Der lange Stab glühte, brannte sich wie
ein Markenzeichen in Nitalias Haut. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht
vor Schmerz zu schreien. Am liebsten hätte sie ihre Finger von dem
Metall gelöst, aber dann wäre sie durch die Prüfung gefallen:
das dritte Mal in Folge.
"In Ordnung", erlöste sie die raue Stimme
von der Qual.
Sie brach den Zauber ab und das gleißende
Licht, welches der runden Spitze ihres Stabes entflohen war, verschwand.
Der Sonnenpriester lächelte zufrieden.
"Morgen folgt die letzte Lektion."
Erleichterung machte sich in ihr breit. Sie
hatte bestanden.
Die Hohepriester erhoben sich und sie verbeugte
sich rasch. Rückwärts und gebückt trat sie zur Tür,
erwies den hochgestellten Prüfern ihre Ehrerbietung. Dort richtete
sie sich auf und drehte sich um. Ihr langer Zopf schwenkte herum, traf
einen Gegenstand. Nitalia keuchte auf und sprang zur Seite. Klirrend zerschellte
die Vase auf dem Parkettboden.
"Hugh." Sie schlug die Hand vor den Mund und
starrte entsetzt zu den fünf Meistern herüber.
Ihre Gesichter sahen aus, als hätten
sie auf Zitronen gebissen, allein der Sonnenpriester Siburash grinste erheitert.
"Die wievielte war das jetzt?", fragte er
fröhlich.
"Die fünfte", murmelte Nitalia zähneknirschend.
Er nickte und durch einen Wink seiner Hand
gewann die Vase ihre Form zurück. Die Blumen schienen ebenfalls heil
geblieben.
"Ihr solltet einen Trank gegen eure Tollpatschigkeit
nehmen, wehrte Novizin."
"Wie Ihr wünscht, Hohepriester."
'Wenn es wenigstens etwas bringen würde!
Ich bin einfach ein Unglücksfalke.'
"Novizin Nitalia?" Unaufhörlich wurde
sie an der Schulter geschüttelt.
Stöhnend schlug sie die Hand fort und
richtete sich auf. Mit halb geschlossenen Lidern musterte sie den Störenfried:
ein junges Mädchen, eine der Dienerinnen.
"Was ist?"
"Hohepriester Siburash verlangt nach Euch.
Ihr sollt in seine Gemächer kommen."
Nitalia schwang sich aus dem Bett und kleidete
sich an, nachdem die Dienerin den Raum verlassen hatte. Die dunkelblaue
Robe war mit wenigen Handgriffen angelegt und die hellbraunen Haare flocht
sie wie üblich. Die Sandalen über ihre Füße und ein
Medaillon, das sie als Novizin der Wassermagie kennzeichnete, über
ihren Kopf streifend, eilte sie die Gänge des Tempels entlang zu Hohepriester
Siburashs Zimmern. Bei ihrem Eintreten unterbrach der Priester ein Gespräch
mit einem jungen Mann.
Kurz verweilte ihr Blick auf jenem, dann fiel
sie vor ihrem Meister auf die Knie. Der Priester trat vor sie und streckte
ihr die rechte Hand entgegen. Ohne den Blick zu heben, küsste sie
den Diamantring an seinem Finger und stand auf. Erst jetzt betrachtete
sie den Fremden genauer. Er trug ein dickes Lederwams - trotz der Sommerhitze
- und Waffen zierten seinen glänzenden Gürtel. Das schwarze Haar
kräuselte sich in seinen Nacken und die wachen, dunkelbraunen Augen
musterten sie mit einer kalten Überheblichkeit.
"Seid Ihr bereit für eure Prüfung,
Novizin?", fragte Siburash.
Nitalia sammelte sich und antwortete: "Ja,
ich bin bereit. Wie lautet euer Befehl?"
"Euer ursprünglicher Auftrag wurde durch
eine weit dringlichere Aufgabe eingelöst, allerdings ist sie auch
schwieriger."
Nitalia schluckte.
