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Diese Geschichte wurde von den Drachental-Besuchern
zur besten Fantasy-Fortsetzungs-Story 2001 und 2002 im Drachental gewählt!

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Trio Infernale von Sylvia und Cancelot
Die reale Drachental-Satire
Ankunft im Drachental

Das hölzerne Schild zeigte genau gerade aus. DRACHENTAL stand da in von Wind und Wetter stark verblichenen Buchstaben. Die drei Gestalten standen direkt davor und schienen ein wenig unschlüssig, ob sie es betreten oder lieber in eine andere Richtung weiter ziehen sollten. Vor ihnen breitete sich ein weites Tal mit sanften Hügeln und Hängen aus, saftige Weiden und Felder in kräftigen Farben leuchteten ihnen entgegen. Wer diese drei Gestalten sind, fragt ihr?
Ein alter Ritter, dessen Rüstung im grellen Sonnenlich nicht zu glänzen vermochte, da sie an vielen Stellen mit hässlichen rostigen Flecken übersät war, saß auf einem stolzen Ross namens Rosinante. In der Tat war Rosinante ein sehr stolzes Ross, auch wenn dies nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar war. Sie war ein wenig in die Jahre gekommen, ihr einst glänzendes Fell glänzte nur noch an einigen Stellen, ihr Rücken hatte sich gebogen unter all den Lasten die sie Jahr für Jahr getragen hatte, und auch die Form ihrer Beine brachte so manchen Betrachter zum lachen. Aber sie besaß unbestreitbar eine gehörige Portion Intelligenz und Mut.
An Rosinantes linker Seite bewegte sich mit eifrigen Schritten eine etwas kleine hagere Person, die auf ihrem Kopf einen Sombrero und in ihrer rechten Hand eine kleine Ölkanne trug, die sie fröhlich hin und herschlenkerte. Zwischendurch blieb sie immer wieder stehen, um den Sombrero wieder gerade zu rücken, da dieser auf Grund seiner enormen Größe der kleinen Person ständig ins Gesicht rutschte und die Sicht versperrte. Was diese sehr ärgerte.

Ankunft des Trios im Drachental
© by Sylvia

"Herr, ich brauche einen neuen Hut!"
"Wozu, treuer Knappe, ihr besitzt doch einen sehr schönen?"
"Aber er rutscht mir ständig ins Gesicht und ich kann nicht sehen wohin ich trete."
Mit einer theatralischen Geste lief er gegen das stolze Ross, das sich kurz umsah um zu sehen, wer ihr da zu nahe zu treten pflegte. "Ach, der...", dachte es nur und kaute genüsslich weiter auf seiner letzten Möhre. Es liebte Möhren, allerdings nur die saftigsten und knackigsten und es frass ständig welche. Gab es keine Möhre, gab es keine Rosinante. Es war nicht so, dass es Hafer verachtete, nur bekam es davon ständig Kopfschmerzen, ein altes Leiden, unter dem schon Generationen vor ihm zu leiden hatten, und von frischen Äpfel bekam es meistens Sodbrennen.
"Webolo Assino, ich befehle euch, sofort mit diesem Unsinn aufzuhören! Benehmt euch, wie es einem Knappen geziemt."
"Ja, Herr, verzeiht." Webolo sah mit demütigt gesenktem Haupt zu Boden, um kurz darauf seinen Herrn sofort wieder anzustrahlen. "Bekomme ich nun einen neuen Hut? So einen wie der Knappe von Sir Echardroom, ihr wißt doch, der ...."
Der Ritter dessen wahrer Name Canerio von Celothrien war, streifte sich mit einer unwirschen Geste eine Strähne seiner langen schlohweisen Mähne aus dem Gesicht und bedachte seinen Knappen mit einem wütenden Blick aus kurzsichtigen trüben Augen.
"Knappe?"
"Ja,Herr?"
"Rosinante hat keine Möhren mehr. Ohne Möhren wird sie sich nicht von der Stelle bewegen. Aber sie muß sich bewegen, sonst erreichen wir nie das andere Ende dieses riesigen Tals. "Er machte eine wichtige Pause und blickte abwartend in Webolinos fragendes Gesicht. "Nun?"
"Nun... Herr?"
"Was gedenkt ihr zu tun, Knappe?"
"Zu tun? Ich?"
Webolo runzelte für einen kurzen Moment seine Stirn und blickte ratlos auf die hoch oben auf Rosinante thronende Gestalt, deren langer weicher Bart im Wind hin und her wehte und ihn an das Schwenken weißer Fahnen erinnerte.
"Ja, natürlich Herr! Ich weiß es, wir brauchen sofort frische Möhren!" rief er dann erfreut auf.
"Wir?"
"Ähem, natürlich nicht wir, Herr... Rosinante natürlich, ich meine... ich, also..."
"Schon gut, schon gut. Schweigt!" Der edle Ritter holte tief Luft und schwenkte mit einem ächzenden Geräusch sein linkes Bein über das Hinterteil Rosinantes um abzusteigen, blieb an der Sattelkante jedoch hängen und rutschte seitlich vom stolzen Ross herab, um äußerst unsanft und mit lautem Geschepper auf hartem, steinigem Boden zu landen.
"Oh Herr, habt ihr euch verletzt?"
"Wie kommt ihr darauf?"
Mit sichtlich gekränkter Miene wand sich Webolo ab und drückte seinen Kopf an Rosinantes Hals. "Ständig ist er so gemein zu mir, der Herr..." Geduldig hielt Rosinante still und liess den traurigen Webolo gewähren. Sollte er ruhig traurig sein, ohne seinen Herrn wäre er noch trauriger. Und der Herr genauso ohne ihn. Dabei fiel ihr ein, dass sie es ganz gut auch ohne beide ausgehalten hätte. Ein Leben ohne das ständige Quitschen der Rüstung ihres Reiters, ach....
Der Ritter hatte sich inzwischen wieder nach oben gezogen und pfeifender Atem entwich stoßweise durch die geschlossene Gesichtshaube.
"Geht, werter Knappe" ...pfeif... "geht und sucht Möhren für Rosinante. Ich werde hier auf euch warten und das Tal beobachten." Erneutes Pfeifen und Krächzen. Für Webolo der Hinweis, sich lieber auf die Socken zu machen.

