Sieben gegen Sieben von Itariss
Kapitel 7: Ragnarök

"Mein Herr, Ihr wünschtet die neuesten Neuigkeiten zu hören, die in Umlauf sind?" Juizul Arm kniete demütig vor Tarons Spinnenbeinen nieder.
"Erzähl!"
Der Mutant streifte seine eisblauen Rastas aus dem leichengrauen und tief vernarbten Elfengesicht.
Juizul griff zu einer Liste, auf der er sich Notizen zu den aktuellen Stadtgesprächen gemacht hatte.
"Also da hätten wir: General Lonn soll in Zorans Kleine verliebt sein, hat Leis Töchterchen dafür abblitzen lassen und hat sich einigen Ärger mit Lei eingehandelt. Außerdem soll er zu seinen Mündeln gezogen sein. Des weiteren: Scroll hat wieder einen Schlechtwetterprognosenanfall, warnt die ganze Stadt vor einem nahenden furchtbar gefährlichen Unwetter, dem er den Namen Ragnarök verliehen hat. Doch das ist sicher nur Unfug, ein weiterer Dummejungenstreich Scrolls, wie sonst auch. Ansonsten: ein paar weniger interessante Streitgespräche zwischen Risa und sämtlichen Bewohnern Revol Tarons. Freygos` Aussage zufolge treffen sich übrigens gerade dieser Scroll, General Lonn und Riyonn in der Kaserne. Ich finde das nur merkwürdig, weil alle drei heute ziemlich viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Vielleicht ist da eine Verschwörung oder Intrige gegen Euch im Gange."
Der kleinwüchsige alte Mann räusperte sich.
"Das war alles, was ich im Lauf des Tages so aufgeschnappt habe, mein Herr."
Taron zeigte ihm mit einer Handbewegung, dass er sich entfernen durfte.
"Ist das so, General Lonn?", sagte der Mutant Gedankenversunken zu sich selbst. Er blickte aus dem kleinen verdreckten Fenster hinaus, das links von ihm das einzige Licht in die große Halle warf. Plötzlich wich Taron vom Fenster zurück, er war kreidebleich, seine Augen glühten sonderbar befangen, seine spitzen Zähne blitzten.
"Juizul!", keuchte er mit belegter Stimme.
So schnell er konnte eilte der kleine Mann auf den Ruf seines Herrn hin zu diesem.
"Was wünscht Ihr, mein Herr? Ist Euch nicht gut? Ihr seid blasser als sonst."
"Packe mir das notwendigste für eine Flucht von hier und versteck es ein Stück weg im Gebirge Richtung Kouwah, dabei darf dich niemand, aber auch kein einziger sehen. Danach gehst du zur Kaserne. Bring General Lonn, Scroll und Zorans Kleinen hierher!"
Dem Befehl Tarons widerspruchslos Folge leistend machte sich Juizul Arm auf, suchte genügend Nahrung und andere Notwendigkeiten zusammen, lief aus dem steinernen Gebäude und schlug den direkten Weg zu den Pferdeställen ein. Dort belud er damit Circle, Tarons Schimmelwallach, den dieser zwar noch nie geritten hatte aber dies auch nie würde, wegen seiner Spinnenbeine. Danach führte Juizul Circle den Gebirgspfad Richtung Kouwah hinauf, bis zu einem großen Felsen, hinter dem er den Schimmel an einen verkümmerten knorrigen Baum band und kehrte zurück nach Revol Taron.

* * *

"Der Donnersee!", rief Riyonn plötzlich auf.
"Was für ein See?", wunderte sich Wai.
"Er meint den großen See zwischen den Gipfeln des Braeg und des Karachme. Wenn er über seine Ufern tritt, fließt das Wasser talabwärts in den Cios, aber das auch nur, weil das Wasser über eine Holzrinne geleitet wird, sonst hätten wir in Revol Taron schon einige Male mehr Hochwasser gehabt und das dann nicht nur durch einfachen Regen, der nicht durch den trockenen Boden kann.", klärte Crazen den General schnell auf.
"Das heißt also, dieser See ist die Hauptbedrohung, wenn die Rinnen den Wassermassen nicht mehr standhalten können.", fügte Riyonn noch hinzu. "Deshalb müssen wir irgendetwas dort oben verändern, wenn wir die Stadt zumindest größtenteils retten wollen."
"Aber was willst du an einem See verändern, Riyonn?", fragte Wai beinahe spöttisch. "Wir sind nicht allmächtig. Es sei denn wir..."
"Wir was?", wollte Crazen wissen und kratzte sich hinterm Ohr.
"Ein Damm! Wir bauen einen Damm auf der Seite zum Tal, damit der Donnersee mehr Wasser aufnehmen kann. Natürlich, wir haben vielleicht nicht alle Zeit der Welt, aber wir müssen es zumindest versuchen.", meinte Wai und erntete damit freudige Blicke. Riyonn sah in die Runde.
"Also los, auf ins Gebirge! Wobei... zu dritt einen Damm? In höchstwahrscheinlich allzu knapper Zeit?"
"Eine andere Möglichkeit bietet sich uns leider nun mal nicht, Riyonn. Und wir können schließlich nicht allen Bewohnern einen Crash-Kurs im Schwimmen geben, oder? Wenn wir die Sache mit dem Damm durchziehen, kann uns wenigstens keiner nachsagen, dass wir es nicht einmal versucht hätten.", erklärte Wai.
"Falls uns jemals jemand etwas nachsagen wird, wenn denn überhaupt jemand Ragnarök überlebt.", seufzte Crazen pessimistisch.
"Sei doch nicht so destruktiv. Was ist eigentlich mit Imogen?", fragte Wai.
Riyonn schüttelte den Kopf.
"Ich weiß nicht, ob..."
"Je mehr Hände, desto besser!", unterbrach ihn Crazen. Schließlich zeigte auch Riyonn sich einverstanden.
Zu dritt gingen sie in den Innenhof zurück. Dort trafen sie auf Jersey Kaimasu.
"Hey, Jersey! Wenn jemand nach uns fragt, wir sind immer noch in der Kaserne, verstanden?", rief Crazen dem erstaunt drein blickenden Mann zu und knuffte ihn im Vorbeigehen in die Seite.

