann. Natürlich,
wir haben vielleicht nicht alle Zeit der Welt, aber wir müssen es
zumindest versuchen.", meinte Wai und erntete damit freudige Blicke. Riyonn
sah in die Runde.
"Also los, auf ins Gebirge! Wobei... zu dritt
einen Damm? In höchstwahrscheinlich allzu knapper Zeit?"
"Eine andere Möglichkeit bietet sich
uns leider nun mal nicht, Riyonn. Und wir können schließlich
nicht allen Bewohnern einen Crash-Kurs im Schwimmen geben, oder? Wenn wir
die Sache mit dem Damm durchziehen, kann uns wenigstens keiner nachsagen,
dass wir es nicht einmal versucht hätten.", erklärte Wai.
"Falls uns jemals jemand etwas nachsagen wird,
wenn denn überhaupt jemand Ragnarök überlebt.", seufzte
Crazen pessimistisch.
"Sei doch nicht so destruktiv. Was ist eigentlich
mit Imogen?", fragte Wai.
Riyonn schüttelte den Kopf.
"Ich weiß nicht, ob..."
"Je mehr Hände, desto besser!", unterbrach
ihn Crazen. Schließlich zeigte auch Riyonn sich einverstanden.
Zu dritt gingen sie in den Innenhof zurück.
Dort trafen sie auf Jersey Kaimasu.
"Hey, Jersey! Wenn jemand nach uns fragt,
wir sind immer noch in der Kaserne, verstanden?", rief Crazen dem erstaunt
drein blickenden Mann zu und knuffte ihn im Vorbeigehen in die Seite.
* * *
Imogen wunderte sich sehr. Sie wusste nicht,
was sie davon halten sollte. Don Diaven... Ragnarök... der nächste
Dagora und der Staudamm. Crazen schien die Sache leichter aufgenommen zu
haben. Er hatte bloß genickt und gelächelt, als Riyonn und Wai
mit der Geschichte herausgerückt waren. Nun befanden sie sich zu viert
auf dem Aufstieg des Karachme.
Am Himmel bildeten sich schon kleine Wolkengruppen,
so dunkel wie der Qualm eines Kaminfeuers. Allen war klar, dass es eilte.
Bald konnten sie ihn sehen, den Donnersee, mit seinem matten dunklen Glanz
in der Nachmittagssonne.
"Hier wären wir also.", seufzte Crazen,
als sie endlich am Rande des Sees standen. Kaum hatte er das ausgesprochen,
fiel ihm der erste Regentropfen auf die Nase.
"Ragnarök!", flüsterte Riyonn mit
einem Zittern in der Stimme. "Es beginnt."
"Wir haben keine Zeit mehr. Wir müssen
unseren Plan aufgeben.", meinte Wai hastig und mit einem leisen Anklang
von Panik. "Wir müssen sofort ins Tal und die Leute in den Cios bringen,
er liegt höher. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät, wenn wir
unten ankommen."
"Den Weg hier herauf hätten wir uns sparen
können.", murmelte Riyonn verärgert. Rennend, meist jedoch mehr
stolpernd, nahm die Gruppe den Abstieg in Angriff.
Plötzlich blieb Riyonn stehen. Die anderen
setzten ihren Weg unbeirrt fort, da er am Schluss gelaufen war. Ihm war
schwindlig, in seinem Kopf schienen schwarze Fetzen zu schwirren. Bald
merkte er nichts mehr von seiner Umwelt, wie der Himmel sich vollends schwarz
färbte unter den dunklen Wolken, wie der Regen wie ein Vorhang zur
Erde prasselte und sich über ihm Blitze entluden.
Riyonn sank auf den nassen Boden. Alles war
schwarz um ihn. Er wusste genau, was ihm nun bevorstand: Kil`Yaeden.
* * *
Vor Crazen, Wai und Imogen stand das Tal schon
kniehoch unter Wasser. Panisch schreiende Leute liefen herum.
* * *
Für Taron, seinen Herrn und Meister, der
im Grunde nur sein Arbeitgeber war, würde der kinderlose Greis alles
tun. Er empfand tiefe Demut, Unterwürfigkeit und Verehrung vor dem
spinnenbeinigen Führer der Diebe, die man korrekterweise eigentlich
Räuber nennen müsste, denn ihre Überfälle glichen denen
von mordlistigen, blutrünstigen und gewissenlosen Orcräubern
eher, als dass sie einfachem Diebstahl ähnelten.
Juizul lebte bereits seit achtundachtzig Jahren,
stets im Dienst des Mutanten, der ihn meist fast wie einen wertlosen Sklaven
behandelte und nicht minder oft tyrannisierte.
Doch dies löste weder Hass noch Angst
in Juizul aus, sondern bewegte ihn zu noch tieferer Vergötterung.
Nie würde sich der Alte gegen einen Befehl Tarons auflehnen, sich
weigern ihn auszuführen oder ihm etwas entgegensetzen, selbst eine
verhärtete Bitte würde Juizul seinem Meister niemals ausschlagen.
Taron wusste wohl was er an dem treuen, loyalen
und demütigen Juizul hatte, ließ es den Mann jedoch nicht spüren.
