Es von Trishol

Die Frau lehnte am Fenster und sah hinunter, ihr Blick huschte durch den baumbestandenen, vom fahlen Licht der Morgendämmerung erhellten Garten. Der Nebel zog sich wie ein ergrauter Seidenschal zwischen den hohen Tannen hindurch und schien die körperlose Dunkelheit des alten Waldes wie eine unsichtbare Barriere zurückzuhalten.
Der Detektiv räusperte sich leise und sie lenkte ihren Blick wieder in das kleine, dunkle Zimmer.
"Kannten Sie das Opfer?", fragte er und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern in der komplexen Eintönigkeit der Stille.
"Sie war meine Nachbarin - wir haben oft miteinander gesprochen."
Sie setzte sich in den alten Sessel hinter dem antiken Schreibtisch und das gleichmäßige Pochen ihrer Finger auf der Tischplatte wirbelte den millimeterdicken Staub auf.

Er hastete durch den Wald, das alte Laub raschelte unter seinen schnellen Schritten und sein Atem gefror in der Luft. Die Schatten der Nacht lagen wie schwarze Leichentücher über den in sich verwachsenen Bäumen, scharfe Eisstücke zerschnitten seine Haut, berauscht lief er weiter.
Er war eins mit der Dunkelheit, eins mit dem gestaltlosen Grauen des Waldes, es strömte durch seine Adern, löste seinen Geist von seinem Körper und zeigte ihm sein Ziel. Er war bereit. Und unaufhaltsam setzte er seinen Weg fort.

"Da draußen ist etwas.", sagte die Frau, Schatten huschten über ihr Gesicht, ihr Blick wurde glasig und Kälte kroch in ihre Augen.
"Es ist gefährlich."
"Der Mörder? Es ist ein Mann?", fragte der Detektiv und aus seiner Stimme sprach die Ungeduld, durchtränkt von seinem Unverständnis.
"Nein. Kein Mensch." Die Gedanken der Frau schienen weit fort und ihre Stimme hallte wie aus einer anderen Wirklichkeit an ihn heran.
Nervös zupfte er seine Krawatte zurecht.
"Was ist es dann?" Sie schüttelte den Kopf.  Dann sah sie ihn an und der verklärte Blick ihrer stahlblauen Augen jagten es durch seinen Körper.
"Das Grauen.", flüsterte sie.

Lautlos huschte er an der letzten Tanne vorbei und hielt an. Sein kontrollierter, leiser Atem war das einzige was die Stille durchbrach, als er durch das gespenstische Grau des Nebels spähte und das alte Haus erkannte, eingebettet in einem farblosen, geisterhaften Garten. Seine Sinne verschärften sich und der Geruch dessen, nach dem er sich so lange Zeit gesehnt hatte, drang an seine Nüstern. Blut.
Als ein weiterer Schatten in der undurchsichtigen Atmosphäre tauchte er in den Nebel ein, seinem Ziel entgegen.

Stille legte sich über das Zimmer. Das Pochen ihrer Finger auf dem Schreibtisch hallte in seinen Ohren wider und raubte ihm beinahe den letzten Rest seiner, mit großer Mühe aufrechterhaltenden, äußerlichen Ruhe.
Als sie aufstand und wieder an das Fenster trat, glaubte er seinen hastigen Herzschlag zu vernehmen – unbarmherzig laut schien er ein Echo zu schlagen, das ein kaltes Gefühl der Angst und Hilflosigkeit zurückließ. Mit aller Anstrengung versuchte er seine Sinne auf die Fragen zu konzentrieren, die sich in seinem Denken ausbreiteten.
"Sie glauben nicht an überirdische Dinge, oder?", fragte sie leise, ohne ihren Blick von der gespenstischen Eintönigkeit des Gartens abzuwenden.
Er nickte. "Ich bin Detektiv - Es wäre unverantwortlich, meine Untersuchungen auf solchen Hirngespinsten basieren zu lassen." Seine Stimme war fest und bestimmt.
Sie hob ihre Hand und berührte mit den Fingerspitzen die Fensterscheibe. Ihr Atem kondensierte daran und hinterließ einen milchigen Fleck, der rasch in sich zusammenschrumpfte.
"Sie müssen wissen, daß nicht alles so ist, wie es scheint. Menschen sterben - und der Mörder wird nie gefunden."
Irritiert schüttelte er den Kopf.
"Was meinen Sie damit?"
"Manchmal ist das Unfassbare realer als die Wirklichkeit. Und manchmal sind die Menschen, denen wir vertrauen, die wahren Feinde."
Plötzlich rann ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Und auf einmal schienen die Schatten in den Zimmerecken zu wachsen. Sie schlichen auf ihn zu, bedeckten seinen Körper und fraßen sich in seine Seele.
"Und manchmal müssen wir dem Grauen in die Augen sehen."
Sie drehte sich zu ihm um und er blickte in das bleiche Gesicht einer Toten. Jede Farbe, jede Flüssigkeit schien aus ihrer Haut gesogen, die pupillenlosen, von blauen Adern durchzogenen Augen lagen in zwei schattenverhangen Höhlen und die schneeweißen Haare zogen sich wie tausende Spinnweben über ihre Schultern.
Sein Gesicht verzog sich zu einem lautlosen Schrei.
Plötzlich zerbrach das Fenster und etwas Großes, Schwarzes landete auf dem Schreibtisch. Wie in Zeitlupe konnte er die Scherben erkennen, die jede mit einem klirrenden Knall auf dem Boden aufprallten und zersplitterten.
In Trance glitt sein Blick über die schwarze, konturenlose Haut des Wesens und als er den Kopf hob, sah er die lodernden und flammenden Augen einer entsetzlichen Kreatur. Und ihm wurde klar was er vor sich hatte. Es war kein Tier. Es war das Grauen.
Und in jenen letzten Augenblicken seines Lebens verschärften sich seine Sinne, er sah wie es sich von dem Tisch abstieß, er sah das ausdruckslose Gesicht der untoten Frau und er sah die riesigen, totenbleich schimmernden Reißzähne, die kurz vor seinen Augen aufblitzen, bevor er schrie und die Lider schloss - und sich der tröstenden Schwärze überließ, die das letzte sein sollte, was er in seinem Leben sah.
 

© Trishol
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