Das Tor zwischen den Welten von Klaus-Peter Behrens
I. Kapitel: Eine unfreiwillige Reise

- 1 -

"Verdammt, warum tue ich mir das bloß an?" Wohl zum hundertsten Mal hatte sich Tom heute diese Frage gestellt, und zum hundertsten Mal fiel ihm keine Antwort ein. Während er auf dem rutschigen Pfad seinem Freund Dean immer tiefer in die unzugänglichste Region der Rocky Mountains folgte, dachte er an den verhängnisvollen Tag zurück, an dem Dean ihm von seiner Wanderidee für die Semesterferien erzählt hatte. Abenteuer, eine sportliche Herausforderung und Lagerfeuerabende in Begleitung attraktiver Wanderinnen hatte er ihm immer wieder versprochen, bis Tom schließlich zugestimmt hatte, ihn zu begleiten. Leider hatte Tom jedoch schnell feststellen müssen, dass die Realität ganz anders aussah. Den einzigen Hinweis darauf, dass sie nicht völlig allein in dieser verlassenen Gegend unterwegs waren, hatte eine Bärenfährte geliefert. "Ein Grizzly", hatte Dean ihm mit der Begeisterung, die man wohl nur als angehender Biologe empfinden kann, mitgeteilt. Doch Tom, der Wirtschaftswissenschaften studierte, hatte die Euphorie seines Freundes nicht teilen können. Die Aussicht, das ohnehin schon enge Zelt, das seiner Ansicht nach noch nicht einmal die Norm für Hundehütten erfüllte, auch noch mit einem Bären zu teilen, hatte nicht dazu beigetragen, seine Stimmung zu heben. Als es dann auch noch angefangen hatte zu regnen, war seine Stimmung endgültig auf dem Tiefpunkt angelangt. Womit hatte er das nur verdient? Seiner Ansicht nach war Deans kleiner Wandertrip inzwischen zu einer Expedition ausgeartet, die den Vergleich mit der von Dr. Livingstone nicht zu scheuen brauchte. Er hoffte nur, dass sie sich nicht in die Fußstapfen des Doktors treten würden, denn in dieser abgelegenen Gegend würde sie vermutlich keiner suchen, geschweige denn finden. Sein Blick fiel auf die steile, zerklüftete Bergflanke zu ihrer Rechten, die bedrohlich wie eine feindliche Festung über ihnen aufragte. Die tiefschwarze Gewitterfront, die über den Bergkamm quoll, ließ das Schlimmste befürchten. Entsprechend mißmutig drehte er den Lautstärkeregler seines tragbaren CD-Spielers auf, während er sich nicht zum ersten Mal fragte, woher der weit voraus schreitende Dean seine Unbekümmertheit nahm. Doch da täuschte er sich. Dean hatte schon vor einiger Zeit mit Besorgnis das heraufziehende Unwetter bemerkt. Eine Weile hatte er noch gehofft, dass sich die Wolken in der höher liegenden Bergregion entladen würden, doch der Wind trieb sie unbarmherzig den Berg hinab. Es war daher dringend an der Zeit, einen geeigneten und vor allem geschützten Lagerplatz ausfindig zu machen, zumal die Dämmerung bevorstand. Unschlüssig blieb er stehen und sah sich um. Weiter hinten konnte er eine kleine Lichtung ausmachen. Die Bäume sahen stabil aus und würden zumindest ein wenig Schutz vor dem Unwetter bieten. Nun mußte er nur noch Tom davon überzeugen. Die HipHop Klänge, die mit gnadenloser Dezibelzahl aus den Kopfhörern erklangen, verkündeten Dean, auch ohne sich umzudrehen, dass Tom ihn inzwischen eingeholt hatte. Mit ausgestrecktem Arm wies Dean daraufhin auf die schützende Lichtung. "Wir sollten unser Zelt dort hinten aufbauen, einen besseren Platz werden wir heute kaum noch finden", schrie er aus Leibeskräften, um eine realistische Chance gegen die HipHop Klänge zu haben. Tom, der kein Wort verstanden hatte, stellte widerwillig den CD-Player leiser. 