Sein Ölkännchen hin und herschwenkend wie stets, lief er, ein fröhliches Liedchen vor sich hin schmetternd, einen kleinen Trampelpfad entlang, vorbei an dichtem Gestrüpp und sumpfigen Wiesen. Kurz darauf entdeckte er auf der linken Seite ein kleines Schild: Zur Gemüsefarm
"Ah, da wird der Herr sich aber freuen, eine Gemüsefarm..."
Schnell lief er den kleinen Weg entlang, in den das Schild zeigte und entdeckte auch schon die ersten Beete. Es gab Kartoffeln und Zwiebeln, zwei Beete mit Sumpfkohl und, endlich: Möhren! Doch nirgends war eine Hütte oder ähnliches zu sehen, wo er fragen konnte, was das Gemüse wohl kostete. Er zuckte mit den Schultern und machte sich an die Arbeit. Ist ja schliesslich nicht meine Schuld, dachte er. Wenn keiner hier ist, den ich fragen kann...
Er stellte sein Ölkännchen ab und legte den Sombrero daneben, dann begann er Möhrchen für Möhrchen aus dem Erdreich zu ziehen, sorgfältig überprüfend, ob sie auch den Ansprüchen Rosinantes genügten, und legte sie anschliessend in seinen Sombrero.

Plötzlich begann er zu schweben. Erstaunt stellte er fest, dass er sich inzwischen gut 5 Meter über dem Boden befand. "Oh... ich kann fliegen... Herr... seht doch, ich fliege...", rief er.
Die Sicht wechselte und plötzlich befand er sich vor einem neugierig dreinblickenden Augenpaar.
Ein Drache, übersät mit graubraunen Schuppen und furchteinflössenden Zähnen betrachtete neugierig und mit einem unverhohlen breiten, amüsierten Grinsen das zappelnde etwas zwischen seinen langen gewaltigen Nägeln. Ein Möhrendieb!
"Buuh" machte er und genoß den Anblick des kleinen in seinem Atem segelnden Persönchen, das verzweifelt nach Fassung rang und hilflos mit den Armen in der Luft umher ruderte.

erste Bekanntschaft mit einem Drachen...
© by Sylvia

"Was sich hier so alles herumtreibt, ich sollte doch noch einmal über ein Talverbot für bestimmte Geschöpfe nachdenken...", überlegte er grummelnd, als er aus der Ferne ein unbarmherziges, ja, fast unverzeihliches Quitschen und Rattern vernahm.
"Gebt ihn sofort frei, ihr Ungetüm, sofort... hört ihr?" Rasselnder Atem unterbrach eine Stimme, deren Klang genauso rostig war wie die Rüstung ihres Trägers.