"Heute Morgen entdeckte eine Dienerin das
Fehlen des Laoit. Er muss über Nacht gestohlen worden sein. Eure Aufgabe
ist es, den Dieb ausfindig zu machen und ihm den Laoit abzunehmen."
'Der Laoit? Gestohlen? Welche Macht muss von
jemandem ausgehen, der das schafft?'
"Ich lese in euren Augen, dass Ihr um die
Gefahr wisst, die uns droht. Damit eure Aufgabe nicht zum Scheitern verurteilt
ist, beauftragten wir einen Söldner, Euch zu unterstützen. Er
wird ein Auge darauf haben, wie gut Ihr euren Teil zum Gelingen der Mission
beitragt."
"Wird er das?", fragte der Fremde säuerlich.
Siburash deutete auf ihn. "Nitalia, darf ich
Euch euren Begleiter Daminium, den Söldner, vorstellen? Daminium,
das ist Nitalia, eine unserer Novizinnen."
"Das kann ich mir denken", knurrte er.
"Sehr erfreut", murmelte Nitalia schnell.
Daminium ignorierte sie und wandte sich an
Siburash. "Ihr wolltet mir eben erklären, was es mit diesem Laoit
auf sich hat, bevor uns diese Novizin unterbrach."
Nitalia schluckte unwillkürlich. Das
Wort 'Novizin' klang aus seinem Mund wie Dreck unter ihren Nägeln.
"Richtig." Siburash nickte. "Oder wollt Ihr
es erklären, Nitalia?"
"Als Laoit bezeichnet man den silbernen Blutstropfen
eines Einhorns, umschlossen von Glas, das im Feuer eines Bergdrachen geschmiedet
wurde", leierte sie den Buchtext herunter, "früher wurde er von Zwergen
geschmiedet und verkauft. Ursprünglich war er für Heilzwecke
gedacht, doch mit Hilfe seiner Macht konnte man Tote auferstehen lassen.
Diese Gabe wurde missbraucht, um Zombiearmeen zu erstellen, weshalb man
die meisten Laoiten zerstörte. Nur wenige werden noch in Tempeln wie
dem unseren aufbewahrt und streng bewacht."
"So streng anscheinend nicht." Daminium grinste.
Nitalia funkelte ihn zornig an. "Das ist ..."
"Beruhigt Euch, Novizin." Siburash hob beschwichtigend
die Hände.
'Er hat angefangen.' Nitalia presste die Lippen
zu einem dünnen Strich.
"Die Stallburschen richteten eure Pferde bereits.
Brecht sofort auf und vergeudet keine Zeit. Nitalia, wir erwarten einen
ordentlichen Suchzauber von Euch." Er zwinkerte.
Die Novizin nickte dankbar. Das war der einzige
Zauber, den sie wirklich beherrschte.
Schweigend ritt er vor ihr her und auch sie
hatte den Blick stumm auf seinen Rücken gerichtet. Seitdem sie zusammen
aufgebrochen waren, hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Eine Rauchsäule
schwebte vor ihnen, zeigte ihnen den Weg zu dem verschwundenen Laoit, direkt
durch den Algatorwald, der Suchzauber. Die Bäume malten Schatten auf
den lehmigen Boden, der von den Hufen ihrer Pferde aufgewühlt wurde.
Nitalia richtete ihre grünbraunen Augen auf den Widerrist ihres Tieres.
Die Umgebung ängstigte sie. Der Algatorwald war für seine schaurigen
Bewohner bekannt und laut Erzählungen hausten in ihm die Schlimmsten
aller Kreaturen.
'In Geschichte wird immer übertrieben
- kein Grund zur Sorge', beruhigte sie sich.
"Halt", rief Daminium und zog die Zügel
seines Reittiers an.
Nitalia stoppte und runzelte die Stirn. "Wieso
halten wir?"
Daminium sprang ab. "Es ist spät und
ich bin müde. Wir reiten morgen weiter." Er führte sein Pferd
vom Trampelpfad herunter, tiefer in den Wald hinein.
Nitalias Augen weiteten sich. "Du bist von
Sinnen", protestierte sie, "wir können nicht in diesem Wald rasten!"