* * *

Imogen wunderte sich sehr. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Don Diaven... Ragnarök... der nächste Dagora und der Staudamm. Crazen schien die Sache leichter aufgenommen zu haben. Er hatte bloß genickt und gelächelt, als Riyonn und Wai mit der Geschichte herausgerückt waren. Nun befanden sie sich zu viert auf dem Aufstieg des Karachme.
Am Himmel bildeten sich schon kleine Wolkengruppen, so dunkel wie der Qualm eines Kaminfeuers. Allen war klar, dass es eilte. Bald konnten sie ihn sehen, den Donnersee, mit seinem matten dunklen Glanz in der Nachmittagssonne.

"Hier wären wir also.", seufzte Crazen, als sie endlich am Rande des Sees standen. Kaum hatte er das ausgesprochen, fiel ihm der erste Regentropfen auf die Nase.
"Ragnarök!", flüsterte Riyonn mit einem Zittern in der Stimme. "Es beginnt."
"Wir haben keine Zeit mehr. Wir müssen unseren Plan aufgeben.", meinte Wai hastig und mit einem leisen Anklang von Panik. "Wir müssen sofort ins Tal und die Leute in den Cios bringen, er liegt höher. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät, wenn wir unten ankommen."
"Den Weg hier herauf hätten wir uns sparen können.", murmelte Riyonn verärgert. Rennend, meist jedoch mehr stolpernd, nahm die Gruppe den Abstieg in Angriff.
Plötzlich blieb Riyonn stehen. Die anderen setzten ihren Weg unbeirrt fort, da er am Schluss gelaufen war. Ihm war schwindlig, in seinem Kopf schienen schwarze Fetzen zu schwirren. Bald merkte er nichts mehr von seiner Umwelt, wie der Himmel sich vollends schwarz färbte unter den dunklen Wolken, wie der Regen wie ein Vorhang zur Erde prasselte und sich über ihm Blitze entluden.
Riyonn sank auf den nassen Boden. Alles war schwarz um ihn. Er wusste genau, was ihm nun bevorstand: Kil`Yaeden.

* * *

Vor Crazen, Wai und Imogen stand das Tal schon kniehoch unter Wasser. Panisch schreiende Leute liefen herum.

* * *

Für Taron, seinen Herrn und Meister, der im Grunde nur sein Arbeitgeber war, würde der kinderlose Greis alles tun. Er empfand tiefe Demut, Unterwürfigkeit und Verehrung vor dem spinnenbeinigen Führer der Diebe, die man korrekterweise eigentlich Räuber nennen müsste, denn ihre Überfälle glichen denen von mordlistigen, blutrünstigen und gewissenlosen Orcräubern eher, als dass sie einfachem Diebstahl ähnelten.
Juizul lebte bereits seit achtundachtzig Jahren, stets im Dienst des Mutanten, der ihn meist fast wie einen wertlosen Sklaven behandelte und nicht minder oft tyrannisierte.
Doch dies löste weder Hass noch Angst in Juizul aus, sondern bewegte ihn zu noch tieferer Vergötterung. Nie würde sich der Alte gegen einen Befehl Tarons auflehnen, sich weigern ihn auszuführen oder ihm etwas entgegensetzen, selbst eine verhärtete Bitte würde Juizul seinem Meister niemals ausschlagen.
Taron wusste wohl was er an dem treuen, loyalen und demütigen Juizul hatte, ließ es den Mann jedoch nicht spüren.
Bald schon rückte die Kaserne in Juizuls Blickfeld. An seinen Beinen reichte das Wasser schon bis zu den Oberschenkeln. Leise aufseufzend beschleunigte er seine Schritte nochmals, flutschte zwischen den Wachen hindurch in den Innenhof und kam dort zum Stehen. Keuchend wanderten seine dunklen Augen über die verwirrten, an ihm vorbeilaufenden Diebeslehrlinge, Ausbilder und Befehlsstäbe.
Sotal Nimbun, gerade zurück von seinem alltäglichen Tavernengang und ziemlich verwundert über das stehende Wasser, erblickte den suchenden Juizul Arm und hielt auf ihn zu.
"Heil, Alter, spionierst du wieder für den großen bösen Taron?", grinste Nimbun, seine gelb glänzenden Zähne bleckend und über seine Frage ziemlich belustigt Juizul an.
Dieser wollte gerade Luft holen, um seinen Meister zu verteidigen, da redete Nimbun freudig weiter.
"War nicht ernst gemeint. Suchst du Lonn? Den suchen heute alle, aber er wohnt seit wenig geraumer Zeit, gar erst seit wenigen Stunden, bei seinen Mündeln, wenn ich mich nicht irre."
"Mein Meister wünscht ihn trotzdem zu sehen. Als ich Herrn Kaimasu in der Nähe von Zorans Haus darauf ansprach, wo sich weder der General noch seine Mündel aufgehalten haben, hat er mir gesagt, der General wäre immer noch in der Kaserne, ebenfalls würde ich Scroll und Katapura hier auffinden.", entgegnete Juizul, der sich die Hand vor die Augen hielt, zum Schutz vor dem prasselnden Regen.
Nimbun zuckte mit den Schultern, drehte sich dann zu einer Gruppe trainierender Diebeslehrlinge zwischen zwölf und dreizehn Jahren um, bei denen ein weiterer General den Lehrer, das Wasser und den Regen ignorierend kontrollierte.
"Hey, Lei!"
Der General schaute über seine Schulter zu Nimbun.
"Was gibt’s, Nimbun?"
Freygos Lei kam zu Juizul und Nimbun heran.
"Tarons Schoßhündchen und Speichellecker möchte wissen, ob sich General Lonn hier in der Kaserne aufhält."
Freygos Lei überlegte nur kurz.
"Soweit ich mich erinnern kann, wollten er und Zorans Kleiner zu Crazen, diesem Verrückten mit der Unwetterprognose, na, zumindest mit dem Regen hat er Recht gehabt."
"Lei, jeder noch so Hinterbelichtete Bewohner dieser verdammten Stadt kennt Crazen Scroll, deshalb ist es überflüssig ihn Juizul Arm zu beschreiben."
Nimbun nickte Juizul zu.
"Na bitte, er ist hier. Soll ich dich noch zu Crazens Schlafsaal führen, oder kennst du dich soweit hier aus?"
Juizul winkte ironisch mit theatralisch dankbarer Miene ab und ging Richtung Schlafsäle davon.
Nimbun und Lei lachten über den alten weißhaarigen Mann, der sich in zügigen Schritten von ihnen entfernte.