"Oh..." Der Drache zog eine Augenbraue hoch und wand sich erstaunt um. Ein Müllbehälter auf Beinen! Er hatte von den Elfen gehört, dass Menschen solche Dinger benutzen, um Unrat zu entsorgen, und dieser hier schien sogar sprechen zu können. Erstaunlich! Diese Menschen, was für eigenartige Geschöpfe sie doch waren und was für eigenartige Gegenstände sie da bauten. Jetzt war er ein wenig unentschlossen; Um was sollte er sich denn nun zuerst kümmern? Um den Möhrenräuber? Oder um den Müllbehälter? Beides schien interessant. Kurzentschlossen klemmte er den zappelnden Möhrendieb sanft zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte sich zu der Blechfigur um. Diese rannte mit vollem Tempo, das heißt mit dem Tempo, in dem es ihr möglich war zu rennen, zwischen die Zehen des gewaltigen Untiers und blieb darin stecken.
"Oh... oooh... Ihr wagt es...? Gebt mich sofort frei... sofoorrrt, sage ich euch..."
"Sieh einer an, dieser Müllbehälter kann auch noch sprechen!"
Das Grinsen des Drachen wurde noch eine Spur breiter, als er amüsiert auf das zappelnde und wild um sich schlagende, rostige Häuflein Blech hinabsah, das zwischen seinen Zehen spickte, während der arme Webolo, der immer noch in den Drachenklauen baumelte, verzweifelt versuchte, sich durch unkontrollierte Schaukelbewegungen vor den riesigen, gelblichen Zähnen in Sicherheit zu bringen.
Es waren nicht allein die Zähne, die ihn so erschreckten, sondern auch der beissende Geruch, der aus dem gewaltigen Rachen dahinter drang. 
Webolo hielt sich angewidert die Nase zu, überlegte, wie lange er es ohne Luft zu holen aushalten konnte und wünschte sich dringend, daß irgend jemand mit diesem Drachen mal ein ernstes Wörtchen über Zahnpflege reden würde.

Zwischenzeitlich war das riesige, braungeschuppte Untier jedoch so fasziniert von diesem blechernen, sprechenden Etwas, das sich gerade quietschend und knirschend aus seinen Drachenzehen zu befreien suchte, daß er den armen Knappen zwischen seinen "Fingernägeln" völlig vergaß.
"Was fällt Euch ein!" kreischte es zwischen seinen Zehen. "Laßt mich sofort los - oder ich werde Euch Beine machen ..."
Der Drache entblößte seine Eckzähne und unterdrückte ein Kichern.
"... und meinen Knappen gebt Ihr ebenfalls frei - auf der Stelle!!"
Webolo warf bei diesen Worten einen ängstlichen Blick auf den steinigen Boden hinab, der sich von Sekunde zu Sekunde immer weiter von seinen zappelnden Füßen entfernte. Irgendwo weit unter sich, am Rande seines Gesichtsfeldes, sah er Rosinante stehen, die ungerührt eine Reihe Heckenrosen abfraß.
"...ooch", rief er hinunter, "das ist nicht so eilig, Meister ..."
Blödes Pferd, dachte er. Wenn ihre Schlachtross-Qualitäten einmal wirklich dringend gebraucht werden, denkt Rosinante nur ans Fressen. Typisch!
Der Ritter hatte derweil all seine - altersbedingt kaum noch vorhandenen - Kräfte mobilisiert und stemmte sich energisch gegen die mächtigen, schuppenbewehrten Klauen des Drachen, strampelte, zog und zerrte - bis er plötzlich und völlig unvorbereitet frei kam, das Gleichgewicht verlor und zurücktaumelte.
Schlagartig des Gegendrucks beraubt, ließen ihn sein eigener Schwung und das Gewicht der Rüstung nach hinten purzeln, wo er scheppernd einen dreifachen Salto schlug und schließlich als unentwirrbares Blechknäuel inmitten einer Staubwolke liegenblieb.