"So?", fragte er gähnend.
"Ja." Sie trieb ihren Hengst neben seinen
Wallach. "Hier leben schreckliche Monster."
"So?"
"Ja!", brüllte sie. "Glaub mir, das ist
Selbstmord."
Daminiums Augen blitzten auf. "Ich bin Söldner,
ich weiß mich zu verteidigen."
"Gegen die nicht."
"So?"
"Hör endlich auf mit deinem 'so'!" Ein
Schatten huschte über die Baumwipfel und Nitalia zuckte zusammen.
"Was ist?", höhnte er, "stört Euch
das etwa?"
Nitalia antwortete nicht sondern suchte die
Baumreihen nach dem Schatten ab.
'Was war das?'
Angestrengt versuchte sie in der langsam einkehrenden
Dunkelheit etwas zu erkennen oder zu hören.
Doch alles, was sie vernahm, waren die Worte
des Söldners. "Ihr seid zu feige, werte Novizin, um einen solchen
Auftrag auszuführen."
"Sei still", flüsterte sie und ihr Körper
bebte.
Er lachte. "Wisst Ihr, Ihr solltet ..."
Er brach ab und seine Augen weiteten sich.
Mit einem Ruck riss er den Säbel aus seinem Gürtel. Nitalia lief
ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Daminium fixierte etwas hinter
ihr.
"Grüßt Euch, Novizin Nitalia."
Die tiefe Stimme rann ihre Wirbelsäule
herab wie Pech.
Langsam wandte sie ihren Kopf. Wenige Meter
von ihr entfernt schwebte ein Wesen mit sechs Flügeln, dessen riesiger
Schädel in bizarrem Widerspruch zu seinem wespenförmigen Körper
stand. Vier dicke Arme baumelten in der Luft und die schwarzen Knopfaugen
starrten sie abschreckend an. Zwei Hörner stießen rechts und
links aus der Stirn des Dämons und ein säbelartiger Eckzahn,
an dem sich der Speichel sammelte, ragte aus seinem Maul. Die Haut der
Bestie war faltig und leuchtete, erhitzten Kohlen gleich, durch die Abenddämmerung.
"Woher kennt Ihr meinen Namen?", fragte Nitalia
das Erste, das ihr in den Sinn kam.
"Mein Meister sah, dass Ihr in Begleitung
des Söldners kommt, um ihm seinen wertvollen Schatz abzunehmen."
"Dein M-Meister hat etwas gestohlen, das uns
gehört."
"Lüge!" keifte der Dämon. "Alles
Lügen! Mein Meister lieh sich etwas, das er brauchte."
Daminium lachte. "Selbst wenn! Was willst
du gegen uns tun? Glaubst du vielleicht, du könntet uns aufhalten?"
Die Augen des Dämons verengten sich zu
Schlitzen.
Nitalia stöhnte. 'Toll gemacht!'
Sie griff nach dem Stab, der an ihrem Sattel
befestigt war. Das Zittern ihrer Hand übertrug sich auf ihn, verdeutlichte
es durch das starke Beben.
'Ganz ruhig: Welche Zauber helfen gegen Dämonen?'
"Ich warne Euch ein einziges Mal: Kehrt um
und verlasst das Reich meines Meisters oder lernt meine Kräfte kennen."
Der Dämon hob seine Hand, in der sich ein Energiestrahl bildete.
"Diese Kräfte würde ich zu gerne
sehen", witzelte Daminium.
Ein Brummen ausstoßend schleuderte der
Dämon den Energieball auf Nitalia. Diese riss ihren Stab hoch und
beschwor einen Schutzschild. Die Magie prallte ab, doch die Wucht dieses
Aufpralls schleuderte Nitalia vom Pferd. Das Tier bäumte sich auf
und floh. Stöhnend versuchte Nitalia sich aufzurappeln. Daminium währenddessen
war in den Kampf mit dem Dämon verwickelt. Das Monster zauberte Dolche
aus dem Nichts hervor, die Daminium zwar gekonnt blockte, durch die er
jedoch gehindert wurde, näher an den Dämon heranzutreten. Nitalia
schwang den Stab über ihrem Kopf und ein Strahl Wasser schoss auf
den Höllenfürsten zu. Sie verfehlte das Biest und entwurzelte
einen Baum.