Kaum war Juizul in den Schlafsälen angekommen, begriff er, dass niemand wusste, wo General Lonn, Crazen Scroll und Riyonn Katapura sich aufhielten.

* * *

"Ninelives, ich muss zu Ninelives!", keuchte Wai und stürzte sich in das Hüfthohe Wasser.
Viele der Bewohner Revol Tarons konnten nicht schwimmen und schrieen und kreischten aus Angst wild herum.
Imogen wusste nicht, was sie tun sollte und folgte Wai mit ihren Blicken. Crazen stand neben ihr.
"Kannst du schwimmen?", fragte er sie.
Imogen verneinte.
"Das heißt, ich muss aufpassen, dass du nicht absäufst, wenn wir uns jetzt auf den Weg durch das Wasser machen."
Er grinste.

* * *

Riyonn erblickte in der Schwärze eine noch dunklere Gestalt mit zehn Flügeln.
"Schönen Tag, Kil`Yaeden.", rief er dem Dagora des Wassers entgegen.
"Du weißt schon, wer ich bin? Das erspart mir natürlich die heuchlerische Begrüßungszeremonie."
Der Dagora lachte mit klarer Stimme.
"Wenigstens einer, der sofort zur Sache kommt.", seufzte Riyonn und zog seinen Lyk-tai, den er sich glücklicherweise vor dem Ausflug zum Karachme umgebunden hatte. Die Klinge glänzte im dunkelblauen Licht von Kil`Yaedens Augen. Dieser hielt bereits in beiden Pranken große Katanas.
"Ich lasse dir den ersten Angriff, Auserwählter. Sieh es als eine großzügige Geste deines überlegenen Gegners.", lachte der Dagora und wetzte siegessicher grinsend die Katanas aneinander.

* * *

Imogen und Crazen saßen auf einer schwimmenden Türe, die das Wasser aus den Angeln gerissen hatte. Kein Wort miteinander wechselnd steuerten sie ihr Boot mit einem langen Holzstab zu Zorans Haus. Das Wasser stand zwar erst Brusthoch, aber auf der Türe ließ sich schneller vorwärts kommen.
Den Rat der beiden, in den Cios zu flüchten, hatten viele Leute dankbar angenommen und waren schnellstens durch das Wasser dorthin geeilt, falls sie nicht schon selbst zu der einleuchtenden Feststellung gekommen waren, dass der Wald höher lag und man dort vermutlich nicht um sein Leben schwimmen musste.
Vor der Hauswand stoppte Crazen die Türe. Imogen sprang ins Wasser.
"Beeil dich, Imogen. Denk daran, dass du nicht schwimmen kannst!", mahnte Crazen sie und lächelte.
Imogen kämpfte sich zur Haustür vor und stemmte sich mit dem ganzen Gewicht dagegen, bis diese nachgab und sich nach innen öffnete. Drinnen stand das Wasser erst kniehoch, stieg nun aber rasch an, wegen dem offenen Türspalt nach draußen. Imogen watete so schnell es ging zur Treppe und rannte diese eiligst hinauf. Oben griff sie nach sämtlichen Waffen und Rüstungen, steckte die Sachen in einen großen Jutesack, schulterte ihn und stürzte die Treppe wieder hinunter. Dort stand das Wasser inzwischen hüfthoch.
Auf einmal kam Imogen der Brief Gerjyho-Zuras in den Sinn.  Schnell erspähten ihre rotbraunen Augen das Papier auf dem Tisch. Riyonn musste es dort liegengelassen haben. Sie steckte ihn in ihren wasserdichten Lederbeutel, der an ihrem Waffengürtel hing und hielt den schweren Sack über ihren Kopf, sodass er keinesfalls nass würde.

