Mit der Geschwindigkeit eines Rennwagens
setzte meine Messerschmitt-BF 109 auf der Wiese kratzend auf dem Bauch
auf. In der Entfernung kreischte eine Schafherde erschrocken auf, als das
Kampfflugzeug nach 90 Metern zum Stehen kam und ich sofort die Kanzel öffnete.
Die Dienstvorschrift ordnete an, dass der
Flugzeugführer jetzt mit seinem Messer die Benzinleitung durchschneiden
musste, eine Rolle Toilettenpapier darunter halten, ausrollen und in sicherer
Entfernung anzünden sollte.
"Auf diese Weise sei sichergestellt, dass
das teure Kampfflugzeug nicht in die Hände des Feindes fällt..."
Gerade als ich mein Taschenmesser aufklappte,
hörte ich hinter mir Schritte.
Die Dienstvorschrift schaffte es nicht
mehr.
"Hey! Stop it!"
Ein englischer Soldat von der Home Guard
stand keine vier Meter hinter mir und hielt seinen entsicherten Karabiner
im Anschlag.
"Hands up, Kraut!"
In dreißig Meter Entfernung ging
plötzlich eine Scheinwerferbatterie an und zahlreiche Tommys kamen
angerannt...<
Tja, die nächsten Jahre war ich in
Gefangenschaft und bekam so das Kriegsende nicht mehr mit. 1947 durfte
ich aber wieder nach Hause...
Tim las sich das Kriegstagebuch von Herr Sellner
durch, der gerade mit seiner Frau das Wohnzimmer aufräumte. Immerhin
war heute Heiligabend und gegen Nachmittag kam auch noch Besuch. Viel musste
vorbereitet werden.
Tim sah sich auch die Schwarz/Weiß-Fotos
an, die Herr Sellner beim Aufräumen gefunden hatte. Sie zeigten Bilder
aus der Schulzeit, der HJ, und viele Bilder von der Firma, in der er über
vierzig Jahre arbeitete. Damals war sie noch viel kleiner.
Draußen neben der Haustür stand
ein frisch geschnittener und eingepackter Tannenbaum, den Herr Sellner
selbst gefällt hatte.
Tim ging kurz darauf mit Frau Sellner auf den
Speicher, um den Weihnachtsschmuck für den Baum zu holen. Hier oben
war allerlei Gerümpel gelagert. Ein Schlitten von 1940, der so von
Holzwürmern zerfressen war, dass er schon vom bloßen Ansehen
zu zerfallen drohte. Herr Sellners altes Kar98k vom Krieg, zahlreiche Kisten
und Holzfässer und eine verrostete Bärenfalle, die noch immer
aufgeklappt unter dem Dachfenster stand.
"Wenn ein Einbrecher hier einsteigt, wird
er es bereuen!" hatte er immer gesagt.
Ganz hinten stand ein großer Karton,
aus dessen Deckel einige Lamettafäden heraushingen. Tim nahm sie alleine
hoch, da sie gar nicht schwer war und bahnte sich wieder seinen Weg durch
Spinnenfäden zurück zur Klappleiter, die vom Dachboden herunterführte.
Kaum die Kiste abgestellt, fragte Frau Sellner:
"Bist du fertig, Tim?"
"Ja, mit den Nerven!" seufzte er. "Ich will
heute nicht in die Kirche!"
"Dein Vater hat ausdrücklich gesagt,
du sollst an Heiligabend mit uns hingehen!"
"Warum soll ich mir immer vom Pfarrer anhören,
dass wir irgendwann doch alle mal zur Hölle fahren werden!"
"Tim! Es ist nun mal üblich, dass man
an Heiligabend zur Messe geht. Außerdem solltest du mal raus an die
Luft, statt ständig nur in deinem Zimmer vor dem PC rumzuhängen."
Seufzend ging Tim mit ihnen mit. Es war nicht
weit bis zur Kirche, deshalb gingen sie zu Fuß. Im Genick spürte
Tim deutlich den bohrenden Blick seines Drachens, der ihm durch das Dachfenster
hinterher sah.
Gegen Vormittag begann die Messe. Sie waren
spät dran und ergatterten deshalb nur noch einen der hinteren freien
Plätze auf der Kirchenbank. Da der Heiligabend dieses Jahr auf einen
Sonntag fiel, wurde der Sonntagsgottesdienst und die Messe gleich zusammengelegt.