Bald schon rückte die Kaserne in Juizuls
Blickfeld. An seinen Beinen reichte das Wasser schon bis zu den Oberschenkeln.
Leise aufseufzend beschleunigte er seine Schritte nochmals, flutschte zwischen
den Wachen hindurch in den Innenhof und kam dort zum Stehen. Keuchend wanderten
seine dunklen Augen über die verwirrten, an ihm vorbeilaufenden Diebeslehrlinge,
Ausbilder und Befehlsstäbe.
Sotal Nimbun, gerade zurück von seinem
alltäglichen Tavernengang und ziemlich verwundert über das stehende
Wasser, erblickte den suchenden Juizul Arm und hielt auf ihn zu.
"Heil, Alter, spionierst du wieder für
den großen bösen Taron?", grinste Nimbun, seine gelb glänzenden
Zähne bleckend und über seine Frage ziemlich belustigt Juizul
an.
Dieser wollte gerade Luft holen, um seinen
Meister zu verteidigen, da redete Nimbun freudig weiter.
"War nicht ernst gemeint. Suchst du Lonn?
Den suchen heute alle, aber er wohnt seit wenig geraumer Zeit, gar erst
seit wenigen Stunden, bei seinen Mündeln, wenn ich mich nicht irre."
"Mein Meister wünscht ihn trotzdem zu
sehen. Als ich Herrn Kaimasu in der Nähe von Zorans Haus darauf ansprach,
wo sich weder der General noch seine Mündel aufgehalten haben, hat
er mir gesagt, der General wäre immer noch in der Kaserne, ebenfalls
würde ich Scroll und Katapura hier auffinden.", entgegnete Juizul,
der sich die Hand vor die Augen hielt, zum Schutz vor dem prasselnden Regen.
Nimbun zuckte mit den Schultern, drehte sich
dann zu einer Gruppe trainierender Diebeslehrlinge zwischen zwölf
und dreizehn Jahren um, bei denen ein weiterer General den Lehrer, das
Wasser und den Regen ignorierend kontrollierte.
"Hey, Lei!"
Der General schaute über seine Schulter
zu Nimbun.
"Was gibt’s, Nimbun?"
Freygos Lei kam zu Juizul und Nimbun heran.
"Tarons Schoßhündchen und Speichellecker
möchte wissen, ob sich General Lonn hier in der Kaserne aufhält."
Freygos Lei überlegte nur kurz.
"Soweit ich mich erinnern kann, wollten er
und Zorans Kleiner zu Crazen, diesem Verrückten mit der Unwetterprognose,
na, zumindest mit dem Regen hat er Recht gehabt."
"Lei, jeder noch so Hinterbelichtete Bewohner
dieser verdammten Stadt kennt Crazen Scroll, deshalb ist es überflüssig
ihn Juizul Arm zu beschreiben."
Nimbun nickte Juizul zu.
"Na bitte, er ist hier. Soll ich dich noch
zu Crazens Schlafsaal führen, oder kennst du dich soweit hier aus?"
Juizul winkte ironisch mit theatralisch dankbarer
Miene ab und ging Richtung Schlafsäle davon.
Nimbun und Lei lachten über den alten
weißhaarigen Mann, der sich in zügigen Schritten von ihnen entfernte.
Kaum war Juizul in den Schlafsälen angekommen,
begriff er, dass niemand wusste, wo General Lonn, Crazen Scroll und Riyonn
Katapura sich aufhielten.
* * *
"Ninelives, ich muss zu Ninelives!", keuchte
Wai und stürzte sich in das Hüfthohe Wasser.
Viele der Bewohner Revol Tarons konnten nicht
schwimmen und schrieen und kreischten aus Angst wild herum.
Imogen wusste nicht, was sie tun sollte und
folgte Wai mit ihren Blicken. Crazen stand neben ihr.
"Kannst du schwimmen?", fragte er sie.
Imogen verneinte.
"Das heißt, ich muss aufpassen, dass
du nicht absäufst, wenn wir uns jetzt auf den Weg durch das Wasser
machen."
Er grinste.
* * *
Riyonn erblickte in der Schwärze eine
noch dunklere Gestalt mit zehn Flügeln.
"Schönen Tag, Kil`Yaeden.", rief er dem
Dagora des Wassers entgegen.
"Du weißt schon, wer ich bin? Das erspart
mir natürlich die heuchlerische Begrüßungszeremonie."
Der Dagora lachte mit klarer Stimme.
"Wenigstens einer, der sofort zur Sache kommt.",
seufzte Riyonn und zog seinen Lyk-tai, den er sich glücklicherweise
vor dem Ausflug zum Karachme umgebunden hatte. Die Klinge glänzte
im dunkelblauen Licht von Kil`Yaedens Augen. Dieser hielt bereits in beiden
Pranken große Katanas.
"Ich lasse dir den ersten Angriff, Auserwählter.
Sieh es als eine großzügige Geste deines überlegenen Gegners.",
lachte der Dagora und wetzte siegessicher grinsend die Katanas aneinander.