"Mist", fauchte sie.
Daminium weiterhin mit Dolchen von sich fern
haltend, schleuderte der Dämon einen zweiten Magiestrahl in ihre Richtung.
Reflexartig wich Nitalia aus - zu langsam.
Der Strahl streifte ihre Schulter und sie
schrie vor Schmerz auf. Der Stoff war geschwärzt und Blasen brannten
auf der Haut. Mit Wasser aus ihrer Hand kühlte sie die fleischige
Wunde. Sie duckte sich unter einem weiteren Angriff, der ihre Haare ansengte,
und stieß ihren Stab nach vorne. Eine Windböe schlug dem Dämon
entgegen. Er wurde zurück geschleudert und von Blättern, die
mit dem Wind kamen, überhäuft. Brüllend schlug er sie entzwei.
Die Angriffe auf Daminium blieben für kurze Zeit aus, die der Söldner
nutzte, um auf einen Ast zu springen und sich hinter dem Stamm zu verstecken.
'Wer ist hier der Feigling?'
Nitalia rann der Schweiß über die
Stirn.
Ihre Kraft ließ nach und somit der Wind.
Der Dämon konnte den Zauber auflösen und Nitalia sank auf die
Knie. Ihr Atem ging stoßweise, sie keuchte und ihre Brust hob und
senkte sich so schnell, dass Nitalia meinte, sie müsse zerspringen.
Ein Grollen ließ die Erde erzittern.
"Ihr hättet gehen sollen, als Ihr die
Chance dazu hattet, junge Novizin. Jetzt ist euer Schicksal besiegelt."
Er hob die Hand, bereit, Nitalia zu vernichten.
Ein Rascheln. Daminium stürzte vom Ast herab auf den Dämon und
trieb seinen Säbel in dessen Stirn. Aufheulend drehte sich das Biest
im Kreis, griff nach der Waffe. Daminium verlor den Halt und fiel zu Boden.
Der Dämon packte den Säbel und zog ihn heraus. Blaues Blut quoll
aus der Wunde und befleckte die Waffe, die er achtlos beiseite warf. Daminium
verzog angewidert das Gesicht.
Der Geifer tropfte aus den Mundwinkeln des
Höllenfürsten. "Das hast du nicht umsonst getan, unwürdiger
Mensch."
Mit einer wegwischenden Handbewegung beschwor
er ein Schwert herauf und schoss es auf Daminium. Dieser wich erschrocken
aus, doch die Waffe änderte die Richtung und griff ihn erneut an.
Wankend rappelte Nitalia sich auf. Ihren Stab nach vorne gestreckt, murmelte
sie: "Stählerne Wassersäule."
Der Dämon, auf Daminium und das Schwert
konzentriert, bemerkte den Angriff zu spät. Der gräuliche Wasserstrahl
traf ihn in der Brust und durchbohrte sein Herz. Ein ohrenbetäubender
Schrei hallte in den Wipfeln der Bäume wider, veranlasste einige Vögel
schnellstens zu fliehen. Nitalia sah noch, wie der Dämon sich auflöste,
in ein strahlendes Licht getaucht, dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Die Sonnestrahlen kitzelten ihre Nasenspitze
und weiche Grashalme streiften ihren nackten Oberarm. Blinzelnd ließ
sie das Sonnenlicht in ihre Pupille ein. Nachdem sie sich an die Helligkeit
gewöhnt hatte, richtete sie sich auf. Daminium saß an einen
Baum gelehnt am Rand der Lichtung und musterte sie mit seiner steifen Miene.
Ein stechender Schmerz fuhr in ihren Oberarm, als sie sich aufstützte,
und sie riss ihre Hand hoch.
"Ihr solltet Euch nicht so schnell bewegen,
Novizin", riet er. Die Schärfe und der Hohn, mit denen er sonst gesprochen
hatte, waren verschwunden.