Tim war lange nicht mehr in der Kirche. Das
kalte Gemäuer strahlte eine mysteriöse und heilige Aura aus.
Das konnte er jetzt deutlich spüren, da seine Sinne deutlich schärfer
geworden sind, seit der Drache bei ihm war.
Ein Block Papier mit Weihnachtsliedern wurde
jetzt herumgegeben und Tim nahm sich einen Bogen, bevor er den Stapel weitergab.
Pünktlich wie immer begann die Messe.
Der Pfarrer war der Bruder von Herr Gerbrandt, dem Stadtpolizisten. Hier
im Murgtal kennt eben wirklich jeder jeden. Er hielt wie jedes Mal eine
ernste Ansprache an die Gemeinde.
Tim, kannst du mich hören? fragte
Drakota.
Ja, was ist?
Ist der Schwarzmagier hier irgendwo?
Bis jetzt habe ich ihn noch nicht gesehen,
übermittelte Tim. Er begann sich unauffällig umzuschauen, während
der Pfarrer seine Rede begann:
"Wir leben in einer Zeit, in der der Mensch
Gott immer weiter aus seinem Leben verdrängt. Die Auswirkungen sind
deutlich zu spüren: Gnadenloser Kapitalismus, Kriege um Rohstoffe,
die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich... Beispiele
sind überall zu sehen, doch der Mensch lernt nicht, bricht heute alle
Tabus der Ethik und Moral.
Doch eines Tages wird die Abrechnung kommen
(Offenbarung 20, 11-15) und das werde ich euch jetzt vorlesen."
Der Pfarrer nahm einen Bogen Papier in die
Hand und las vor:
"...und dann wird der allmächtige
Gott sie richten:
Die Feiglinge an erster Stelle! Dann die
Spötter und Heuchler, die Hurer und Ehebrecher, die Perverslinge und
Kinderschänder, die Rassisten und Neonazis, die Hassprediger und Okkultisten,
die Drogenverkäufer und Zuhälter, die Bonzen und Volksbeschwindler,
die raffgierigen Konzernmanager und Wirtschaftskapitalisten, die Betrüger
und Ausbeuter, die Armen wie die Reichen...
KEINER wird fehlen!!
Alle werden sie am Jüngsten Tag vor
Gottes gerechtem und unbestechlichen Gericht erscheinen müssen!
Er wird sich danach den Guten zuwenden
und sagen: "Nehmt das Himmelreich in Besitz, das seit dem Anbeginn der
Welt für euch geschaffen ist. Und dann wird sich Gott den Bösen
zuwenden und sagen: "Geht von mir, ihr Verfluchten! In das ewige Höllenfeuer,
das dem Teufel bereitet ist und seinen Dämonen!"
Der Pfarrer sah nun die Menschen ernst an
und sagte:
"Gibt es für uns Sünder keine Rettung?
Kein Weg zur Umkehr? Doch!!
Jesus Christus selbst hatte gesagt (Johannes
14.6): "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Ewige Leben. Niemand kommt
zum Heiligen Vater, als nur durch mich."
Kein Mensch kann sündlos leben, das weiß
Gott. Jeder macht sich irgendwann mal schuldig. Worauf es Gott aber ankommt,
ist Reue und gewissenhafte Bereitschaft zur Buße und Umkehr. Daran
wird er uns messen!
Weihnachten sollte nicht nur ein Fest für
Christen sein, sondern ein Fest für alle Menschen. Ähnlich wie
bei der letzten Fußball-WM, wo Menschen aus allen Ländern und
Religionen zusammen feierten."
Tim blickte auf die Uhr und versuchte, nicht
ständig an den Schwarzmagier zu denken. Doch ganz wohl war ihm bei
der Sache nicht, denn immerhin kannte er ihn ja jetzt und er wusste, dass
Tim verdächtig war.
Vielleicht ist hier in der Kirche vor ihm
sicher! Vampire können ja auch keine Kirche betreten.
Doch er verwarf den Gedanken gleich wieder.
Necramor war ja kein Vampir, er selbst aber wirkte mit seinen Zähnen
schon eher wie einer...
Als nach zwei weiteren Weihnachtsliedern und
einer weiteren Ansprache des Pfarrers der Gottesdienst beendet war, ging
Tim mit Herr und Frau Sellner aus der Kirche auf den Kirchenvorhof.