"Meister!" entfuhr es Webolo, der immer noch in luftiger Höhe baumelte, erschrocken. "Meister! Habt Ihr Euch etwas getan?"
Aus der Staubwolke drang ein gequältes Keuchen, gefolgt von besorgniserregenden Geräuschen. Ein blecherner Arm erhob sich quietschend aus dem Metallberg, anschließend tauchte das erschöpfte Gesicht des Ritters unter seinem völlig verbeulten Helm aus dem rostigen Knäuel auf. Die weißen Bartspitzen zitterten entrüstet.
"Schon gut, Knappe...", ächzte er heiser und versuchte, seine Knochen und diverse Arm- und Beinschienen auseinanderzusortieren. "Alles in Ordnung."
"Oh, Meister ...!"
Webolo war ganz aufgeregt vor Sorge um den alten Ritter. Er wand sich wie ein Fisch, um sich aus den Klauen zu befreien, die ihn zwar recht sachte aber nichtsdestotrotz unerbittlich umklammert hielten, selbst wenn er damit einen Sturz in die Tiefe riskierte. Doch der Drache dachte gar nicht daran, seine Beute wieder loszulassen, sondern grinste nur vergnügt.
Und da wurde der arme Webolo plötzlich furchtbar wütend - und seine Wut brauchte dringend Auslauf. Ganz dringend!
Er korrigierte seine Schaukelbewegungen dahingehend, daß er genau auf den Drachen zuschwang, und trat ihm mit den Füßen gegen die schuppige Backe.
"Du blöder Drache!" schrie er zornig und schaukelte heftig hin und her. "Siehst du überhaupt, was du da angerichtet hast, du ... du aufgeblasene Eidechse, du ... ?" Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Empörung.
Wieder schwang er, schlenkernd und Flüche ausstoßend, auf das grinsende Drachengesicht zu, trat mit den Füßen um sich und schlug wild mit den Armen auf sein Gegenüber ein, der das alles unbeeindruckt über sich ergehen ließ. Der Blick des Drachen klebte fasziniert an dem sich langsam entwirrenden Blechhaufen zu seinen Füßen.

Bis ihm das Gezappel schließlich doch zu bunt wurde.
Webolo sauste auf einmal durch die Luft, daß ihm das Haar waagerecht vom Kopf abstand, und fand sich abrupt gebremst direkt vor einem Paar goldener Drachenaugen wieder, die ihn unwillig musterten. Sein Magen schien ihm auf einmal unmittelbar unter dem Kinn zu hängen.
"Wirst du jetzt wohl mal stillhalten, Kerlchen?" schnaubte der Drache ärgerlich, zog die schuppigen Brauen zusammen und schüttelte den Knappen ein wenig.
Webolo wurde so heftig durcheinandergerüttelt, daß er nicht mehr wußte, wo oben und unten war - dennoch starrte er finster zurück und versuchte, seinen Blick dem seines Gegenübers in nichts nachstehen zu lassen. 
Doch dann wurde seine Aufmerksamkeit von einem Knirschen wieder nach unten gelenkt.
Der rostige "Blechbehälter" versuchte gerade vorsichtig, jedes einzelne seiner Gelenke zu beugen, um herauszufinden, ob noch alles heil war - von dem Aufprall tat ihm noch jeder einzelne Knochen weh.
Würdevoll quietschend richtete er sich langsam zu seiner vollen Größe auf. Staub rieselte aus seinem langen weißen Bart.
Der Drache starrte auf den Ritter hinunter. Dann fletschte er so plötzlich die Zähne, daß Webolo, der noch immer vor dessen Gesicht herumbaumelte, es wirklich mit der Angst zu tun bekam.
Die goldenen Drachenaugen verengten sich, der Rachen öffnete sich weit ... noch weiter - und dann wurde Webolo mit einem Mal so heftig auf- und abgeschleudert, daß ihm Hören und Sehen verging. Verzweifelt kniff er die Augen zusammen und wartete darauf, von dem geflügelten Untier verschlungen zu werden.
Der  Drache gab ein undefinierbares, grollendes Geräusch von sich, das sich ungefähr so anhörte wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
Lieber Himmel, schoß es dem Knappen durch den Kopf, er wird uns beide einfach fressen - und Rosinante als Nachtisch!