"Was ist passiert?", nuschelte Nitalia. Ihr
Kopf schmerzte und sie massierte sich die Schläfen.
"Ihr habt den Dämon besiegt. Ich hätte
Euch nicht für so stark gehalten."
"Ich habe ihn besiegt?"
'Ja ... ich habe ihn besiegt! Wow!'
Ein breites Grinsen breitete sich auf ihrem
Gesicht aus. Mit geschwellter Brust meinte sie: "Natürlich! Ich bin
immerhin eine Novizin der Wassermagie!"
Daminium rollte seine Augen. "In Ordnung,
Novizin der Wassermagie, könntet Ihr uns bitte einen weiteren Suchzauber
heraufbeschwören? Die Sonne steht bereits im Südosten und wir
sollten diesen Laoit finden."
Nitalia rappelte sich auf, schwankte aber
und musste sich an einem Ast festklammern. Ameisen tanzten vor ihren Augen,
zerstörten die Schärfe des Bildes. Sie wartete eine Weile, bis
sich ihr Kreislauf beruhigt hatte, anschließend griff sie nach ihrem
Stab, der neben ihr auf dem Boden gelegen hatte.
"Laoit finden", flüsterte sie und die
Rauchsäule erschien in der Mitte der Lichtung. Sie war schwarz.
"Oh", entfuhr es Nitalia überrascht.
"Was?" Daminium trat auf sie zu.
"Laut dem Zauber müsste sich der Laoit
hier auf der Lichtung befinden, direkt vor uns."
"Toll." Daminium stöhnte. "Wahrscheinlich
habt Ihr zu viel Kraft verbraucht, weil Ihr gegen den Dämon gekämpft
habt."
Sie schüttelte den Kopf. "Sicher nicht.
Wenn der Zauber sagt, der Laoit ist hier, dann ist er hier."
"Ich sehe nichts. Ihr etwa?"
Nitalia blickte um sich, entdeckte allerdings
ebenfalls nichts. "Seltsam ..."
Sie kniete auf den Boden nieder und tastete
ihn ab, immer näher zur Rauchsäule hin. Ein Keuchen entrang sich
ihrer Kehle und sie stoppte jäh.
"Sieh dir das an!" Sie deutete auf den Sockel
der Rauchsäule.
"Was?" Brummig robbte der Söldner neben
sie.
"Die Rauchsäule zeigt in den Boden. Er
ist unter uns!"
Daminiums Augen weiteten sich und er sprang
auf, sie mitziehend. "Komm", befahl er barsch und riss sie hinter sich
her.
Nitalia stolperte und die Übelkeit kehrte
zurück. Ihr Magen rotierte, hüpfte auf und ab und sie hob sich
die Hand vor den Mund. Der Söldner führte sie in den Wald zurück,
zu einer Höhle, vor der er stehen blieb.
"Die habe ich entdeckt, während ich nach
einem geeigneten Lager für Euch suchte. Wetten, sie führt unter
die Lichtung?"
"Hoffentlich", erwiderte Nitalia, trotz der
aufsteigenden Angst, und betrat die Höhle hinter ihm.
Ihr Herz raste bei der Vorstellung, auf wen
sie bald treffen würden: einen Priester oder einen Magier mit dem
Laoit. Er würde nicht so leicht zu besiegen sein wie der Dämon
und dieser hatte Nitalia schon all ihre Kräfte abverlangt.
Tropfen, die von den Wänden auf die Erde
plitschten und ihre Schritte waren die einzigen Geräusche in dem langen
Gang. Geröll und Rattenskelette lagen auf dem Boden, außerdem
roch es nach Moder und verfaultem Obst. Nitalia rümpfte die Nase.
'Wer lebt freiwillig in so einem Mief?'
Nachdem die Dunkelheit zu groß wurde,
entzündete Nitalia den runden Kreis auf der Spitze ihres Magierstabes.
Daminium behielt Recht. Zumindest von der Richtung her liefen sie unter
die Lichtung. Nitalias Körper bebte, ihr Stab zitterte und der Lichtpegel
schwankte bedrohlich. Schließlich drang ihnen Licht am Ende einer
Biegung entgegen. Nitalia nahm den Zauber von ihrem Stab und schlich hinter
dem Söldner zu der Quelle des Lichtes. Er spähte um die Ecke,
drückte Nitalia gegen die Wand.