Da traf Tim Christian, einen Schulfreund.
Auch er war heute mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester in der
Kirche. Es traf sich gut, da sie sowieso heute an Heiligabend bei den Sellners
feierten und einige Dinge noch besprochen werden mussten. Christians Vater
arbeitete genauso wie Tims Vater bei "Smurfit Kappa".
"Hallo, Tim", sagte er, "hast du gehört,
was gestern Abend passiert ist?"
Tim schüttelte den Kopf.
Christian deutete auf seine Eltern, die gerade
mit Herrn Gerbrand, dem Stadtpolizisten redeten.
Tim, Christian und die Sellners gingen zu
ihnen und hörten zu.
"Gestern Abend haben wir zusammen mit zehn
Polizisten vom SEK die "Senko-Gang" hochgenommen und zahlreiche Skinheads
verhaftet", sagte Herr Gerbrand. "Senko war leider nicht dabei. Stellen
Sie sich mal vor: Am helllichten Tage zog die Bande zwölf Kaufhausdiebstähle
(!) durch und dabei sind sie nicht erwischt worden! Sie klauten Handys,
DVD-Player und Digitalkameras im Wert von fast siebentausend Euro. Das
Zeug haben sie dann einfach so hier in den Spendencontainer der Katholischen
Kirche geschmissen - verrückt oder?! Dann haben sie mit Baseballschlägern
auf dem "Schoeller & Hoesch" Firmenparkplatz Autos demoliert, aber
bis jetzt ging noch keine Anzeige von den Besitzern ein.
Kurz darauf in der Abenddämmerung ein
Kioskeinbruch mitten in der belebten Innenstadt neben dem Weihnachtsmarkt
- keiner hat´s gemerkt! Wir wüssten gar nichts davon, wenn sie
es uns im Suff nicht selbst gesagt hätten. Sie plünderten die
Kasse und haben sich mit dem Geld betrunken. Danach haben sie noch eine
Telefonzelle mit rechtsextremen Parolen und Hakenkreuzen beschmiert, aber
sie wollen uns nicht sagen, wo genau das war."
"Sind die denn völlig bescheuert geworden?"
fragten Christians Eltern.
"Den Eindruck haben wir zwar auch, aber der
Haftrichter meint, wir müssen sie wohl bald wieder auf freien Fuß
lassen."
"WAS?!" Es klang fast wie ein entsetzter Schrei
von Christians Mutter.
Herr Gerbrand schob sich mit der rechten Hand
seine Dienstmütze zurecht und erwiderte: "Leider ja. Ich weiß
wie absurd das klingt, aber wir können eben auch nur nach dem Gesetz
handeln und nicht anders. Zu unserer Zeit hätte es eine satte Tracht
Prügel gegeben."
"Das wäre wohl das Mindeste!"
Nach einer Viertelstunde gingen sie alle noch
auf den Weihnachtsmarkt, um die allerletzten Einkäufe für die
Feiertage zu kaufen. Herr Sellner kaufte zwei Flaschen Rotwein (eine für
Heiligabend und eine für Silvester) und begutachtete schließlich
noch einige selbstgemachte Handwerksstücke der Händler.
Tim kaufte sich von seinem restlichen Geld
eine Portion gebrannte Mandeln und etwas für Drakota zu Weihnachten:
Das Buch "Rätsel raten für jung und alt".
Das restliche Geld hatte er ja schon für
Drakotas Futter beim Metzger ausgegeben!
Nach einer weiteren Viertelstunde bummeln
ging Tim mit den Sellners durchgefroren nach Hause.
Auch Christian machte sich mit seinen Eltern
auf den Heimweg.
Tim, wo bleibst du? Mir ist auch kalt!
meldete sich der Drache in Tims Gedanken. Wieder einmal merkte er, dass
die Kälte hier draußen auch Drakota spürte.
Kurz darauf waren sie wieder zu Hause und
Tim musste drüben bei sich warten, während die Sellners den Weihnachtsbaum
aufstellten. Er selbst durfte nicht dabei sein!
Gegen Nachmittag wurde Tim ungeduldig, denn
die Sellners ließen ihn nicht vor dem Abendessen in ihre Wohnung.