* * *

Crazen wunderte sich. Was machte sie nur so lange dort drinnen? Schließlich sah er, wie sich etwas an der Haustüre bewegte. Im Sinne ihr zu helfen glitt Crazen von der schwimmenden Türe ins Wasser. Erst hier bemerkte er, dass er schwimmen musste.
Sie ertrinkt, schoss es ihm durch den Kopf.
Hastig kraulte er zur Haustüre. Das einzige was er dort sah, war jedoch ein großer Jutesack, der von zwei zitternden Händen in die Höhe gestreckt wurden. Schnell griff er mit beiden Händen Unterwasser und packte Imogen an ihrer Tunika und zog ihren Oberkörper weitgehend heraus.
Imogen keuchte, klammerte sich mit den Armen an Crazen, ließ den Sack aber nicht los, sondern hielt ihn mit beiden Händen fest und über Wasser.
"Ich habe dir doch extra gesagt, dass du dich beeilen sollst.", meinte Crazen und presste den zitternden Körper des Mädchens an sich. So gut es mit einem freien Arm ging, schwamm er zurück zu der Stelle, an welcher er die als Boot benutzte Türe zurückgelassen hatte. Doch zu seinem Schreck war diese fortgetrieben.
"Hindere ich dich sehr?", fragte Imogen, noch Wasser hustend.
"Es wird gehen müssen, Kleines.", antwortete Crazen.
So kämpfte er sich weiter bis zur Hauptstraße. Im Wasser neben und vor ihnen trieben einige Tote, Möbel, totes Federvieh und zersplitterte Türen, die aber vom Wasser schon dermaßen voll gesogen waren, dass sie das Gewicht Crazens, Imogens und der Waffen nicht hielten.
Plötzlich erblickte Crazen ein Stück weiter vorn ein schwarzes Pferd. Neben dem Rappen schwamm ein schwarzhaariger Mann.
"Lonn...?", rief Crazen freudig.
Mit geschwächter Kraft hielt er auf den General zu. Wai kam ihm entgegen.
"Aber... Imogen.. was ist mit ihr?", wunderte sich Wai über das zitternde Mädchen, das sich an Crazens Hals festklammerte, und das dieser mit einem Arm festhielt.
"Sie wäre beinahe Fischfutter gewesen. Kannst du sie mir bitte abnehmen? Ich muss wissen, was aus meinen Instrumenten und Messgeräten geworden ist."
Wai nickte und nahm Imogen entgegen.
"Halte dich an Ninelives fest!", empfahl er ihr und schwamm mit den Zügeln des Pferdes in der Hand voraus.
"Wo ist eigentlich Riyonn?", erschrak Imogen auf einmal.
"Er wird auf dem Karachme geblieben sein. Wir sollten zumindest dort nachsehen."
Bald erreichten sie seichteres Wasser.
Plötzlich wies Imogen aufschreiend mit dem Zeigefinger auf die hölzerne Abflussrinne, die sich kaum zehn Meter vor ihnen vom Karachme herab zog. In das überstrapazierte Holz hatte sich schon ein breiter Riss gefressen, der nun die Rinne zerstört hatte und eine gewaltige Wassermaße ins Tal hinabschnellen ließ. Das Sturzwasser brach die Palisade und spülte die steinernen Häuserwände mit sich. Wai reagierte schnell, bevor die Flutwelle sie erreichte, hob Imogen auf Ninelives und lief, den Rappen mit Imogen auf dem Rücken hinter sich her reißend, aus der Gefahrenzone und sofort den Karachme hinauf.