* * *
Imogen und Crazen saßen auf einer schwimmenden
Türe, die das Wasser aus den Angeln gerissen hatte. Kein Wort miteinander
wechselnd steuerten sie ihr Boot mit einem langen Holzstab zu Zorans Haus.
Das Wasser stand zwar erst Brusthoch, aber auf der Türe ließ
sich schneller vorwärts kommen.
Den Rat der beiden, in den Cios zu flüchten,
hatten viele Leute dankbar angenommen und waren schnellstens durch das
Wasser dorthin geeilt, falls sie nicht schon selbst zu der einleuchtenden
Feststellung gekommen waren, dass der Wald höher lag und man dort
vermutlich nicht um sein Leben schwimmen musste.
Vor der Hauswand stoppte Crazen die Türe.
Imogen sprang ins Wasser.
"Beeil dich, Imogen. Denk daran, dass du nicht
schwimmen kannst!", mahnte Crazen sie und lächelte.
Imogen kämpfte sich zur Haustür
vor und stemmte sich mit dem ganzen Gewicht dagegen, bis diese nachgab
und sich nach innen öffnete. Drinnen stand das Wasser erst kniehoch,
stieg nun aber rasch an, wegen dem offenen Türspalt nach draußen.
Imogen watete so schnell es ging zur Treppe und rannte diese eiligst hinauf.
Oben griff sie nach sämtlichen Waffen und Rüstungen, steckte
die Sachen in einen großen Jutesack, schulterte ihn und stürzte
die Treppe wieder hinunter. Dort stand das Wasser inzwischen hüfthoch.
Auf einmal kam Imogen der Brief Gerjyho-Zuras
in den Sinn. Schnell erspähten ihre rotbraunen Augen das Papier
auf dem Tisch. Riyonn musste es dort liegengelassen haben. Sie steckte
ihn in ihren wasserdichten Lederbeutel, der an ihrem Waffengürtel
hing und hielt den schweren Sack über ihren Kopf, sodass er keinesfalls
nass würde.
* * *
Crazen wunderte sich. Was machte sie nur so
lange dort drinnen? Schließlich sah er, wie sich etwas an der Haustüre
bewegte. Im Sinne ihr zu helfen glitt Crazen von der schwimmenden Türe
ins Wasser. Erst hier bemerkte er, dass er schwimmen musste.
Sie ertrinkt, schoss es ihm durch den Kopf.
Hastig kraulte er zur Haustüre. Das einzige
was er dort sah, war jedoch ein großer Jutesack, der von zwei zitternden
Händen in die Höhe gestreckt wurden. Schnell griff er mit beiden
Händen Unterwasser und packte Imogen an ihrer Tunika und zog ihren
Oberkörper weitgehend heraus.
Imogen keuchte, klammerte sich mit den Armen
an Crazen, ließ den Sack aber nicht los, sondern hielt ihn mit beiden
Händen fest und über Wasser.
"Ich habe dir doch extra gesagt, dass du dich
beeilen sollst.", meinte Crazen und presste den zitternden Körper
des Mädchens an sich. So gut es mit einem freien Arm ging, schwamm
er zurück zu der Stelle, an welcher er die als Boot benutzte Türe
zurückgelassen hatte. Doch zu seinem Schreck war diese fortgetrieben.
"Hindere ich dich sehr?", fragte Imogen, noch
Wasser hustend.
"Es wird gehen müssen, Kleines.", antwortete
Crazen.
So kämpfte er sich weiter bis zur Hauptstraße.
Im Wasser neben und vor ihnen trieben einige Tote, Möbel, totes Federvieh
und zersplitterte Türen, die aber vom Wasser schon dermaßen
voll gesogen waren, dass sie das Gewicht Crazens, Imogens und der Waffen
nicht hielten.
Plötzlich erblickte Crazen ein Stück
weiter vorn ein schwarzes Pferd. Neben dem Rappen schwamm ein schwarzhaariger
Mann.
"Lonn...?", rief Crazen freudig.
Mit geschwächter Kraft hielt er auf den
General zu. Wai kam ihm entgegen.
"Aber... Imogen.. was ist mit ihr?", wunderte
sich Wai über das zitternde Mädchen, das sich an Crazens Hals
festklammerte, und das dieser mit einem Arm festhielt.
"Sie wäre beinahe Fischfutter gewesen.
Kannst du sie mir bitte abnehmen? Ich muss wissen, was aus meinen Instrumenten
und Messgeräten geworden ist."
Wai nickte und nahm Imogen entgegen.
"Halte dich an Ninelives fest!", empfahl er
ihr und schwamm mit den Zügeln des Pferdes in der Hand voraus.
"Wo ist eigentlich Riyonn?", erschrak Imogen
auf einmal.
"Er wird auf dem Karachme geblieben sein.
Wir sollten zumindest dort nachsehen."
Bald erreichten sie seichteres Wasser.
Plötzlich wies Imogen aufschreiend mit
dem Zeigefinger auf die hölzerne Abflussrinne, die sich kaum zehn
Meter vor ihnen vom Karachme herab zog. In das überstrapazierte Holz
hatte sich schon ein breiter Riss gefressen, der nun die Rinne zerstört
hatte und eine gewaltige Wassermaße ins Tal hinabschnellen ließ.