Ihre Vorhänge hatten sie zugezogen, sodass Tim nicht einmal vom Dachgeschoss
ins Zimmer sehen konnte!
"So eine gnadenlose Gemeinheit!" fluchte Tim,
während er in seinem Zimmer auf und ab ging und sich der Nachmittag
endlos dahin zog.
Liest du mir etwas aus dem Buch vor, das
du auf dem Weihnachtsmarkt gekauft hast? fragte der Drache.
"Natürlich." Tim tat alles, damit die
Zeit bis zur Bescherung irgendwie vorbei ging. Die Warterei am Heiligabend
war
immer das Schlimmste!
"Eigentlich wäre das für dich eine
Weihnachtsüberraschung gewesen, aber..."
Tim grinste breit, "aber ich kann ja jetzt
nichts mehr vor dir verheimlichen."
So ist es, Kleiner! sagte Drakota
belustigt.
Tim schlug das Buch auf und blätterte
einige Rätsel durch.
"Wie schreibt man Wasser mit drei Buchstaben?"
fragte Tim.
Eis. sagte Drakota. Das weiß
doch jeder!
"Es verfolgt dich am Tag, aber niemals bei
Na-"
Ein Schatten!
"Ich bin schneller als der Wind,
ich bin schneller als der Schall.
Der Krieg hat mich erfunden,
ich komm bis ins Weltena-"
Eine Rakete! sagte Drakota.
"Ich geb´s auf!" seufzte Tim. "Einen
Drachen kann man beim Rätselstellen nicht besiegen!"
Stattdessen las er ein Buch vor, das ihm letztes
Weihnachten geschenkt worden war: "Das Buch der 1000 Witze und Späße".
Er blätterte einen Augenblick. "Hier
ein DDR-Witz:
Ein 7-jähriger Schüler wurde
verhaftet. Er hatte die Soldaten des 'Warschauer Pakts' ohne 't' geschrieben!!"
Tim kicherte. "Oder hier ein Polizei-Witz:
Ein Reporter wird von einem Polizisten
daran gehindert, den abgesperrten Tatort zu betreten.
"Lassen sie mich näher heran", protestierte
der Reporter, "ich muss eine Story darüber schreiben!"
Der Polizist weist den Reporter erneut
zurecht:
"Jetzt bleiben sie hinter der Absperrung,
Mann! Wenn sie unbedingt wissen wollen, was passiert ist, dann lesen sie
es doch morgen in der Zeitung!"
Drakota lachte.
"Hier noch ein Politikerwitz:
Ein Veranstalter auf dem Berliner Markt
zerquetscht eine Zitrone vor der Menschenmasse, bis nichts mehr rauslief.
Dann sagte der Veranstalter: "Fünfzig Euro für denjenigen, der
es schafft, noch mehr Saft rauszuquetschen.
Ein dicker Mann mit feinem Anzug und Brille
nahm die Zitrone und schaffte es tatsächlich, noch einen letzten Tropfen
rauszudrücken. Darauf fragte der Veranstalter den Mann, was er von
Beruf wäre. Dieser sagte:
"Finanzminister!""
Tim lachte und stellte das Buch wieder ins
Regal zurück. Dann blickte er aus dem Fenster.
Draußen wurde es dunkel und eine Aura
lag in der Luft, die Tim mit seinen scharfen Drachenreitersinnen jetzt
genau spüren konnte.
Dinge, die er früher nie bemerkt hatte,
hämmerten regelrecht auf ihn ein. Tausend Wünsche, Träume,
Hoffnungen und Gebete lagen in der Nacht. Weihnachtsfeste, die an tausenden
Orten auf tausend verschiedene Weisen gefeiert wurden.
Die metallgraue Wolkendecke am Dezemberhimmel
war aufgerissen und hatte sich nun in eine sternenklare Nacht verwandelt.
Doch Tim sah die Nacht ganz anders. Er konnte in der Dunkelheit viel schärfer
sehen als früher und sogar Temperaturunterschiede erkennen. Alles
was kalt war, sah er in blau/lila und alles was wärmer war, sah er
in grün/gelb/rot.
"Drakota, ich kann im Dunkeln sehen!" sagte
Tim, während er durch das Dachfenster in das schwarze Tal blickte.
Drakota war inzwischen hinter ihm. Natürlich
kannst du das jetzt.