* * *

"Worauf wartest du noch, Auserwählter?", wunderte sich Kil`Yaeden.
"Ist das ein Tick von euch Dagoras, dass ihr mir immer irgendeinen Namen anhängt? Diaven nannte mich ständig Dieb und du jetzt Auserwählter. Aber das müsst ihr wohl von Evorett haben. Der hängte auch an seine Sätze ständig ein 'Krone' an.", meinte Riyonn gereizt.
Der Dagora legte den Kopf schief.
"Der Meister hat mit dir gesprochen, Auserwählter?"
Riyonn spürte, wie die finstere Wut in ihm hochstieg, antwortete aber trotzdem mit ruhiger Stimme.
"Ja, das hat er. Wieso auch nicht?"
"Weil er sich normalerweise nicht mit so niederem Gewürm wie dir abgibt. Wo käme er denn auch hin, wenn er sich um alles scheren würde, was da eben kreucht und fleucht, Auserwählter." 
"Dann scheint er nicht gerade sehr viel Macht zu haben, dein Meister, wenn ihm das schon nicht gelänge.", spottete Riyonn grinsend.
"Wag es nicht, über meinen Meister zu spotten, Auserwählter!"
"Wenn du aufhörst, mich immer Auserwählter zu nennen, Sklave der Lich!"
Kil`Yaeden bleckte die Zähne.
"Stört dich das, Auserwählter?"
"Wie kommst du denn darauf, Geisel der Untoten?", entgegnete Riyonn mit sarkastischem Unterton.
Der Dagora lachte.
"Gut, dass ich das weiß. Sollte ich nun außerstande sein, dich zu besiegen, wüssten die anderen wenigstens zwei deiner Schwächen: du lässt dich nicht gerne in eine Kaste stecken und blickst auf andere gern von oben herab, wie mein Meister. Ich muss sagen, darin ähnelt ihr euch sehr. Außerdem, ich bin keine Geisel. Selbst wenn du das meinst, aber ich arbeite aus freien Stücken für die Untoten. Doch wie du versuchst mich zu ärgern, finde ich einfach köstlich. Bist nicht auf den Mund gefallen, was? Schlagfertig und frech, vorlaut, vorwitzig und von sich selbst überzeugt. Diese Runde kann ja einfach werden, Auserwählter."
"Dass du dich da nicht täuschst, Dagora!"
Riyonn schwang auffordernd seinen Lyk-tai.
"Lass uns beginnen!"
In Riyonns Augen erschien ein kleiner Funke, der die düstere Kampfeslust des schwarzen Stroms mit sich trug. Der Dagora versetzte sich nun selbst in Rage und begann den Kampf. Doch Riyonn wich dem gekreuzten Doppelschlag der Katanas geschickt aus und verletzte Kil`Yaeden am Bein. Yaeden wich erstaunt zurück, holte aber kurz darauf wieder zum Gegenschlag aus. Wendig und agil glitt sein geflügelter Körper durch die Schwärze. Riyonn jedoch wich den Schlägen auch dieses Mal so geschickt aus, dass es dem Dagora nicht gelang ihn zu verletzen. Obendrein verpasste Riyonn ihm einen zweiten Schnitt in den muskulösen Oberschenkel.
"Verdammter Mensch!", brüllte dieser auf und hielt sich die blutende Wunde, wobei er eine Katana aus der Hand warf. Wütend aufschnaubend fuhr der Dämon hoch.
"Du hast es nicht anders gewollt!"
Der Dagora murmelte einige Wörter und plötzlich umgab Riyonn ein wildes Meer, das schäumte und Gischt spritzte unter den hohen gewaltigen Wellen. Riyonn rang nach Luft und versuchte sich dauernd an die Oberfläche zu kämpfen, doch sein Lyk-tai und seine Kleider erschwerten jede Bewegung.
Schließlich streifte er die Waffe ab, doch es half nichts. Eine große Welle überspülte ihn und presste Riyonn tief unter Wasser. Riyonn nahm noch einmal seine letzten Kräfte zusammen und kämpfte sich nach oben. Aber er erreichte die Wasseroberfläche nicht mehr. Der Druck einer weiteren Welle versetzte ihn wieder tiefer. Seine Luft war zu knapp. Er hatte keine Chance mehr, würde wohl ertrinken. Panik stieg auf, er zappelte. Sein Kopf lief rot an. Dieses Mal würde er sterben.
Riyonn spürte einen großen Druck auf der Lunge und in seinem Kopf. Aber wollte er so aufgeben, wollte er einfach loslassen? Er konnte es nicht. Selbst wenn er es wollte. Das dunkle Etwas in ihm verbot es. Völlig konzentriert auf seine Bewegungen, obgleich er auch keine Kraft mehr hatte, nahm er erneut den Kampf gegen das Wasser auf.
Auf einmal wurde ihm warm. Der Strom war wieder voll da, dieser warme Strom, der ihn auch im Kampf mit Don Diaven durchflossen hatte, zusammen mit einer beklemmenden finsteren Faust die sich um sein Herz zu legen schien. Ein grelles rotes Feuer umgab ihn plötzlich und brachte Riyonn sicher an die Oberfläche.
Kil`Yaeden erschrak.
"Du... du... verdammt!"
Riyonn konnte sich die Sache nicht erklären. Wahrscheinlich brachte ihm dieser Strom eine Art Magiefähigkeit mit. Aber befehlen konnte er dem Feuer anscheinend nicht. Riyonn merkte, wie das Wasser verschwand.
Wieder auf festem Boden, griff der Dieb sofort nach seinem Lyk-tai und ehe der Dagora wusste wie ihm geschah, steckte die Waffe in Kil`Yaedens Brust. Der Dagora blickte starr vor Erstaunen auf den Griff der Waffe und kippte vornüber zu Boden.
Bevor Riyonn sich vom Sieg überzeugen konnte, erfasste ihn eine unsichtbare Kraft und zog ihn zu dem Ort mit der Farblosigkeit, an der es diese zwei Türen gab. Doch dieses Mal war die zweite nicht rot, sondern dunkelblau. Erleichtert wählte Riyonn die blaue und schloss die Augen.