Das Sturzwasser brach die Palisade und spülte die steinernen Häuserwände
mit sich. Wai reagierte schnell, bevor die Flutwelle sie erreichte, hob
Imogen auf Ninelives und lief, den Rappen mit Imogen auf dem Rücken
hinter sich her reißend, aus der Gefahrenzone und sofort den Karachme
hinauf.
* * *
"Worauf wartest du noch, Auserwählter?",
wunderte sich Kil`Yaeden.
"Ist das ein Tick von euch Dagoras, dass ihr
mir immer irgendeinen Namen anhängt? Diaven nannte mich ständig
Dieb und du jetzt Auserwählter. Aber das müsst ihr wohl von Evorett
haben. Der hängte auch an seine Sätze ständig ein 'Krone'
an.", meinte Riyonn gereizt.
Der Dagora legte den Kopf schief.
"Der Meister hat mit dir gesprochen, Auserwählter?"
Riyonn spürte, wie die finstere Wut in
ihm hochstieg, antwortete aber trotzdem mit ruhiger Stimme.
"Ja, das hat er. Wieso auch nicht?"
"Weil er sich normalerweise nicht mit so niederem
Gewürm wie dir abgibt. Wo käme er denn auch hin, wenn er sich
um alles scheren würde, was da eben kreucht und fleucht, Auserwählter."
"Dann scheint er nicht gerade sehr viel Macht
zu haben, dein Meister, wenn ihm das schon nicht gelänge.", spottete
Riyonn grinsend.
"Wag es nicht, über meinen Meister zu
spotten, Auserwählter!"
"Wenn du aufhörst, mich immer Auserwählter
zu nennen, Sklave der Lich!"
Kil`Yaeden bleckte die Zähne.
"Stört dich das, Auserwählter?"
"Wie kommst du denn darauf, Geisel der Untoten?",
entgegnete Riyonn mit sarkastischem Unterton.
Der Dagora lachte.
"Gut, dass ich das weiß. Sollte ich
nun außerstande sein, dich zu besiegen, wüssten die anderen
wenigstens zwei deiner Schwächen: du lässt dich nicht gerne in
eine Kaste stecken und blickst auf andere gern von oben herab, wie mein
Meister. Ich muss sagen, darin ähnelt ihr euch sehr. Außerdem,
ich bin keine Geisel. Selbst wenn du das meinst, aber ich arbeite aus freien
Stücken für die Untoten. Doch wie du versuchst mich zu ärgern,
finde ich einfach köstlich. Bist nicht auf den Mund gefallen, was?
Schlagfertig und frech, vorlaut, vorwitzig und von sich selbst überzeugt.
Diese Runde kann ja einfach werden, Auserwählter."
"Dass du dich da nicht täuschst, Dagora!"
Riyonn schwang auffordernd seinen Lyk-tai.
"Lass uns beginnen!"
In Riyonns Augen erschien ein kleiner Funke,
der die düstere Kampfeslust des schwarzen Stroms mit sich trug. Der
Dagora versetzte sich nun selbst in Rage und begann den Kampf. Doch Riyonn
wich dem gekreuzten Doppelschlag der Katanas geschickt aus und verletzte
Kil`Yaeden am Bein. Yaeden wich erstaunt zurück, holte aber kurz darauf
wieder zum Gegenschlag aus. Wendig und agil glitt sein geflügelter
Körper durch die Schwärze. Riyonn jedoch wich den Schlägen
auch dieses Mal so geschickt aus, dass es dem Dagora nicht gelang ihn zu
verletzen. Obendrein verpasste Riyonn ihm einen zweiten Schnitt in den
muskulösen Oberschenkel.
"Verdammter Mensch!", brüllte dieser
auf und hielt sich die blutende Wunde, wobei er eine Katana aus der Hand
warf. Wütend aufschnaubend fuhr der Dämon hoch.
"Du hast es nicht anders gewollt!"
Der Dagora murmelte einige Wörter und
plötzlich umgab Riyonn ein wildes Meer, das schäumte und Gischt
spritzte unter den hohen gewaltigen Wellen. Riyonn rang nach Luft und versuchte
sich dauernd an die Oberfläche zu kämpfen, doch sein Lyk-tai
und seine Kleider erschwerten jede Bewegung.
Schließlich streifte er die Waffe ab,
doch es half nichts. Eine große Welle überspülte ihn und
presste Riyonn tief unter Wasser. Riyonn nahm noch einmal seine letzten
Kräfte zusammen und kämpfte sich nach oben. Aber er erreichte
die Wasseroberfläche nicht mehr. Der Druck einer weiteren Welle versetzte
ihn wieder tiefer. Seine Luft war zu knapp. Er hatte keine Chance mehr,
würde wohl ertrinken. Panik stieg auf, er zappelte. Sein Kopf lief
rot an. Dieses Mal würde er sterben.