"Was ist?", knurrte er ungehalten. Dean wiederholte seinen Vorschlag. "Das Unwetter wird uns in Kürze einholen", fügte er hinzu. Wie zur Bestätigung riß ihm ein heftiger Windstoß die Kapuze vom Kopf. Tom nickte. "Der erste vernünftige Vorschlag heute." Die kleine Lichtung entsprach zwar kaum seinen Vorstellungen von einem Zeltplatz, aber auch damit hatte er sich inzwischen abgefunden. Die Plätze, die Dean in den letzten Tagen ausgesucht hatte, waren allesamt keine Highlights gewesen. Resigniert half er, das "Zelt", das lediglich aus zwei je einen Meter dreißig hohen Stangen sowie einer Plane bestand, aufzubauen und folgte dann völlig durchnäßt seinem Freund unter die im Wind bedenklich hin und her schlagende Zeltplane. Kaum hatten sie es sich einigermaßen bequem gemacht, zog Dean auch schon zwei Dosen aus alten Armybeständen aus den Tiefen seines Rucksackes hervor. Routiniert öffnete er sie, worauf Tom angeekelt das Gesicht verzog. An den glibberigen Inhalt würde er sich wohl nie gewöhnen. "Kein Wunder, dass die Army ständig neue Leute braucht", grummelte er vor sich hin. "Wer das ißt, wird nicht alt." Leider schien sein Magen, der laut vernehmlich knurrte, diese Einschätzung nicht zu teilen und so würgte Tom widerwillig die fragwürdige Substanz hinunter. 
"Vergiß nicht, deine Dose hier hinein zu stecken, wenn du fertig bist", ermahnte ihn Dean, der seine Portion schon vertilgt hatte und die Überreste gerade in einem geruchssicheren Müllbeutel verstaute. "Wir wollen schließlich keine Bären anlocken." Tom war sich zwar sicher, dass jeder vernünftige Bär bei diesem Wetter ohnehin keine Tatze vor die Höhle setzen und sich im übrigen sofort beim Tierschutzverein beschweren würde, falls es jemand wagen sollte, ihm dies zum Fressen anzubieten, trotzdem tat er Dean den Gefallen. Er war einfach zu müde, um zu widersprechen. 
"Na ja, noch schlimmer kann es ja eigentlich nicht werden", dachte er, als sie sich schließlich schlafen legten. Doch er sollte sich irren.

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- 2 -

Ein Donnerschlag weckte Tom mitten in der Nacht auf. Gerade noch hatte er von den sonnigen Gestaden Floridas geträumt, um nun, aus dem Schlaf gerissen, mit dem Schrecken eines tobenden Unwetters konfrontiert zu werden. Das Erste, was er verschlafen registrierte, war, dass er die nachtschwarzen Gewitterwolken sehen konnte und ihm der Regen mit geradezu bösartiger Heftigkeit mitten ins Gesicht klatschte. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm schlaftrunken die Erkenntnis kam, dass sich über ihm eigentlich eine Zeltplane befinden sollte, eine nasse, tropfende zwar, aber immerhin ein Plane. Doch die war definitiv verschwunden. Fluchend setzte er sich auf und rüttelte den tief schlafenden Dean wach.
"Sieht so aus, als hätte sich dein Pfadfinderzelt auf den Weg gemacht!", rief er ihm über das Heulen des Sturms hinweg zu. Erschrocken fuhr der hoch.
"Verdammt, das fehlt uns noch." Blinzelnd sah er sich um. Viel war nicht zu erkennen. "Schalte doch endlich die Taschenlampe ein", forderte er Tom  auf.
"Dazu müßte ich sie erst einmal finden!" Ärgerlich wühlte Tom zwischen ihren durchnäßten Sachen. Einen Augenblick später durchdrang ein Lichtstrahl die Dunkelheit. Leider half das aber auch nicht weiter. Von ihrem Zelt war weit und breit nichts zu sehen.
"Ist wahrscheinlich schon auf halbem Weg nach Miami", mutmaßte er.
"Sehr witzig. Was sollen wir denn jetzt machen?"
"Im Fundbüro nachfragen", antwortete Tom zynisch, während er sich mühsam aus dem klatschnassen Schlafsack quälte. Dean sah ihn verständnislos an. Manchmal war er sich nicht sicher, ob sein Freund es nun ernst meinte oder nicht. Tom sah ihn mitleidig an, während er seinen Schlafsack zusammenrollte.
"Wir suchen uns einen Unterschlupf, was denn sonst?", erklärte er ungehalten. "Hier bleibe ich jedenfalls nicht. Am besten probieren wir es bei der Felswand. Vielleicht gibt es dort eine Nische zum Unterstellen."