* * *

Riyonn schlug die Augen auf. Noch spürte er die Erhitzung vom Kampf mit dem Wasser und Kil`Yaeden in seinem Körper.
Nachdem sich sein Puls schließlich wieder einigermaßen normalisiert hatte, begann Riyonn um sich zu sehen. Von dem heftigen Wolkenbruch war nun nur noch ein leichter Nieselregen zurückgeblieben und auch die feuchte aufgeweichte Erde deutete auf das Unwetter zurück.
Plötzlich schreckte er herum. Ninelives kam fröhlich wiehernd den Pfad des Karachme hinaufgetrabt. Auf dem Rücken des Rappen saß die zusammengekauerte Imogen. Wai führte sein Pferd an den Zügeln. Mit erleichterten Mienen steuerten die drei auf Riyonn zu.
"Hier!" Wai streckte Riyonn ein zusammengefaltetes Papier entgegen. "Das ist der Brief dieses Gerjyho-Zura. Imogen war der Ansicht, er könnte uns noch von Nutzen sein, wobei sie bei dem Versuch, den Brief und noch so ein paar andere Dinge aus Zorans Haus zu retten, fast ertrunken wäre."
Riyonn nickte und klemmte sich das fast völlig trocken gebliebene Papier hinter den Gürtel. 
"Ich wusste schon immer, dass sie verrückt ist..."
"Danke... warum bist du eigentlich hier oben geblieben? Ich habe mir Sorgen gemacht.", warf Imogen Riyonn mit wütendem Blick vor, der sich aber schnell zu einem strahlenden Lächeln verwandelte.
"Was ist denn in dem Sack?", wunderte sich Riyonn und betrachtete den etwas feucht gewordenen Jutesack, den Imogen krampfhaft mit den Händen festhielt. Daraufhin zog sie drei revolanische Kampfmonturen heraus. Wai grinste.
"Gerade unser Mädchen stellt sich auf Kampf ein."
Des Weiteren waren in dem Sack drei Dolche, Imogens und Wais Lyk-tais, zwei Weidenbogen, Wais Bogen, drei Köcher zum bersten voll mit Pfeilen und drei Kapuzenmäntel der Diebesgilde. 
"Respekt, Schwesterchen!", stieß Riyonn freudig aus und begann sofort sich seinen Teil des Sackinhalts anzukleiden. Wai und Imogen taten es ihm nach.
"Wie sieht es aus in der Stadt?", fragte Riyonn schließlich mit einem Blick auf den Pfad.
"Furchtbar. Die Wassermaßen haben viele Häuser und die Palisade eingerissen und überschwemmt. Zwischen den Trümmern schwimmen einige Leichen. Die Überlebenden sind in den Cios geflüchtet, da er ja höher liegt, als die Stadt. Von Taron hat keiner mehr etwas gesehen. Crazen kommt übrigens nach; er wollte nachsehen, ob noch etwas von seinen Instrumenten übrig geblieben ist." Wai seufzte. "Hier haben wir nichts mehr verloren. Es wäre irrsinnig in Revol Taron zu bleiben. Wir dürfen uns keine Illusionen machen, die Stadt wird niemals wieder existieren. Aber wohin sollen wir gehen? Wir haben keine Wegzehrung und es wächst kaum etwas, weil es so trocken war, und jetzt nach Ragnarök erst recht nicht. In Teras Andum und seinen Dörfern können wir uns nicht blicken lassen und weit kommen wir allein mit Ninelives nicht."
"Wie wäre es mit Kouwah?", schloss sich Imogen dem Gespräch an.
Irritiert und ablehnend starrte Riyonn sie an.
"Bist du verrückt? Die Hauptstadt von Randuin? Dieser Dreckspfuhl steckt voller gewissenlosem Gesindel und Abschaum. Niemals werde ich zulassen, dass du in so eine verruchte Stadt gehst!"
"Das schon.", pflichtete Wai dem aufgebrachten Riyonn bei. "Aber schließlich ist es der einzige Ort, der nah genug liegt und an dem wir uns mit Reittieren und Verpflegung eindecken können."
Imogen schloss sich Wai an und Riyonn fügte sich unter einigen Protesten, die er vor sich hin murmelte.

Bald sah die Gruppe Crazen heranschnaufen. Er winkte ihnen schon von weitem zu.
"Also denn, auf nach Kouwah!", meinte Imogen lächelnd, riss Ninelives` Zügel an sich und trieb den Rappen zu einem leichten Trab an. Wai und Riyonn folgten zu Fuß. Crazen schloss sich verwirrt hinten an, als der Trupp an ihm vorbeikam.
"Wohin geht es jetzt?", wandte er sich an Riyonn, während er versuchte mit dem gestiegenen Tempo mitzuhalten.
"Nach Kouwah!"
"Aha!"
Schließlich waren sie am Fuße des Karachme angelangt und vor ihnen lag das überschwemmte Tal der Stadt Revol Taron. In dem von den hineintropfenden Nieselregen bewegten Wasser spiegelte sich die abendrote Sonne. Die Blicke, sofern es ging, von den Leichen abgewandt, suchten sie sich einen Weg über die Trümmer auf die andere Seite des Tals. Dort stieg das Kmihon-Gebirge wieder an und die Gruppe bewegte sich über einen steilen und rutschigen Gebirgspfad vorwärts.
Bald bog der Pfad nach rechts auf die Handelsstraße nach Kouwah ein. Zu beiden Seiten der steinernen Straße erhob sich ein düsterer Wald, der Cargranogg, Finsternis, der so genannt wurde, weil er einige finstere Wesen in seinem nachtdunklen Innern verbarg, mehr als der Cios es jemals könnte. Man munkelte um ganze Orcstämme, die ihre Lager unter dem dichten Blätterdach versteckt hielten. 

Schließlich war die Nacht hereingebrochen und die Gruppe ging zum Lagern ein Stück in den Wald hinein. Einige Zeit darauf saßen sie alle, mit Ausnahme von Ninelives, der an einer alten Birke angebunden stand, um ein Feuer herum und aßen das gebratene Fleisch eines zu unvorsichtig gewesenen Rehs.
"Er war wirklich da.", sagte Riyonn und starrte gen Himmel.
"Wer?", wunderte sich Crazen, der gerade sein fünftes Stück Fleisch von dem Reh abschnitt und auf seinem Dolch aufgespießt davon genüsslich abbiss.
"Kil`Yaeden.", antwortete Riyonn.
Wai drehte sich erstaunt zu Riyonn um.
"Du hast also wirklich gegen den zweiten Dagora gekämpft?"
Riyonn nickte.
"Es war schwerer als ich es mir vorgestellt hatte. Anfangs dachte ich, jetzt, nachdem ich Don Diaven schon besiegt hatte, wäre ich erfahrener und stärker geworden. Aber das stimmte nicht und außerdem war die Macht dieses Dagora um einiges größer. Ich konnte ihn nur mit knapper Not besiegen... wegen einem Feuer, das mich im letzten Augenblick vor dem Ertrinken errettete. Danach konnte ich dem erstaunten Dagora einfach noch den Lyk-tai in die Brust rammen. Aber alles war so knapp... zu knapp. Der nächste wird wieder stärker sein."
"Warum greifen die Dagoras eigentlich bloß dich an?", wollte Imogen wissen.
Riyonn zuckte die Schultern.
"Vielleicht bist du nur ein anderes Mal an der Reihe, oder es lag daran, dass wir nicht zusammen waren, als die Dagoras kamen."
"Jedenfalls...", unterbrach Crazen das Gespräch über die Dagoras, von dem er offensichtlich kaum etwas verstanden hatte, "sollten wir jetzt allmählich schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag."
Erwartungsvoll blickte er mit seinen blauen Augen in die Runde.
"Crazen hat Recht. Gute Nacht!", stimmte Wai müde gähnend zu.
Auch Imogen und Riyonn zeigten sich einverstanden und legten sich ebenfalls, in ihre Mäntel gehüllt, auf den vom Regen halbwegs trocken gebliebenen Waldboden nieder, um zu schlafen.