Eine Weile hopste er in den Drachenklauen hängend auf und ab und lauschte auf die seltsamen Brüllgeräusche, die der Drache von sich gab. Als dann immer noch nichts geschah, öffnete er zaghaft ein Auge - und was er sah, erschütterte den armen Webolo zutiefst:
Der Drache lachte! Er lachte und prustete, gröhlte und kicherte, daß seine Flügel bebten und kleine, weiße Dampfwölkchen aus seinen Nüstern aufstiegen - und das Kerlchen in seinen Klauen wie ein Ball hin und her flog. Dessen Magen hing mittlerweile abwechselnd in seiner Kehle und unten an den Knien und er wünschte sich nichts sehnlicher, als daß das Ungetüm endlich mit der Schüttelei aufhören würde.
Er hatte noch nie in seinem Leben ein Wesen so lachen sehen. Der Drache gluckste und wieherte und wollte sich schier ausschütten vor Lachen, während Webolo mit aller Kraft versuchte, sein Frühstück daran zu hindern, sich den Weg zurück nach draußen zu suchen.

Da tönte plötzlich des Ritters donnernde Stimme zu ihm hinauf.
"Schweigt!" rief Canerio gebieterisch und verschränkte knirschend die Arme vor der Brust.
Und wirklich - der Drache unterbrach sein Gelächter und blickte erheitert auf den sprechenden Blecheimer hinunter.
"Wer seid Ihr überhaupt, daß Ihr es wagt, harmlose Reisende zu überfallen?" dröhnte der Ritter.
Der baumelnde Webolo schöpfte ob dieser Worte sofort neuen Mut.
"Ja, gebt's ihm, Meister!" feuerte er seinen Herrn und Gebieter an. "Zeigt ihm, was eine Harke ist!"
Der Kopf des Drachen fuhr blitzartig herum.
"Du hältst gefälligst die Klappe, Kerlchen!" knurrte er. 
Dieser aufmüpfige Floh begann ihm ernsthaft auf die Nerven zu gehen. Um sich seiner zu entledigen, setzte er ihn kurzerhand in der Krone einer mächtigen Eiche ab - das heißt, er ließ ihn einfach ins Blattwerk plumpsen, und Webolo sauste einige Meter im freien Fall durch die Zweige. Er konnte sich gerade noch an einen Ast klammern, um nicht vom Baum zu fallen.
"Jetzt geht Ihr aber zu weit!" rief der alte Ritter erbost. "Ich bin Canerio von Celothrien, Drache! Ahnungslos und ohne Arg kamen wir in dieses abgelegene Gebiet, mein treuer Knappe und ich, um den Herrn des Drachentales aufzusuchen - Moordrache wird er wohl allgemein genannt. Aber statt diesem ehrenwerten und weithin bekannten Drachen zu begegnen, laufen wir nun Euch in die Arme - beziehungsweise in die Zehen! Wir werden dies Eurem Herrn berichten, dessen könnt ihr Euch sicher sein!"

Der Graubraun-Geschuppte grinste frech.
"Wie Ihr wollt", antwortete er spöttisch. "Dann berichtet nur sogleich - den Moordrachen habt Ihr nämlich gerade vor Euch - höchstpersönlich! Und jetzt werde ich Euch zeigen, was wir im Drachental mit gemeinen Möhrendieben machen ..."
Bei diesen Worten packte er Canerio mit seinen scharfen Klauen und hob ihn vom Boden, so daß nun seinerseits der Ritter mehrere Meter über dem Erdboden schwebte.
"Wollt Ihr wohl..." schrie der empört über solche Behandlung. "Laßt mich sofort runter! Aber sooofort! Webolo, wo bleibst du denn? Zu Hilfe, Knappe - zu Hilfe!"
Die Baumkrone schwankte gefährlich hin und her, als Webolo eilig nach unten kletterte, um seinem Herrn zu Hilfe zu kommen.
"Um Euren Knappen kümmere ich mich später", teilte der Drache dem eingezwängten Canerio lakonisch mit, "als Ritter und Mann von Ehre steht Euch selbstverständlich als Erstem das Recht zu, eingekerkert zu werden." 
Und zu der Baumkrone hingewandt, die an einigen Stellen verdächtig raschelte, knurrte er: "Und du bleibst hier sitzen, bis ich wieder zurück bin, verstanden?"
Dann klemmte er sich den heftig protestierenden Ritter fest zwischen die Klauen, schlug ein-, zweimal mit den gewaltigen Schwingen - und weg war er.