Dean bezweifelte das zwar, angesichts der steilen Bergwand, die selbst für Profibergsteiger bei diesem Wetter eine echte Herausforderung gewesen wäre, stimmte mangels Alternative aber zu. Eilig half er, ihre Sachen zusammenzupacken. Kurze Zeit später folgte er seinem Freund durch die Dunkelheit. Während sie sich durch das unwegsame Gelände auf die düster aufragende Wand zubewegten, bereute Dean schon bald, auf Toms Vorschlag eingegangen zu sein; denn das Vorwärtskommen erwies sich als alles andere als ein Spaziergang. Der Lichtfinger der Taschenlampe kam kaum gegen den dichten  Regenvorhang an, so dass sie immer wieder stolperten oder an widerspenstigen Ästen hängenblieben, was ihre Laune nicht gerade verbesserte. Als sie schließlich erschöpft die Felswand erreichten, mußte Dean auch noch enttäuscht feststellen, dass seine Zweifel berechtigt gewesen waren. Ein Unterstand war nirgends in Sicht.
"Na prima!" Frustriert wischte er sich die klatschnassen Haare aus dem Gesicht, während er die abweisende Felswand musterte. "Das war ja ein großartiger Vorschlag. Warum höre ich bloß immer auf dich?"
"Weil ich die besseren Ideen habe", entgegnete Tom spöttisch und ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe die steile Bergflanke entlang wandern. Nur nackter, glatter Fels war zu erkennen. Jenseits des Lichtstrahls zeichnete sich die Bergwand nur noch schemenhaft gegen den regenverhangenen Nachthimmel ab. Falls möglich, war das Unwetter noch schlimmer geworden. Irgendwie überraschte das Tom nicht. Dean sah ihn hilflos an.
"Und was schlägst du nun vor? Sollen wir ein Loch graben?", fragte er. Tom lachte.
"Keine schlechte Idee, aber ich denke, es wird genügen, wenn wir einfach nur dem Verlauf der Bergwand folgen. Früher oder später werden wir schon auf eine geeignete Nische stoßen, vertrau mir", versuchte er, Optimismus zu verbreiten.
"Wahrscheinlich eher später", unkte Dean, doch Tom ließ sich nicht beirren und kämpfte sich schon wieder durch das dichte Unterholz. Dean folgte  seufzend. Wie von ihm erwartet, verlief die Suche zunächst ergebnislos. Die Felswand blieb glatt und abweisend. Doch gerade, als Dean sich zu fragen begann, ob diese Odyssee nie ein Ende nehmen würde, blieb Tom plötzlich stehen und richtete den Lichtstrahl auf ein etwa sechs Meter über dem Boden liegendes Loch im Fels. Dean war entsetzt. 
"Wie sollen wir denn da hinaufkommen?" In Gedanken fragte er sich, ob seine Krankenversicherung für die Folgen eines leichtfertig herbeigeführten Absturzes aufkommen würde.
"Ganz einfach, du stützt mich ab, bis ich den kleinen Vorsprung dort oben erreicht habe. Ich ziehe dich dann hoch. Wenn wir das erst geschafft haben, ist der Rest ein Kinderspiel", erklärte Tom. 
Dean hatte zwar starke Bedenken, auf der anderen Seite war die Aussicht, im Unwetter stehen zu bleiben, auch nicht gerade verlockend. Außerdem könnte so eine Höhle ja auch ganz interessant sein. Seufzend willigte er ein.
"Na schön, aber paß auf, dass du mir nicht ins Gesicht trittst."
Wie von ihm befürchtet, war die Kletterpartie nicht ansatzweise so leicht, wie Tom es sich vorgestellt hatte. Immer wieder rutschten sie ab und es kam einem Wunder gleich, dass sie sich keine ernsthaften Verletzungen zuzogen. Die größte Enttäuschung erwartete sie jedoch, als sie schließlich ermattet oben angelangten. Die vermeintliche Höhle entpuppte sich lediglich als schmaler Gang, bei dem sich die Decke schon nach wenigen Metern stark senkte und die Wände sich trichterförmig verengten. Zumindest war genug Platz vorhanden, um Schutz vor dem tobenden Unwetter zu haben. Tom rollte sogleich seinen Schlafsack aus und machte es sich so gut es ging bequem. "Laß uns den Rest der Nacht hier verbringen", schlug er müde vor. Das stieß bei Dean, der neugierig die sich stark verengende Röhre musterte, auf wenig Begeisterung. "Aber es geht doch noch weiter", protestierte er.
"Und was soll das bringen? Willst du stecken bleiben?"
"Jedenfalls will ich keine Lungenentzündung bekommen. Hier ist es mir zu feucht und zugig und außerdem bin ich neugierig. Also gib mir bitte die Lampe."