Riyonn spürte einen großen Druck
auf der Lunge und in seinem Kopf. Aber wollte er so aufgeben, wollte er
einfach loslassen? Er konnte es nicht. Selbst wenn er es wollte. Das dunkle
Etwas in ihm verbot es. Völlig konzentriert auf seine Bewegungen,
obgleich er auch keine Kraft mehr hatte, nahm er erneut den Kampf gegen
das Wasser auf.
Auf einmal wurde ihm warm. Der Strom war wieder
voll da, dieser warme Strom, der ihn auch im Kampf mit Don Diaven durchflossen
hatte, zusammen mit einer beklemmenden finsteren Faust die sich um sein
Herz zu legen schien. Ein grelles rotes Feuer umgab ihn plötzlich
und brachte Riyonn sicher an die Oberfläche.
Kil`Yaeden erschrak.
"Du... du... verdammt!"
Riyonn konnte sich die Sache nicht erklären.
Wahrscheinlich brachte ihm dieser Strom eine Art Magiefähigkeit mit.
Aber befehlen konnte er dem Feuer anscheinend nicht. Riyonn merkte, wie
das Wasser verschwand.
Wieder auf festem Boden, griff der Dieb sofort
nach seinem Lyk-tai und ehe der Dagora wusste wie ihm geschah, steckte
die Waffe in Kil`Yaedens Brust. Der Dagora blickte starr vor Erstaunen
auf den Griff der Waffe und kippte vornüber zu Boden.
Bevor Riyonn sich vom Sieg überzeugen
konnte, erfasste ihn eine unsichtbare Kraft und zog ihn zu dem Ort mit
der Farblosigkeit, an der es diese zwei Türen gab. Doch dieses Mal
war die zweite nicht rot, sondern dunkelblau. Erleichtert wählte Riyonn
die blaue und schloss die Augen.
* * *
Riyonn schlug die Augen auf. Noch spürte
er die Erhitzung vom Kampf mit dem Wasser und Kil`Yaeden in seinem Körper.
Nachdem sich sein Puls schließlich wieder
einigermaßen normalisiert hatte, begann Riyonn um sich zu sehen.
Von dem heftigen Wolkenbruch war nun nur noch ein leichter Nieselregen
zurückgeblieben und auch die feuchte aufgeweichte Erde deutete auf
das Unwetter zurück.
Plötzlich schreckte er herum. Ninelives
kam fröhlich wiehernd den Pfad des Karachme hinaufgetrabt. Auf dem
Rücken des Rappen saß die zusammengekauerte Imogen. Wai führte
sein Pferd an den Zügeln. Mit erleichterten Mienen steuerten die drei
auf Riyonn zu.
"Hier!" Wai streckte Riyonn ein zusammengefaltetes
Papier entgegen. "Das ist der Brief dieses Gerjyho-Zura. Imogen war der
Ansicht, er könnte uns noch von Nutzen sein, wobei sie bei dem Versuch,
den Brief und noch so ein paar andere Dinge aus Zorans Haus zu retten,
fast ertrunken wäre."
Riyonn nickte und klemmte sich das fast völlig
trocken gebliebene Papier hinter den Gürtel.
"Ich wusste schon immer, dass sie verrückt
ist..."
"Danke... warum bist du eigentlich hier oben
geblieben? Ich habe mir Sorgen gemacht.", warf Imogen Riyonn mit wütendem
Blick vor, der sich aber schnell zu einem strahlenden Lächeln verwandelte.
"Was ist denn in dem Sack?", wunderte sich
Riyonn und betrachtete den etwas feucht gewordenen Jutesack, den Imogen
krampfhaft mit den Händen festhielt. Daraufhin zog sie drei revolanische
Kampfmonturen heraus. Wai grinste.
"Gerade unser Mädchen stellt sich auf
Kampf ein."
Des Weiteren waren in dem Sack drei Dolche,
Imogens und Wais Lyk-tais, zwei Weidenbogen, Wais Bogen, drei Köcher
zum bersten voll mit Pfeilen und drei Kapuzenmäntel der Diebesgilde.
"Respekt, Schwesterchen!", stieß Riyonn
freudig aus und begann sofort sich seinen Teil des Sackinhalts anzukleiden.
Wai und Imogen taten es ihm nach.
"Wie sieht es aus in der Stadt?", fragte Riyonn
schließlich mit einem Blick auf den Pfad.
"Furchtbar. Die Wassermaßen haben viele
Häuser und die Palisade eingerissen und überschwemmt. Zwischen
den Trümmern schwimmen einige Leichen. Die Überlebenden sind
in den Cios geflüchtet, da er ja höher liegt, als die Stadt.
Von Taron hat keiner mehr etwas gesehen. Crazen kommt übrigens nach;
er wollte nachsehen, ob noch etwas von seinen Instrumenten übrig geblieben
ist." Wai seufzte. "Hier haben wir nichts mehr verloren. Es wäre irrsinnig
in Revol Taron zu bleiben. Wir dürfen uns keine Illusionen machen,
die Stadt wird niemals wieder existieren. Aber wohin sollen wir gehen?