"Wie ist es denn so in Eteo? Haben die Elfen
auch Länder und Regierungen?"
Natürlich. Die Elfen leben in Gruppen
in den riesigen Wäldern, deren Überflug Tage dauert. Die Argonier
dagegen haben Clans, dessen Führer sie wählen. Wie ist es bei
euch Menschen? Habt ihr auch Clans und gewählte Führer? fragte
Drakota.
Tim schüttelte den Kopf. "Clans gibt
es bei uns nicht. Einen Führer haben wir auch nicht mehr - die Zeiten
sind Gott sei dank vorbei!"
Er schrak hoch, als es plötzlich an der
Tür klingelte. Schnell zog er sich seine Wollmütze auf, damit
man seine spitzen Ohren nicht sah.
Dann eilte er die zwei Treppen runter zur
Haustür und öffnete sie.
"Du darfst jetzt rüberkommen, das Abendessen
ist bald fertig." sagte Frau Sellner, während sie sich den schnell
übergezogenen Mantel noch enger zuschnürte.
Drakota, ich bin drüben bei den Sellners.
Tut mir leid, dass ich dich jetzt alleine lassen muss...
Das ist schon in Ordnung, antwortete
der Drache in Tims Gedanken, ich bin ja immer bei dir und sehe, was
du siehst.
Dann sagte Tim zu Frau Sellner: "Ich bin fertig
und habe einen Bärenhunger!"
Es war schon stockdunkel und bitterkalt, als
Tim mit Frau Sellner rüberging.
"Die armen Autofahrer heute", sagte sie, "es
ist spiegelglatt auf den Straßen."
"Das kann uns heute ja egal sein." entgegnete
Tim.
"Na so egal ja auch wieder nicht. Immerhin
erwarten wir Gäste!"
Die Weihnachtsbeleuchtung an den Häusern
sah bildschön aus. Auch die kleinen Tannen vor der Hofeinfahrt der
Sellners.
Tim blickte die Straße hinunter, wo
sich ein Zafira mühevoll die zugefrorene Straße hochquälte
und auf den zweiten Parkplatz vom Grundstück der Sellners parkte.
Tims Vorahnung hatte sich befürchtet:
Die Familie Müller war mit ihrem riesigen
Schäferhund da. Christian, den er ja heute Morgen nach dem Gottesdienst
schon getroffen hatte, saß hinten drin mit seiner Schwester Susanne.
Herr Müller öffnete die Tür.
"Frohe Weih-"
Frau Sellner hatte noch nicht zu Ende geredet,
da sprang schon der Schäferhund aus dem Auto, warf Tim um und schleckte
ihm mit der Zunge übers Gesicht.
"Igitt!!" rief er.
"Dexter, hierher!" befahl Herr Müller.
Der Hund gehorchte.
Tim war nach der "Kampfhundattacke" hintenüber
in das Grundstück von Frau Kotter gepurzelt und hatte eine junge Blautanne
umgeknickt, die er sofort wieder notdürftig stutzte, bevor sie etwas
merkte.
Ein zweites Auto kam im selben Moment, diesmal
aber schneller. Es war die Familie Schneider und die hatten gleich vier
Kinder dabei!
Der Hund wollte losstürmen, als Herr Müller
wieder "Platz!" befahl.
Tim sah hoch zu seinem Dachgeschosszimmer
und konnte durch das Dachfenster deutlich zwei Augen erkennen, da er ja
jetzt nachts viel schärfer sehen konnte.
Achtung, Tim... sagte Drakota, als
Tim auch schon Frau Kotter erkannte.
Sie lief im selben Augenblick vorbei und sah
die Versammlung befremdet an.
"Ich hoffe, die Feier wird nicht so laut",
sagte sie spöttisch. "Mein Hündchen Tizzy mag keinen Krach!"
"Kinder sind ab und zu mal etwas laut, aber
das können einige Leute nicht verstehen, die erwachsen auf die Welt
gekommen sind!" entgegnete Frau Sellner knapp.
"Unverschämtheit!" fluchte Frau Kotter,
während sie weiterstapfte und so tat, als würde sie etwas am
Boden suchen.
"Wenn sie den Kopf noch tiefer hängen
lässt, kann sie sich mit den Zähnen die Socken ausziehen!" sagte
Tim gerade so laut, dass sie es nicht mehr hörte.