Mißmutig reichte Tom sie ihm und Dean kroch weiter. Seine Neugier war geweckt. Auf Händen und Knien robbte er durch den immer niedriger werdenden Gang, wobei er das Gewicht des riesigen Gebirgsrückens förmlich auf seinen Schultern zu spüren glaubte. Der Schweiß brach ihm bei dem Gedanken aus, dass der Gang einbrechen, oder er tatsächlich steckenbleiben könnte. Doch er hatte Glück. Nach endlos erscheinenden Minuten erweiterte sich der Gang wieder und endete schließlich auf einem Plateau, von dem aus Dean den Ausblick auf eine riesige Höhle hatte. Der Strahl der Taschenlampe reichte kaum aus, um das wahre Ausmaß zu erfassen. Dean war sprachlos. 
"Na, hast du schon Freundschaft mit den Höhlenmenschen geschlossen?", ertönte Toms Stimme spöttisch aus der Ferne und riß ihn aus seiner Faszination.
"Hör auf zu lästern und komm lieber her."
"Wieso, vermieten die dort Zimmer?"
"Nun mach schon, das mußt du sehen", rief Dean ungeduldig.
"OK, OK." Kurze Zeit später betrat nun auch Tom das Plateau und klopfte sich den Staub von den Sachen. Neugierig sah er sich um.
"Wow, gar nicht so übel! Laß uns hinuntersteigen und die Sache näher erkunden", forderte er Dean auf. Der ließ sich das nicht zweimal sagen. Von dem Plateau aus wand sich ein schmaler, steiler, mit feinem Geröll bedeckter Pfad an der Innenwand nach unten, den die Freunde vorsichtig hinunter kletterten. Staubwolken stiegen unter ihren Füßen auf und ließen die Höhle im Licht der Lampe unheimlich erscheinen. Es dauerte eine Weile, bis sie das schwierige Terrain überwunden und den Boden der Höhle erreicht hatten. Diese maß im Durchmesser gute zweihundert Meter und konnte eine Höhe von rund dreißig Metern aufweisen. Diverse Öffnungen waren in unterschiedlichen Höhen zu erkennen und erweckten den Eindruck eines Labyrinths. Tom hätte es nicht verwundert, wenn der Minotaurus in einer der Öffnung erschienen wäre und die Eintrittskarten verlangt hätte.
"Sieht aus, als hätte sich hier die Mutter aller Maulwürfe durchgegraben", bemerkte er trocken. "Läßt das dein Pfadfinderherz nicht höher schlagen?"
"Das schlägt, aber aus anderen Gründen. Ich habe mir erst gestern die Karte angesehen. Eine Höhle war nirgendwo eingetragen, ergo ist sie auch noch nicht entdeckt worden. Wer weiß, was man hier alles finden kann."
"Zum Beispiel alte Zigarettenschachteln", erwiderte Tom, der sich bereits weiter in Richtung Höhlenmitte aufgemacht hatte, während Dean am Fuße des Pfades stehen geblieben war, um das Ausmaß der Höhle auf sich wirken zu lassen.
"Zigarettenschachteln? Wie kommst du denn darauf?"
Demonstrativ leuchtete Tom auf den Höhlenboden, auf dem unübersehbar eine zerknüllte Schachtel lag.
"Sieht aus, als ob ein einsamer Cowboy mit der Vorliebe für eine entsprechende Zigarettenmarke vor uns hier war. Pech, alter Junge, die Höhle ist ein alter Hut."
Dean trat neben Tom und sah irritiert auf die Packung hinunter. "Merkwürdig", murmelte er und betrachtete die rotweiße Schachtel, als könne die ihm die Frage nach dem Sinn des Lebens oder zumindest nach dem Ursprung des Universums beantworten. Doch die dachte gar nicht daran und so folgte Dean etwas enttäuscht seinem Freund zur Höhlenmitte, wo sie auf eine flache, etwa einen Meter hohe und vier Quadratmeter große Felsplatte stießen, die von einer dicken Staubschicht bedeckt war.
"Herzlichen Glückwunsch, du hast eine steinerne Tischtennisplatte entdeckt", witzelte Tom und wischte mit der Hand über die Oberfläche.
"Der Putzfrau würde ich allerdings kündigen."
Dean betrachtete überrascht die freigelegte Stelle. Ohne auf Toms Spott einzugehen, schob er sich an seinem Freund vorbei und fing an, die Platte weiter frei zu wischen. Große Staubwolken stiegen auf und beide husteten heftig. Tom wünschte sich eine Atemmaske.