* * *

Riyonn sah eine große finstere Halle. Zu beiden Seiten des langen Mittelganges erhoben sich blutrote Säulen zur Decke. Am Ende thronte ein schwarzer Altar, um den sich eine Schar Kapuzenmänner zu Boden warfen. Auf dem Altar war ein dunkelhaariger Junge, der schreckensbleich zitterte, mit einem roten Seil festgebunden. Hinter dem Altar jedoch war ein großer schwarzer Thron, in dessen Lehnen grässliche Bestien eingemeißelt worden waren. Darauf saß ein  blasses, schier weißhäutiges Mädchen, mit schwarzen langen Haaren.
In ihren hellblauen Augen widerspiegelte sich die schwarze Klinge des Dolchs, den sie in beiden Händen hielt und in den Körper des Jungen stieß. Über ihre Wangen liefen Tränen, doch die waren nichts gegen das Blut des Jungen, das den Altar hinunter in eine eiserne Rinne floss, wo es sich sammelte. Während die schwarzen Kapuzenmänner vor dem blutüberlaufenen Altar mit ihren Händen das Blut aus der Rinne schöpften und es tranken, erschien aus dem Schatten hinter dem Thron des Mädchens ein weiterer Mann in schwarzem Kapuzenmantel, der aber eine rote Zeichnung auf der Brust trug. Über sein leichengraues Gesicht zog sich ein grausames Lächeln. Plötzlich sah der Mann auf und Riyonn spürte seinen fürchterlichen Blick auf sich lasten. Die Pupillen der gelb leuchtenden Augen des Manns zogen sich zu Schlitzen zusammen.
Das Mädchen auf dem Thron zitterte und immer noch liefen ihr Tränen über die Wangen. Ihr langes schwarzes Haar glänzte matt im Feuerschein einer Fackel und der einzigen Beleuchtung der Halle.
"Geh!", flüsterte sie mit einem zaghaften Schluchzen.
Das Echo der Halle trug ihr Flüstern durch die Stille bis zu Riyonn. Doch Riyonn konnte sich nicht rühren. Der Blick des Mannes schien ihn festzuklammern.
Der Schein der Fackel fiel auf die Wand hinter dem Thron. Auf ihr war ein großes blutrotes Auge gemalt, von dessen Rändern sich Tropfen lösten.
Der Mann neben dem Mädchen ging vor zum Altar, schob die Leiche des Jungen mit der Schuhspitze hinunter und stieg auf ihn. Er formte mit seinen Händen das blutende Auge nach und sprach gleichzeitig mit den anderen Kapuzenmännern ein Wort aus. Daraufhin löste sich aus dem Zwischenraum seiner Hände ein schwarzer Strahl, der auf Riyonn zuschoss.
Die Schwärze des Strahls traf ihn mitten in die Seele, fraß sich brennend heiß und eiskalt hindurch bis in Riyonns tiefstes Inneres, wo es am Meisten schmerzte. Riyonn begann zu keuchen, ihm blieb die Luft weg, seine Zunge war staubtrocken, seine Hände wie gefroren und ein Todesstrom floss in ihm hinauf. Die Kapuzenmänner verschwammen vor seinen Augen. Er hörte nur noch ihre unheimliche Stimmen und in seinen Ohren schallen und ein unheimliches quälendes Summen. Sie sprachen: "Apokalypse!"