Wir haben keine Wegzehrung und es wächst kaum etwas, weil es so trocken
war, und jetzt nach Ragnarök erst recht nicht. In Teras Andum und
seinen Dörfern können wir uns nicht blicken lassen und weit kommen
wir allein mit Ninelives nicht."
"Wie wäre es mit Kouwah?", schloss sich
Imogen dem Gespräch an.
Irritiert und ablehnend starrte Riyonn sie
an.
"Bist du verrückt? Die Hauptstadt von
Randuin? Dieser Dreckspfuhl steckt voller gewissenlosem Gesindel und Abschaum.
Niemals werde ich zulassen, dass du in so eine verruchte Stadt gehst!"
"Das schon.", pflichtete Wai dem aufgebrachten
Riyonn bei. "Aber schließlich ist es der einzige Ort, der nah genug
liegt und an dem wir uns mit Reittieren und Verpflegung eindecken können."
Imogen schloss sich Wai an und Riyonn fügte
sich unter einigen Protesten, die er vor sich hin murmelte.
Bald sah die Gruppe Crazen heranschnaufen.
Er winkte ihnen schon von weitem zu.
"Also denn, auf nach Kouwah!", meinte Imogen
lächelnd, riss Ninelives` Zügel an sich und trieb den Rappen
zu einem leichten Trab an. Wai und Riyonn folgten zu Fuß. Crazen
schloss sich verwirrt hinten an, als der Trupp an ihm vorbeikam.
"Wohin geht es jetzt?", wandte er sich an
Riyonn, während er versuchte mit dem gestiegenen Tempo mitzuhalten.
"Nach Kouwah!"
"Aha!"
Schließlich waren sie am Fuße
des Karachme angelangt und vor ihnen lag das überschwemmte Tal der
Stadt Revol Taron. In dem von den hineintropfenden Nieselregen bewegten
Wasser spiegelte sich die abendrote Sonne. Die Blicke, sofern es ging,
von den Leichen abgewandt, suchten sie sich einen Weg über die Trümmer
auf die andere Seite des Tals. Dort stieg das Kmihon-Gebirge wieder an
und die Gruppe bewegte sich über einen steilen und rutschigen Gebirgspfad
vorwärts.
Bald bog der Pfad nach rechts auf die Handelsstraße
nach Kouwah ein. Zu beiden Seiten der steinernen Straße erhob sich
ein düsterer Wald, der Cargranogg, Finsternis, der so genannt wurde,
weil er einige finstere Wesen in seinem nachtdunklen Innern verbarg, mehr
als der Cios es jemals könnte. Man munkelte um ganze Orcstämme,
die ihre Lager unter dem dichten Blätterdach versteckt hielten.
Schließlich war die Nacht hereingebrochen
und die Gruppe ging zum Lagern ein Stück in den Wald hinein. Einige
Zeit darauf saßen sie alle, mit Ausnahme von Ninelives, der an einer
alten Birke angebunden stand, um ein Feuer herum und aßen das gebratene
Fleisch eines zu unvorsichtig gewesenen Rehs.
"Er war wirklich da.", sagte Riyonn und starrte
gen Himmel.
"Wer?", wunderte sich Crazen, der gerade sein
fünftes Stück Fleisch von dem Reh abschnitt und auf seinem Dolch
aufgespießt davon genüsslich abbiss.
"Kil`Yaeden.", antwortete Riyonn.
Wai drehte sich erstaunt zu Riyonn um.
"Du hast also wirklich gegen den zweiten Dagora
gekämpft?"
Riyonn nickte.
"Es war schwerer als ich es mir vorgestellt
hatte. Anfangs dachte ich, jetzt, nachdem ich Don Diaven schon besiegt
hatte, wäre ich erfahrener und stärker geworden. Aber das stimmte
nicht und außerdem war die Macht dieses Dagora um einiges größer.
Ich konnte ihn nur mit knapper Not besiegen... wegen einem Feuer, das mich
im letzten Augenblick vor dem Ertrinken errettete. Danach konnte ich dem
erstaunten Dagora einfach noch den Lyk-tai in die Brust rammen. Aber alles
war so knapp... zu knapp. Der nächste wird wieder stärker sein."
"Warum greifen die Dagoras eigentlich bloß
dich an?", wollte Imogen wissen.
Riyonn zuckte die Schultern.
"Vielleicht bist du nur ein anderes Mal an
der Reihe, oder es lag daran, dass wir nicht zusammen waren, als die Dagoras
kamen."
"Jedenfalls...", unterbrach Crazen das Gespräch
über die Dagoras, von dem er offensichtlich kaum etwas verstanden
hatte, "sollten wir jetzt allmählich schlafen. Morgen ist auch noch
ein Tag."
Erwartungsvoll blickte er mit seinen blauen
Augen in die Runde.
"Crazen hat Recht. Gute Nacht!", stimmte Wai
müde gähnend zu.
Auch Imogen und Riyonn zeigten sich einverstanden
und legten sich ebenfalls, in ihre Mäntel gehüllt, auf den vom
Regen halbwegs trocken gebliebenen Waldboden nieder, um zu schlafen.
* * *
Riyonn sah eine große finstere Halle.