"Was soll das? Bist du übergeschnappt? Ich ersticke hier fast. Außerdem brauchst du nicht zu putzen, wir haben keine Tischtennisschläger dabei."
"Hör auf Witze zu reißen und sieh dir das lieber an", sagte Dean und wies auf eine Anzahl von Vertiefungen, die nun im Licht der Lampe sichtbar wurden.
"Und? Sieht aus, als hätte sich ein Irrer mit dem Steinmeißel ausgetobt." Dean verzog das Gesicht. "Klar, dass das für dich so aussieht, aber dafür sind diese Vertiefungen viel zu regelmäßig. Sieh dir die Anordnung der kreisrunden Löcher hier, hier, da hinten, dort unten und so weiter doch an. Das hat sicherlich etwas zu bedeuten." Aufgeregt wischte Dean weiter auf der Platte herum. Doch Tom teilte seine Begeisterung nicht.
"Sachte, sachte", ermahnte er ihn, "du kannst dich hier gerne austoben, sobald ich mich irgendwo dahinten zum Schlafen hingelegt habe. Aber halte deine Begeisterungsschreie bitte in Grenzen." 
Dann drehte er sich um und ging auf einen kleinen Felsklotz zu, der etwas weiter entfernt auf dem Boden lag und versuchte, es sich mithilfe seines Rucksackes irgendwie bequem zu machen. Zwar bilden ein Felsklotz und ein klatschnasser Rucksack nicht die Komponenten, aus denen sich ein bequemes Nachtlager fertigen läßt, was Tom jedoch nicht störte. Er war so müde, dass er nach wenigen Sekunden einfach im Sitzen, an den Felsbrocken gelehnt, einschlief. Kurze Zeit später war nur noch sein monotones Schnarchen und Deans Wischen und Kratzen zu vernehmen.

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- 3 -

Zum zweiten Mal in dieser Nacht wurde Tom unsanft aus seinen Träumen gerissen. Diesmal war es keine Naturgewalt, sondern Dean, der ihn wachrüttelte, was aber im Ergebnis auf das Gleiche hinauslief.
"Los wach auf, ich glaube, ich habe etwas entdeckt."
"Laß mich gefälligst schlafen!", murrte Tom ungehalten. Er war überzeugt, dass selbst der Minotaurus ihn sanfter geweckt hätte.
"Du hast genug geschlafen. Steh auf, und sieh dir das an", fuhr Dean ihn an und zog den schlaftrunkenen Tom gnadenlos zu der Steinplatte hinüber.
"Fällt dir etwas auf?"
Mißmutig betrachtete Tom die säuberlich freigewischten Platte.
"Ja, du gibt’s eine prima Putzfrau ab", knurrte er. Dean seufzte verärgert.
"Danke, aber jetzt mal im Ernst, ich glaube, das hier ist eine Karte der Höhle."
"Was du nicht sagst", erwiderte Tom und gähnte ausgiebig. Dean zog die Stirn kraus. "Ein bißchen mehr Begeisterung könnte nicht schaden", beschwerte er sich, während er mit den Fingern über die Vertiefungen der Steinplatte strich. "Wenn du an etwas Rundes denkst, was fällt dir dann ein?", fragte er neugierig. Tom war über den Themenwechsel irritiert.
"Ich glaube nicht, dass du das wissen willst", erwiderte er grinsend.
"Mein Gott, sei doch einmal ernst", wetterte Dean. "Denk an etwas Rundes und den Standort dieser Platte hier. Also, was fällt dir auf?"
Tom sah sich um, dann meinte er gelangweilt:
"Okay, die Höhle scheint rund zu sein."
"Genau, und wenn du dir die kreisförmig angeordneten Löcher ansiehst, kommst du schnell darauf, dass diese möglicherweise die verschiedenen Ausgänge der Höhle wiedergeben. Die kleineren Öffnungen im äußeren Ring wären dann jeweils die Ausgänge der Höhle, die weiter oben liegen; denn vom Betrachterstandpunkt aus, sehen die Ausgänge, die weiter oben sind, kleiner aus, als die, die sich direkt hier unten befinden."
Tom sah seinen Freund zweifelnd an. "Und wozu sollte so eine "Karte", falls es überhaupt eine ist, gut sein?", fragte er skeptisch.