"Was ist?", wisperte sie.
Er antwortete nicht, verbot ihr mit einem
wütenden Funkeln den Mund.
Es nützte nichts.
"Wer ist da?"
Daminium zog sein Schwert, erdolchte sie mit
seinem Blick und stürzte aus der Ecke hervor. Nitalia folgte, den
Magierstab hoch erhoben, blieb jedoch, wie Daminium, in der Biegung stehen.
Vor ihnen weitete sich der Gang zu einer breiten
Höhle. Bücherregale, zwei Betten, Stühle und ein Tisch zierten
ihr Inneres. Der Gestank war einem lieblichen Blumenduft gewichen und feucht
schien es in der Höhle ebenfalls nicht. In einem der Betten lag eine
ältere Frau und neben ihr stand ein weißhaariger Mann. Nitalia
sog scharf die Luft ein, als sie den Gegenstand erkannte, den er über
die Frau hielt: der Laoit!
"Was tun sie da?", fragte sie entsetzt.
Bevor der Mann antworten konnte, schnitt Daminium
ihm das Wort ab: "Ergib dich, oder du bist des Todes!"
Ein Grinsen legte sich auf die ausgetrockneten
Lippen des Alten und er hob eine seiner dünnen Brauen. "Ihr beide
wollt mich töten? Ein Söldner und eine Novizin? Amüsant.
Wirklich amüsant."
Daminium schnaubte. "Unterschätze deine
Gegner nicht, alter Greis!"
"Ich unterschätze euch nicht. Ich sah
euch kämpfen und weiß, was ihr leisten könnt. Allerdings
will ich euch nichts tun. Geht und zwingt mich nicht dazu, euch gewaltsam
dazu zu verleiten. Ihr würdet sowieso verlieren." Beim letzten Satz
nagelte er Nitalia fest.
Die Novizin schluckte. "W-wofür braucht
ihr unseren Laoit?"
"Das ist doch egal", fauchte Daminium.
Nitalia sah den Magier fragend an.
"Meine Frau ist sehr krank. Nur der Laoit
vermag sie zu heilen."
"Dann heilt sie und gebt ihn uns wieder."
"Spinnst du?" Er räusperte sich. "Ihr
lasst ihn den Laoit benutzen?"
"Nach diesem Zauber wird er nicht mehr zu
gebrauchen sein, junge Novizin."
"Oh ..."
'Und was mache ich jetzt?'
"Gibt es keine andere Möglichkeit, sie
zu heilen?"
Der Magier schüttelte den Kopf. "Ich
bin nicht mächtig genug, also seid Ihr es noch weniger."
"Und wenn wir unsere Macht kombinieren?"
"Ihr wollt Euch mit ihm verbünden - Novizin,
Ihr ..."
"Sei endlich still!", schrie Nitalia. "Wir
haben keine Chance gegen ihn, also lass mich reden."
"Das bringt nichts", erwiderte der Alte. "Selbst
unsere Macht kombiniert ..."
"Ich werde es mit einem Wasserzauber probieren",
beschloss Nitalia.
Der Alte schüttelte den Kopf. "Tut, was
Ihr nicht lassen könnt. Es wird nichts bringen und den Laoit werde
ich Euch nicht geben, solange meine Frau im Sterben liegt."
Nitalia trat neben das Bett und musterte die
Kranke. Schlaffe Züge umspielten die faltigen Wangen und dünne,
graue Strähnen klebten an der verschwitzten Stirn.
'Die Arme ...'
"Heilendes Wasser", murmelte sie, den Blick
fest auf die geschlossenen Lider gerichtet.
Der bläuliche Strahl entwich, begleitet
von einem rauschenden Summen, drang in die Nase, den leicht geöffneten
Mund und die Ohren ein und verteilte sich über den ganzen Körper.
Die Lider hoben sich, gaben die Augen frei. Strahlende Augen. Braune Augen.