Die Kinder der beiden Familien lachten laut.
Selbst Drakota lachte, das spürte Tim.
"Das reicht jetzt!" sagte Herr Sellner. "Lasst
uns reingehen, bevor sich noch jemand erkältet!"
Herr Schneider drückte auf eine kleine
Fernbedienung, woraufhin an seinem Auto kurz die Blinker aufblitzten.
"Selbst an Heiligabend sollte man seine Karre
immer abschließen, sonst steht sie nächste Woche bei einem Autohändler
in Polen!"
"Ach Schatz, du wieder mit deinen Sprüchen!"
sagte Frau Schneider.
Das Wohnzimmer, in dem der Weihnachtsbaum
stand, war fest verschlossen, dafür hatten die Sellners gesorgt. Also
mussten sich erst mal alle in der Küche aufhalten. Sie war zwar sehr
groß, aber immerhin waren jetzt insgesamt dreizehn Personen im Haushalt.
"So viele Leute hatten wir noch nie an Heiligabend
untergebracht." sagte Frau Sellner stolz.
"Ja, aber dreizehn Personen? Das bringt Unglück!"
entgegnete ihr Mann scherzend.
Tim kam als letzter in die Küche, nachdem
er seine Jacke im Flur aufgehängt hatte und staunte:
Ein großer Tisch war aufgebaut mit dem
edelsten Inventar, das Tim je gesehen hatte. Feines Porzellan und Silberbesteck,
Kristallglas und Kerzenleuchter. In einem geflochtenen Korb lagen edle
Weine in vielen Sorten. Selbst den anderen Kindern verging das Quasseln
für einen Moment. Der Geruch von Weihnachtsente, Kartoffeln und Gemüse
lag in der Luft.
"Wahnsinn!" hauchte Tim.
Nicht mal zum Geburtstag der Elfenkönigin
in Eteo gibt es so ein Bankett!! meldete sich Drakota.
Die große Wanduhr im Flur schlug 18
Uhr, als alle Platz genommen hatten. Die Sellners hatten selbst den Campingtisch
aus dem Keller geholt, damit alle an die Tische passten.
"Mami, wann gibt’s Geschenke?" fragte Susanne
ungeduldig.
"Wenn es 19 Uhr ist und du artig deinen Teller
aufgegessen hast!" entgegnete Frau Sellner in freundlichem aber klaren
autoritärem Ton.
Das kleine Mädchen stocherte mit der
Gabel in dem Entenstück herum und grinste Tim neckend an.
Tim schoss ihr mit der Gabel eine Erbse zurück.
"Mami, Mami, Tim beschmeißt - "
"Ruhe!" zischte Frau Schneider in einem leisen,
schneidenden Ton. "Mich interessiert nicht wer angefangen hat. Jetzt wird
erst gebetet!"
Herr Sellner erhob sich und sprach:
"Herr, wir danken dir für diese Gaben,
Herr wir danken dir für diesen heiligen
Abend.
Herr wir beten und hoffen in dieser Nacht,
Dein Wille soll werden in die Welt gebracht!"
Amen! sagten alle.
Durch das verzerrte Gemurmel am Tisch klang
es aber eher wie n´Abend, Almosen, oder eben auch wie Amen.
Tim hasste Fleisch! Wenn er diesen glasigen
Fettüberzug auf der Ente nur sah, rumorte es in seinem Magen. Nebenbei
musste er auch noch daran denken, dass dieses Tier einmal friedlich in
einem See herum geschwommen ist und jetzt auf den Tellern der Weihnachtsgäste
endete.
Angewidert schob er die Platte weiter und
lud sich stattdessen eine satte Portion Kartoffelsalat auf den Teller.
Das Holzfeuer in dem kleinen Küchenherd
knatterte vor sich hin, als alle aßen. Tim musste daran denken, dass
dies das letzte Weihnachtsfest sein würde, das er feierte. Darum genoss
er jede Sekunde und versuchte sich so viele Details wie nur möglich
einzuprägen.
"Tim, warum nimmst du deine Wollmütze
nicht ab?" fragte Herr Müller leise.
"Der Doktor hat das angeordnet, wegen meiner
Ohrenentzündung." log er. Tim konnte ihm ja schlecht sagen, dass er
jetzt Elfenohren hatte.
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