"Es ist eine. Die Anzahl der Vertiefungen und der Ausgänge stimmen überein, was für meine Kartentheorie spricht. Was allerdings ihren Zweck betrifft, habe ich eine höchst interessante Theorie, die sogar dich begeistern wird..." Dean legte den Zeigefinger auf seine Lippen und machte eine künstlerischer Pause, bevor er weitersprach. "Sieh dir das mal genauer an", sagte er und wies auf eine etwas kleinere Vertiefung. Um sie herum waren diverse Verzierungen eingraviert.
"Sieht nach einem frühen Werk Picassos aus", witzelte Tom beim Anblick der seltsamen Zeichen. 
"Du hast genauso viel Phantasie wie ein Kühlschrank! Mensch, überlege doch mal, vielleicht ist das der Eingang zu einer Schatzkammer", sagte Dean enthusiastisch.
"Wahrscheinlich eher zu einer Grabkammer", wandte Tom pessimistisch ein. Doch Dean ließ sich nicht beirren. "Wie auch immer, ich finde, wir sollten uns das einmal ansehen. Irgendetwas haben die Zeichen bestimmt zu bedeuten, und ich würde gerne wissen, was! Also los, der Ausgang liegt dort hinten." Dean ließ den Lichtkegel zu einer bestimmten Öffnung wandern, die ungefähr fünf Meter über dem Boden lag und über einen schmalen Grat an der Höhlenwand zu erreichen war.
"Und woher willst du wissen, dass ausgerechnet der Ausgang der richtige ist?"
"Ganz einfach! Ich habe die Anordnung der Vertiefungen genau mit den Ausgängen dieser Höhle verglichen. Das muß er sein."
Tom seufzte. Die Aussicht auf eine erneute Klettertour behagte ihm gar nicht. Er war müde und der Sinn stand ihm nach allem Möglichen, aber nichts davon hatte mit einer weiteren staubigen Höhle zu tun. Gerne hätte er sich einfach wieder hingelegt. Auf der anderen Seite war ihm aber auch klar, dass Dean dann keine Ruhe geben und an Schlaf nicht mehr zu denken sein würde.
"Na ja, kann vielleicht nicht schaden, sich die Sache einmal anzusehen. Schlafen kann ich später immer noch", stimmte er widerwillig zu.
Kurze Zeit später standen die Freunde vor dem geheimnisvollen Gang. Die Rucksäcke hatten sie vorsorglich mitgenommen.
"Als Entdecker hast du den Vortritt." Tom machte eine einladende Handbewegung. "Aber achte auf die Fallgruben."
"Witzig."
Entschlossen betrat Dean den Gang. Dieser war erheblich höher als der, durch den sie in die Haupthöhle gelangt waren und breit genug, um beiden Freunden nebeneinander Platz zu lassen. Im Lichtstrahl der Lampe schimmerten erstaunlich glatte Wände.
"Sieht aus, als hätte hier jemand nachgeholfen", bemerkte Tom verwundert.
"Ja, das ist viel zu regelmäßig, um natürlichen Ursprungs zu sein", erwiderte Dean aufgeregt. Der Naturwissenschaftler und Forscher in ihm lief auf Hochtouren. Auch Tom mußte sich widerstrebend eingestehen, dass das Ganze ihn allmählich zu interessieren begann. Vielleicht gab es hier ja wirklich etwas Lohnenswertes zu entdecken. Gegen ein paar Kilo Gold hätte er jedenfalls nichts einzuwenden gehabt. Irgendetwas sagte ihm jedoch, dass sie stattdessen nur ein paar verstaubte Mumien finden würden. "Wahrscheinlich die Überreste der letzten Abenteurer, die sich hier verlaufen haben", dachte er zynisch.
Anscheinend hatten die Erbauer beim Entwurf dieses Ganges Ähnliches im Sinn gehabt; denn nach ein paar Minuten beherzten Ausschreitens erlebten die Freunde eine böse Überraschung. 
"Mist, eine Gabelung! Das hatte ich allerdings nicht erwartet."
Unschlüssig blieb Dean stehen. Der Lichtstrahl der Lampe erhellte einen Gang, der rechts abzweigte. Nichts unterschied ihn von dem, in dem sie sich im Moment befanden. Auch Tom war enttäuscht. Eine Schatztruhe mit der Aufschrift "Bitte öffnen" wäre ihm auch lieber gewesen.
"Und was sagt deine enträtselte Landkarte für diese Situation? Erster Gang rechts, zweiter links, dann vor der großen Fallgrube wieder links abbiegen oder so etwas in der Richtung?"
"Leider nichts", erwiderte Dean. "Ich schlage vor, wir erkunden einfach systematisch jede Abzweigung, bis wir etwas entdecken."