Zu beiden Seiten des langen Mittelganges erhoben sich blutrote Säulen
zur Decke. Am Ende thronte ein schwarzer Altar, um den sich eine Schar
Kapuzenmänner zu Boden warfen. Auf dem Altar war ein dunkelhaariger
Junge, der schreckensbleich zitterte, mit einem roten Seil festgebunden.
Hinter dem Altar jedoch war ein großer schwarzer Thron, in dessen
Lehnen grässliche Bestien eingemeißelt worden waren. Darauf
saß ein blasses, schier weißhäutiges Mädchen,
mit schwarzen langen Haaren.
In ihren hellblauen Augen widerspiegelte sich
die schwarze Klinge des Dolchs, den sie in beiden Händen hielt und
in den Körper des Jungen stieß. Über ihre Wangen liefen
Tränen, doch die waren nichts gegen das Blut des Jungen, das den Altar
hinunter in eine eiserne Rinne floss, wo es sich sammelte. Während
die schwarzen Kapuzenmänner vor dem blutüberlaufenen Altar mit
ihren Händen das Blut aus der Rinne schöpften und es tranken,
erschien aus dem Schatten hinter dem Thron des Mädchens ein weiterer
Mann in schwarzem Kapuzenmantel, der aber eine rote Zeichnung auf der Brust
trug. Über sein leichengraues Gesicht zog sich ein grausames Lächeln.
Plötzlich sah der Mann auf und Riyonn spürte seinen fürchterlichen
Blick auf sich lasten. Die Pupillen der gelb leuchtenden Augen des Manns
zogen sich zu Schlitzen zusammen.
Das Mädchen auf dem Thron zitterte und
immer noch liefen ihr Tränen über die Wangen. Ihr langes schwarzes
Haar glänzte matt im Feuerschein einer Fackel und der einzigen Beleuchtung
der Halle.
"Geh!", flüsterte sie mit einem zaghaften
Schluchzen.
Das Echo der Halle trug ihr Flüstern
durch die Stille bis zu Riyonn. Doch Riyonn konnte sich nicht rühren.
Der Blick des Mannes schien ihn festzuklammern.
Der Schein der Fackel fiel auf die Wand hinter
dem Thron. Auf ihr war ein großes blutrotes Auge gemalt, von dessen
Rändern sich Tropfen lösten.
Der Mann neben dem Mädchen ging vor zum
Altar, schob die Leiche des Jungen mit der Schuhspitze hinunter und stieg
auf ihn. Er formte mit seinen Händen das blutende Auge nach und sprach
gleichzeitig mit den anderen Kapuzenmännern ein Wort aus. Daraufhin
löste sich aus dem Zwischenraum seiner Hände ein schwarzer Strahl,
der auf Riyonn zuschoss.
Die Schwärze des Strahls traf ihn mitten
in die Seele, fraß sich brennend heiß und eiskalt hindurch
bis in Riyonns tiefstes Inneres, wo es am Meisten schmerzte. Riyonn begann
zu keuchen, ihm blieb die Luft weg, seine Zunge war staubtrocken, seine
Hände wie gefroren und ein Todesstrom floss in ihm hinauf. Die Kapuzenmänner
verschwammen vor seinen Augen. Er hörte nur noch ihre unheimliche
Stimmen und in seinen Ohren schallen und ein unheimliches quälendes
Summen. Sie sprachen: "Apokalypse!"
* * *
Riyonn schreckte hoch.
Alles nur ein Traum, beruhigte er sich.
Doch ihm war es, als ob er die Schmerzen des
schwarzen Strahls noch spürte, ein rhythmisches Beben seiner Muskeln
das mit einem stechenden heißkalten Schmerz verbunden war.
Um ihn herum war es noch Nacht. Durch eine
lichte Stelle des Blätterdachs des Waldes konnte er den hellen Vollmond
erkennen.
Auf einmal beschlich ihn ein seltsames Gefühl,
als ob irgendetwas nicht stimmte. Schließlich stand er auf. Aus Ninelives
Richtung hörte er ein unruhiges Schnauben.
Er spürt es auch, dachte Riyonn beklommen.
"Ruhig, Ninelives!", flüsterte er und
versuchte die Stellen ausfindig zu machen, wo die anderen lagen, ohne dabei
auf sie zu treten. Da das Feuer herab gebrannt war, war es beinahe stockdunkel.
"Riyonn?"
Riyonn erschrak.
"Wai? Du bist auch wach?"
"Ja!"
"Ich auch.", ließ sich Imogen vernehmen.
Crazen brummelte nur ein schwer verständliches:
"Na toll!"
"Schön. Dann sind wir ja alle wach. Fragt
sich nur, warum.", stellte Riyonn fest.
Instinktiv griff er nach seinem Lyk-tai und
spähte in die Finsternis. Auch Wai zog den Kampfsäbel, Imogen
fühlte sich bei erhobener Waffe ebenfalls sicherer und Crazen hatte
vorsichtshalber seine Hände an den Griff des Doppelklingenschwerts
gelegt. Wie auf Befehl hin stand die Gruppe in einen Kreis, mit erhobenen
Waffen nach außen. Kaum dass sie sich so formiert hatten, schall
ein lautes Brüllen durch die nächtliche Stille.