Warme Augen. Ein Lächeln verzog die Mundwinkel und sie meinte Worte
ablesen zu können, deren Sinn sie nicht verstand. Das Glänzen
in den Augen und das Lächeln verschwanden mitsamt dem Wasser. Der
Blick wurde stumpf und ihr Kopf sackte zur Seite. Nitalia keuchte auf und
sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
'Was ist passiert? Was habe ich getan?'
Ein spitzer Schrei und ein glockenähnlicher
Schlag riss sie vom Anblick des leblosen Körpers los. Der Magier stürzte
mit leeren Händen neben seiner Frau nieder, schüttelte sie, tastete
nach ihrem Puls und schrie gleichzeitig vor Schmerz. Nitalias Herz raste.
Tränen traten in ihre Augen.
'Ich habe sie getötet. Ich habe sie umgebracht.
Ich habe sie getötet!'
Der kalte Brustpanzer Daminiums streifte ihren
nackten Unterarm. Ihr Begleiter hatte sich gebückt und nach einem
Gegenstand gegriffen: der Laoit!
"Komm! Schnell." Er packte sie am Oberarm
und zog sie hinter sich her. Sie stolperte hinter dem Söldner her,
den Blick weiterhin auf den Magier gerichtet, der sein Gesicht in den Haaren
der Frau vergraben hatte. Schließlich entglitt der Alte ihrer Sicht,
doch sein Weinen verfolgte sie. Es klang ihnen nach, bis sie die Höhle
weit hinter sich gelassen und tief in den Wald eingetaucht waren.
An den Rückweg erinnerte sich Nitalia
nur dunkel. Irgendwann waren die Klagelaute verstummt und sie hatten den
Wald verlassen. Beim Tempel angekommen hatte ein Diener sie auf ihr Zimmer
geführt. Sie war ins Bett gefallen und eingeschlafen, vor ihrem inneren
Auge den leeren Blick der Frau und in ihren Ohren das Jammern des Magiers.
Schon zu Beginn des Amselgesangs war sie aufgewacht
und seitdem lag sie in ihrem Bett und dachte über die Geschehnisse
nach. Zu einem Schluss kam sie nicht. Sie wusste einfach nicht, was sie
falsch gemacht hatte. Oder lag es nur an ihrer Schusseligkeit? Hatte diese
lästige Eigenschaft nun ein Menschenleben gefordert? Sie schauderte.
'Nein. Das darf nicht sein. Nur deswegen.
Es ist alles meine Schuld.'
"Das ist nicht wahr."
Nitalia fuhr herum.
Siburash stand hinter ihr und lächelte
sie an.
Halb erleichtert, halb beunruhigt ließ
sich Nitalia in die Kissen zurücksinken. "Daminium hat den Laoit überbracht?"
Siburash nickte. "Er hat uns alles erzählt"
- Nitalia hielt die Luft an - "und Ihr werdet Euch sicherlich freuen zu
hören, dass Ihr eure Prüfung bestanden habt. Beim nächsten
Vollmond werdet Ihr zusammen mit den übrigen Novizinnen zur Priesterin
geweiht."
'Also hat er NICHT alles erzählt. Es
ist nicht verdient.'
Nitalia sah starr gerade aus, wusste nicht,
was sie erwidern sollte. Schließlich antwortete sie: "Daminium wird
Euch nicht die volle Wahrheit gesagt haben."
"Er hat uns jedes kleinste Detail berichtet."
Nitalia lachte heiser. "Hätte er das
getan, so wäre eure Entscheidung nicht gerecht."
"Ihr zweifelt unser Wissen an." Der Tonfall
des Hohepriesters war weder vorwurfsvoll noch wütend, doch Nitalia
fühlte sich ertappt. "Was glaubt Ihr, hat er uns nicht erzählt?"
Nitalia schluckte. Eine einsame Träne
rollte ihre Wange hinab. Nitalia wischte sie mit dem Handrücken ab.
Hoch, beinahe piepsig, antwortete sie: "Ich
habe gemordet."