* * *

Riyonn schreckte hoch.
Alles nur ein Traum, beruhigte er sich.
Doch ihm war es, als ob er die Schmerzen des schwarzen Strahls noch spürte, ein rhythmisches Beben seiner Muskeln das mit einem stechenden heißkalten Schmerz verbunden war.
Um ihn herum war es noch Nacht. Durch eine lichte Stelle des Blätterdachs des Waldes konnte er den hellen Vollmond erkennen.
Auf einmal beschlich ihn ein seltsames Gefühl, als ob irgendetwas nicht stimmte. Schließlich stand er auf. Aus Ninelives Richtung hörte er ein unruhiges Schnauben.
Er spürt es auch, dachte Riyonn beklommen.
"Ruhig, Ninelives!", flüsterte er und versuchte die Stellen ausfindig zu machen, wo die anderen lagen, ohne dabei auf sie zu treten. Da das Feuer herab gebrannt war, war es beinahe stockdunkel.
"Riyonn?"
Riyonn erschrak.
"Wai? Du bist auch wach?"
"Ja!"
"Ich auch.", ließ sich Imogen vernehmen.
Crazen brummelte nur ein schwer verständliches: "Na toll!"
"Schön. Dann sind wir ja alle wach. Fragt sich nur, warum.", stellte Riyonn fest.
Instinktiv griff er nach seinem Lyk-tai und spähte in die Finsternis. Auch Wai zog den Kampfsäbel, Imogen fühlte sich bei erhobener Waffe ebenfalls sicherer und Crazen hatte vorsichtshalber seine Hände an den Griff des Doppelklingenschwerts gelegt. Wie auf Befehl hin stand die Gruppe in einen Kreis, mit erhobenen Waffen nach außen. Kaum dass sie sich so formiert hatten, schall ein lautes Brüllen durch die nächtliche Stille.
"Orcs!", flüsterte Wai den anderen zu, ließ seinen eigenen Schrecken dabei aber nicht bemerkbar werden.
Plötzlich waren sie umringt von einer Horde großer mit Äxten bewaffneter Orcs. Riyonn, Imogen, Crazen und Wai schlossen ihre menschliche Barriere in den letzten Lücken. Sie wehrten die Schläge ab, so gut sie konnten.
Doch die Masse an Orcs, die nach und nach jedes freie Stück Boden um die Gruppe eingenommen hatten und auf die Barriere einschlugen, wurde schließlich zu groß.
"Das überleben wir niemals!", schrie Imogen und hieb kraftvoll einem Orc den Oberleib ab. Bald verloren die Schläge der Gruppe an Kraft.
"Macht, dass ihr davonkommt!", rief Crazen plötzlich wild entschlossen den anderen zu und spaltete einem Angreifer den Schädel. "Ich halte euch den Rücken frei!"
Noch unsicher versuchten Wai, Riyonn und Imogen sich den Weg durch die Orcs zu bahnen, während Crazen die Orcs hinter ihnen in die Hölle schickte. Ninelives, der ängstlich wiehernd an seinen Zügeln riss, wurde von Wai eiligst losgebunden, der sogleich auch auf den Rücken des Tiers schwang.
"Riyonn, Imogen, springt auf!", rief er mit befehlerischem Ton. Riyonn folgte der Aufforderung sofort, Imogen aber zögerte.
"Was ist mit Crazen?"
Crazen, der gerade einen der Angreifer außer Gefecht gesetzt hatte, rannte schnell zu den dreien. 
"Ihr müsst jetzt verschwinden!"
"Nicht ohne dich!", protestierte Imogen. Crazen schüttelte hastig den Kopf und umarmte Imogen. 
"Wir werden uns eines Tages wiedersehen!", flüsterte er ihr ins Ohr, bevor er sie Wai hinauf hielt, gerade aus dem Ziel einer Orcaxt hinaus.
"Haut ab!", schrie Crazen ihnen zu, der hinter Ninelives schon wieder reihenweise Orcs zu Fall brachte. Seine Augen wirkten etwas glasig.
"Wahrscheinlich im Himmel, Imogen, dort werden wir uns wiedersehen!", sagte er klanglos und wandte sich von der Gruppe ab. Entschlossen trat er der Meute entgegen und versperrte den Bestien das Durchkommen zu Ninelives.
Wai trieb Ninelives zum Galopp an und dieser preschte, trotz der hohen Gewichtszufuhr auf seinem Rücken, schnell aus der Orcmasse heraus und, obwohl nachts, sicher über Wurzel und Stein zwischen den Bäumen hindurch durch den Wald.
Alle schwiegen und Imogen liefen stumme Tränen über die Wangen, die einzigen, die den tiefen Schmerz ihrer Seele zeigten.
Bald wurde Ninelives langsamer. Er atmete keuchend, doch vor ihnen war der Wald zu Ende und der Blick war frei auf die Handelsstraße nach Kouwah.
"Wir müssen sofort zurück!", begehrte Imogen auf.
"Wir können ihm nicht mehr helfen Imogen, Crazen ist tot!", entgegnete Wai erregt.
"Woher willst du das wissen? Vielleicht braucht er unsere Hilfe!", sagte Imogen wütend.
Wai schüttelte energisch den Kopf.
"Er ist tot, verdammt. Was glaubst du, weshalb er sich geopfert hat? - weil es ausweglos war! Er musste die Orcs ablenken damit wir überleben können!"
"Das ist nicht wahr! Du warst doch nur zu feige!"
"Ach ja? Zu feige? Ich hätte auch an seiner Stelle sterben können!"
"Und das wäre mir tausendmal lieber gewesen, General Lonn!"
Wai holte wütend Luft.
"Du machst dir wohl besonders viel aus Crazen. Aber soll ich dir sagen, weshalb er das getan hat? Er fühlte sich schuldig, weil er die Stadt nicht vor Ragnarök hat bewahren können! Nun wollte er wenigstens uns retten. Ihm war sein Leben nichts mehr wert. Ich nicht, Riyonn nicht und du erst Recht nicht!"
Imogen stiegen wieder Tränen in die Augen. Wortlos schlug sie Wai auf die Wange.
Wie erstarrt blieb Wai stehen, während Imogen sich in ihren Mantel hüllte und auf den Boden am Straßenrand zum Schlafen legte.
Riyonn, unschlüssig, wie er reagieren sollte, legte sich ebenfalls schlafen.
Allein Wai blieb stehen. Er fühlte sich verlassen, gehasst und begann in ein tiefes Depressionsloch zu versinken. Genauso hatte er sich beim Tod seines Vaters gefühlt. War Imogen nun für ihn auch gestorben?
 

© Itariss
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Und schon geht es weiter zum 8. Kapitel: Kouwah

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