"Orcs!", flüsterte Wai den anderen zu,
ließ seinen eigenen Schrecken dabei aber nicht bemerkbar werden.
Plötzlich waren sie umringt von einer
Horde großer mit Äxten bewaffneter Orcs. Riyonn, Imogen, Crazen
und Wai schlossen ihre menschliche Barriere in den letzten Lücken.
Sie wehrten die Schläge ab, so gut sie konnten.
Doch die Masse an Orcs, die nach und nach
jedes freie Stück Boden um die Gruppe eingenommen hatten und auf die
Barriere einschlugen, wurde schließlich zu groß.
"Das überleben wir niemals!", schrie
Imogen und hieb kraftvoll einem Orc den Oberleib ab. Bald verloren die
Schläge der Gruppe an Kraft.
"Macht, dass ihr davonkommt!", rief Crazen
plötzlich wild entschlossen den anderen zu und spaltete einem Angreifer
den Schädel. "Ich halte euch den Rücken frei!"
Noch unsicher versuchten Wai, Riyonn und Imogen
sich den Weg durch die Orcs zu bahnen, während Crazen die Orcs hinter
ihnen in die Hölle schickte. Ninelives, der ängstlich wiehernd
an seinen Zügeln riss, wurde von Wai eiligst losgebunden, der sogleich
auch auf den Rücken des Tiers schwang.
"Riyonn, Imogen, springt auf!", rief er mit
befehlerischem Ton. Riyonn folgte der Aufforderung sofort, Imogen aber
zögerte.
"Was ist mit Crazen?"
Crazen, der gerade einen der Angreifer außer
Gefecht gesetzt hatte, rannte schnell zu den dreien.
"Ihr müsst jetzt verschwinden!"
"Nicht ohne dich!", protestierte Imogen. Crazen
schüttelte hastig den Kopf und umarmte Imogen.
"Wir werden uns eines Tages wiedersehen!",
flüsterte er ihr ins Ohr, bevor er sie Wai hinauf hielt, gerade aus
dem Ziel einer Orcaxt hinaus.
"Haut ab!", schrie Crazen ihnen zu, der hinter
Ninelives schon wieder reihenweise Orcs zu Fall brachte. Seine Augen wirkten
etwas glasig.
"Wahrscheinlich im Himmel, Imogen, dort werden
wir uns wiedersehen!", sagte er klanglos und wandte sich von der Gruppe
ab. Entschlossen trat er der Meute entgegen und versperrte den Bestien
das Durchkommen zu Ninelives.
Wai trieb Ninelives zum Galopp an und dieser
preschte, trotz der hohen Gewichtszufuhr auf seinem Rücken, schnell
aus der Orcmasse heraus und, obwohl nachts, sicher über Wurzel und
Stein zwischen den Bäumen hindurch durch den Wald.
Alle schwiegen und Imogen liefen stumme Tränen
über die Wangen, die einzigen, die den tiefen Schmerz ihrer Seele
zeigten.
Bald wurde Ninelives langsamer. Er atmete
keuchend, doch vor ihnen war der Wald zu Ende und der Blick war frei auf
die Handelsstraße nach Kouwah.
"Wir müssen sofort zurück!", begehrte
Imogen auf.
"Wir können ihm nicht mehr helfen Imogen,
Crazen ist tot!", entgegnete Wai erregt.
"Woher willst du das wissen? Vielleicht braucht
er unsere Hilfe!", sagte Imogen wütend.
Wai schüttelte energisch den Kopf.
"Er ist tot, verdammt. Was glaubst du, weshalb
er sich geopfert hat? - weil es ausweglos war! Er musste die Orcs ablenken
damit wir überleben können!"
"Das ist nicht wahr! Du warst doch nur zu
feige!"
"Ach ja? Zu feige? Ich hätte auch an
seiner Stelle sterben können!"
"Und das wäre mir tausendmal lieber gewesen,
General Lonn!"
Wai holte wütend Luft.
"Du machst dir wohl besonders viel aus Crazen.
Aber soll ich dir sagen, weshalb er das getan hat? Er fühlte sich
schuldig, weil er die Stadt nicht vor Ragnarök hat bewahren können!
Nun wollte er wenigstens uns retten. Ihm war sein Leben nichts mehr wert.
Ich nicht, Riyonn nicht und du erst Recht nicht!"
Imogen stiegen wieder Tränen in die Augen.
Wortlos schlug sie Wai auf die Wange.
Wie erstarrt blieb Wai stehen, während
Imogen sich in ihren Mantel hüllte und auf den Boden am Straßenrand
zum Schlafen legte.
Riyonn, unschlüssig, wie er reagieren
sollte, legte sich ebenfalls schlafen.
Allein Wai blieb stehen. Er fühlte sich
verlassen, gehasst und begann in ein tiefes Depressionsloch zu versinken.
Genauso hatte er sich beim Tod seines Vaters gefühlt. War Imogen nun
für ihn auch gestorben?
© Itariss
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