Ein Schluchzen entwich ihr und sie biss in
ihren Arm, um nicht loszuheulen.
Das Bett federte unter dem Gewicht Siburashs.
"Nein, Novizin, das habt Ihr nicht."
"Er hat Recht."
Nitalia sah auf. Daminium lehnte im Türrahmen,
musterte sie mit einem unergründlichen Blick. Er war lange nicht so
kalt, wie bei ihrer ersten Begegnung. Sie meinte sogar eine Spur Freundlichkeit
in den dunklen Augen zu erkennen. Fast hätte sie sich darin verloren,
wäre ihr nicht im letzten Moment die Bedeutung der Worte klar geworden.
"Es stimmt", hauchte sie, "ich habe gemordet.
Die Frau war krank. Ich wollte ihr helfen und stattdessen hab ich sie -
habe ich sie ..." Ein weiterer Schluchzer entwich ihr, trotzdem fuhr sie
fort, bevor Daminium und Siburash ihr widersprechen konnten. "Das liegt
nur an meiner Schusseligkeit! Ich habe den Zauber falsch ausgesprochen
und statt sie zu heilen, hat er sie getötet."
"Nein, junge Novizin." Daminium schüttelte
den Kopf. "Hört euren Meister an. Er wird es Euch erklären."
Ein wohliger Schauer umfing Nitalia bei seinen
Worten und sie fühlte sich geborgen. Fragend blickte sie den Hohepriester
an.
Siburash seufzte. "Seht Ihr, Nitalia, manchmal
haben Zauber ihren eigenen Kopf. Du wolltest sie heilen - und das hat der
Zauber getan. Er hat sie erforscht, nach der Ursache für ihre Krankheit
gesucht, sie herausgefunden und sie davon geheilt."
"Sie ist tot!", brüllte Nitalia. "Tot!
Und das meinetwegen! Ich ..."
Siburash hob die Hand und augenblicklich entwich
Nitalias Mund nur noch die verbrauchte Atemluft.
"Ihr seid zu ungestüm, Nitalia. Lasst
mich aussprechen: Die Frau war alt. Deshalb war sie krank. Ihre Krankheit
war der Fluch des Lebens, des Alterns. Sie war müde und wollte nicht
mehr. Der Zauber hat sie von dieser 'Krankheit' erlöst und ihr Frieden
gebracht. Glaubt mir, es war besser für sie."
"Der Magier sah dies anders", erwiderte Nitalia,
erleichtert feststellend, dass sie wieder reden konnte.
"Er wird es einsehen." Siburash strich ihr
über den braunen Haarschopf und erhob sich. "Nun entschuldigt mich.
Ihr habt bereits einen großen Teil meiner Zeit geraubt, Novizin.
Ich erwarte von Euch, dass Ihr mit diesen Geschehnissen abschließt
und Euch eurer Ausbildung zuwendet. Obwohl Ihr bald den Rang einer Priesterin
erhalten werdet, habt Ihr sehr viel zu lernen. Vergesst das nicht."
"Das werde ich nicht."
'Nein, das nicht ... und dennoch kann ich
nicht so einfach damit abschließen. Wie lange sie mich wohl in meinen
Träumen verfolgen wird?'
Siburash verabschiedete sich und verließ
sie raschen Schrittes. Daminium blieb in der Tür stehen und musterte
Nitalia abwartend. Das Schweigen erdrückte die Luft.
Schließlich hielt Nitalia es nicht mehr
aus und fragte den Söldner: "Was habt Ihr nun vor?"
Daminium hob die Schultern. "Ich habe durch
diesen Auftrag eine Menge Gold verdient. Vermutlich werde ich mir eine
Weile Urlaub gönnen. Ihr bleibt hier im Tempel?"
"Selbstverständlich", entrüstete
sich die Novizin.
Ein dreckiges Grinsen erschien auf seinem
Gesicht. "Schade eigentlich."
"Wieso?"
Er winkte ab.
'Typisch Söldner! Aber ohne ihn wäre
ich jetzt nicht hier.'
"Danke", flüsterte sie.
Daminium nickte. "Gern geschehen."
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