"Meister .....!" 
Webolo, der schon ungefähr die Hälfte des Baumes hinabgeklettert war, streckte den Kopf aus den Zweigen hervor, und brüllte aus Leibeskräften.
Aber das Rauschen der Drachenflügel verklang bereits in der Ferne, und das Einzige, was er im Moment tun konnte, war, sich die Richtung zu merken, in die sich der Drache mitsamt Ritter Canerio davonmachte.
Webolo fackelte nicht lange, sondern machte sich sogleich an den Abstieg, indem er sich wie ein Eichhörnchen geschickt von Ast zu Ast nach unten hangelte.
Er wußte in seiner Aufregung noch nicht so recht, was er tun sollte - nur, daß er keinesfalls in diesem Baum sitzenbleiben würde, bis dieses monströse Ungetüm zurückkam. Webolo war wild entschlossen, sein Bestes zu geben, um seinen Meister vor diesem schrecklichen Moordrachen retten - letztendlich war er als sein Knappe für des Ritters Wohl und Wehe mitverantwortlich. 
Und schließlich hatte er ja auch noch die treue Rosinante an seiner Seite - zusammen mit ihr würde er es schon irgendwie schaffen, den ehrenwerten Canerio aus den Klauen dieses scheußlichen Untiers zu befreien.
Er ließ den untersten Ast los und sich selbst das letzte Stück einfach hinunterplumpsen, wo er sich sogleich aufrappelte, den Staub aus seinen Kleidern klopfte und einen schrillen Pfiff ausstieß.

Mit einem Ruck tauchte der klobige Kopf des alten Pferdes aus den Heckenrosen auf, die es gerade genüsslich verspeiste. Blätter und Rosenstengel hingen aus Rosinantes Maul. Sie hielt in ihren gemächlichen Kaubewegungen inne, klappte die flauschigen Ohren nach vorne, und ihre vom Alter kurzsichtigen, dunklen Augen suchten ein wenig irritiert nach der Quelle des Pfeifens.
"Rosinanteeee!!"
Es war unüberhörbar Webolos Stimme, die die alte Stute in ihrem Fressgelage unterbrach, und die Stimme schien absolut nichts Gutes zu verheißen. Es klang sogar verdächtig nach Arbeit, und Rosinante, die ein äußerst cleveres Pferd war, beschloß vorsichtshalber sich schnellstens zu verkrümeln, bevor es zu spät war.
Sie schnaubte und blähte die Nüstern und ihre tellergroßen Hufe wirbelten ganze Grasbüschel auf, als sie sich in wildem Fluchtgalopp nach vorne stürzte.

Ihr Pech war lediglich, daß sie Hals über Kopf die falsche Richtung wählte, denn nach ein paar Schritten hing ihr Webolo am Hals und krallte sich in ihre Mähne.
"Willst du wohl stehenbleiben, du dummes Pferd!" keuchte der Knappe und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an die Zügel, bis Rosinante endlich ihr Tempo verlangsamte und schließlich resigniert stehenblieb.
"Wir müssen doch unseren Meister retten ...", erklärte Webolo eifrig und zerrte die Stute hinter sich her.
Während er auf sie einredete und ihr eindringlich die bevorstehende Aufgabe erklärte, klaubte er das herumliegende Gepäck auf, das Rosinante bei ihrem überstürzten Fluchtversuch verloren hatte, einschließlich seines Sombreros, der geklauten Möhren, seinem Ölkännchen und diverser Rüstungsteile, und stopfte alles achtlos in die Satteltaschen. Als er alles eingesammelt hatte, kletterte er auf den breiten Rücken der Stute, setzte sich im Sattel zurecht und rückte seinen Hut gerade.
"Nun gut", seufzte er ergeben, holte tief Luft und gab seiner Rosinante die Sporen, "...dann wollen wir uns mal diesen Moordrachen vorknöpfen!"
 

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Und schon geht's zum 2. Kapitel: vom Regen in die Traufe

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