"Na, das kann dauern", stöhnte Tom. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Höhle demnächst wenigstens zwei Mumien zu verzeichnen hätte, war seiner Meinung nach gerade sprunghaft angestiegen. Murrend folgte er Dean, der in seinem Enthusiasmus immer noch nicht zu bremsen war. Nachdem sich die Abzweigung, ebenso wie drei weitere, jedoch als Sackgasse erwiesen hatten, war auch dessen Begeisterung spürbar gedämpft. Als schließlich sogar der Hauptgang endete, hatte sich auch der letzte Rest Optimismus endgültig verabschiedet. Enttäuscht lehnte sich Dean gegen die Höhlenwand.
"Ich verstehe das einfach nicht. Alle Gänge enden in einer Sackgasse. Was macht das für einen Sinn, so etwas anzulegen oder auszubauen, wenn ...?"
"Warte mal!", unterbrach Tom ihn überrascht. Im Licht der Taschenlampe hatte er etwas entdeckt. "Nun sieh dir das an. Unser Cowboy war auch schon hier", sagte er und leuchtete auf den Boden. Direkt an der Wand, am Ende des Ganges, war ein kleiner Teil einer weiteren Zigarettenpackung zu erkennen. Dean ging hinüber und bückte sich, um sie aufzuheben, doch die Packung war eingeklemmt.
"Das glaube ich nicht! Die sitzt fest. Wie geht das denn?"
Tom betrachtete kritisch den Fels. "Sieht so aus, als ob sich diese Wand irgendwie verschieben läßt", mutmaßte er.
"Du meinst, diese Wand ist eine Art Tür?" Ungläubig musterte Dean den Fels. Die Wand war ungefähr drei Meter breit, gute zwei Meter hoch und schien aus massiven Gestein zu bestehen. Nichts wies darauf hin, dass sie sich bewegen lassen könnte. Mit aller Kraft stemmte er sich dagegen, doch der Fels gab keinen Millimeter nach.
"Bist du sicher?", fragte er keuchend.
"Klar, irgendwo muß es hier so etwas, wie einen Schalter geben", überlegte Tom und begann, die Gangwände abzusuchen. Doch auch eine halbe Stunde intensiver Suche, brachte sie dem Geheimnis keinen Schritt näher. Verärgert trat Tom gegen die Wand.
"Beruhige dich, es muß eine Lösung geben", versuchte Dean ihn aufzumuntern. "Die Tatsache, dass die Schachtel unter dem Stein liegt, zeigt doch, dass unser Vorgänger den Weg gefunden hat. Vielleicht ist er sogar immer noch dahinter eingesperrt."
"Dann wird er sich ja mächtig freuen, uns zu sehen", spottete Tom. Dean grinste. "Laß uns noch einmal zurück zur letzten Gabelung gehen. Vielleicht kommen wir dort weiter", schlug er vor. Kurze Zeit später standen die Freunde an besagter Stelle und wieder war es Tom, der etwas entdeckte. 
"Ich habe mir deine Gravierungen zwar nicht so genau angesehen, aber das hier sieht so ähnlich aus", sagte er und zeigte auf eine lange Reihe von winzigen Vertiefungen, Zeichen und Kerben. Bei exaktem Hinsehen stellten die Freunde fest, dass sich unterhalb dieser Reihe eine Spalte befand, die eine Fläche von circa einmetersechzig im Quadrat umrahmte.
"Was hältst du davon?", fragte Dean.
"Erinnert mich an meine Computerspiele", gab Tom zurück. "Vielleicht muß man hier auch nur kräftig drücken, um hinter das Geheimnis zu kommen." Dean hatte zwar seine Zweifel an dieser unwissenschaftlichen Theorie, trotzdem stemmte er sich gemeinsam mit Tom gegen die Fläche und zu seinem Erstaunen, ließ sich diese relativ problemlos ein Stück nach innen verschieben. Ermutigt schoben die Freunde gebückt weiter, bis auf der linken Seite eine kleine Kammer in ihr Blickfeld rückte, an deren Rückwand sich ein schlichter Hebel befand. "Und was nun?", fragte Dean.
"Na was schon, wir ziehen dran und sehen, was passiert. Genau wie in den Computerspielen." 
"Aber hier kannst du dir kein neues Leben herunterladen, wenn es daneben geht", wandte Dean vorsichtig ein.
"Angsthase!" Tom packte den Hebel und zog ihn nach unten.  "Das war’s."
"Scheint nichts gebracht zu haben", erwiderte Dean, doch plötzlich zuckte er erschrocken zusammen. "Spürst du das auch", fragte er beunruhigt und musterte mißtrauisch den Boden. 
"Ja, der Boden vibriert." Ein tiefes Summen stellte sich zusätzlich ein, begleitet von einem kratzenden Geräusch. Gleichzeitig fuhr der Steinblock langsam wieder in seine Ausgangsposition zurück.
"Sesam, öffne dich", sagte Tom und grinste Dean an. "Frauen, Kinder und Dean bitte hinten anstellen."
Aufgeregt rannten die beiden daraufhin den Gang entlang, doch als sie um die letzte Biegung kamen, blieben sie abrupt stehen. Die Felswand am Gangende war verschwunden! An ihrer Stelle befand sich nun ein rabenschwarzes Loch, das an den Rändern fluoreszierend grün leuchtete und den Eindruck ständiger Rotation vermittelte.
"Ich habe es mir überlegt, du hast den Vortritt", sagte Tom ernüchtert. Dean näherte sich vorsichtig der unheimlichen Erscheinung und leuchtete mit der Lampe hinein, doch das Licht vermochte die Schwärze nicht zu durchdringen. Auch Tom trat nun näher heran und steckte probeweise eine Hand in den rotierenden, schwarzen Nebel. Beunruhigt stellte er fest, dass sein Arm einfach an der schwarzen Nebelwand zu enden schien. Plötzlich schwoll das Summen stark an. Eilig zog Tom die Hand wieder zurück. Irgendetwas sagte ihm, dass es besser sei, hier schleunigst zu verschwinden. "Weg hier!", rief er erschrocken, doch da glühte auch schon das grüne Licht am Rande der schwarzen Öffnung so blendend auf, als habe es nur auf die Andeutung ihrer Flucht gewartet. Zugleich dehnte sich der schwarze Nebel ruckartig nach vorne aus und zog die Freunde unbarmherzig in das wirbelnde Chaos hinein. Deren Welt stand plötzlich Kopf. Es kam ihnen vor, als würde man ihre Körper gnadenlos auf ein winziges Maß zusammenpressen und sie nun durch endlose sich windende, stockfinstere Bahnen, einem unbekannten Ziel entgegen schleudern. Schnell verloren sie jedes Zeit- und Orientierungsgefühl. Der Fall schien kein Ende zu nehmen Als sie die Hoffnung, jemals wieder herauszukommen, schon aufgegeben hatten, explodierte plötzlich alles um sie herum in grellen Farben, so dass sie geblendet die Augen schlossen. Ohne Vorwarnung tat sich eine Öffnung auf und so unerwartet, wie die Reise begonnen hatte, war sie auch wieder zu Ende. Die Freunde schlugen derart hart auf dem Boden auf, dass ihnen schwarz vor Augen wurde. Dean war sofort bewußtlos. Das Letzte, was Tom sah, bevor auch er ohnmächtig wurde, war ein Gang. Dieser schien jedoch nicht mehr derselbe zu sein, in dem sie sich eben noch befunden hatten. Die Wände waren goldgelb und der Boden gefliest. Der Schein von flackernden Fackeln, die in regelmäßigen Abständen an den Wänden angebracht waren, tauchten den etwa drei Meter breiten und zwei Meter hohen Gang in ein angenehmes Licht. Das allein war schon ungewöhnlich. Mit Abstand am merkwürdigsten erschienen Tom aber zwei spitze Stiefel, die den größten Teil seines Gesichtsfeld ausfüllten und in ledernen Hosen mündeten. Es folgte eine Weste aus übereinanderlappenden, schuppenartigen Lederstücken und schließlich ein Gesicht, von dem man kaum etwas erkennen konnte, weil es von einem langen Vollbart und Haaren vollständig eingerahmt sowie von einer Kappe bedeckt war. Das Beunruhigendste an der ganzen Erscheinung war jedoch die Axt, die das circa einmeterfünfzig große Wesen in seiner rechten Hand hielt. Es war die größte beidseitig geschliffene Axt, die Tom je in seinem Leben gesehen hatte und ihr Besitzer vermittelte nicht gerade den Eindruck, als ob er sie zum Holzhacken verwenden würde.
"Auch das noch", murmelte Tom benommen. "Wäre ich doch bloß nach Florida gefahren." 
Dann wurde es Nacht um ihn.
 

© Klaus-Peter Behrens
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Und schon geht's weiter zum 2. Kapitel: "Die Mine von Medara"

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