"Weißt du, was im Osten liegt!?" Jahn
musste schreien, um den scharfen Wind zu übertönen, der wie mit
unsichtbaren Händen an seinen Haares riss.
"Klar", antwortete der Drache, "die Stadt
Terbar. Aber es ist besser, wenn ich mich dort nicht sehen lasse"
"Und warum?"
"Weißt du, die meisten Ritter, die mich
früher zum Kampf herausgefordert haben, kamen von dort. Und nur sehr
wenige sind zurückgekehrt. Deshalb bin ich in der Stadt als mordendes
Monster bekannt. Manche nennen mich auch den goldenen Tod. Wenn ich dort
mit dir auftauche, würde sich kein Mensch auf die Strasse trauen.
Aber ich werde dich weit genug vor den Toren der Stadt absetzen, dass du
keine Schwierigkeiten bekommen wirst, auf jeden Fall nicht wegen mir."
"Was soll das heißen, nicht wegen dir?"
Jahn war der leicht nervöse Unterton in Hormars Worten nicht entgangen.
"Die Stadt kann gefährlich sein", antwortete
der Drache. "Es treibt sich ziemlich viel Gesindel dort herum, das nur
darauf lauert, reichen Leuten in einer dunklen Ecke die Gurgel durchzuschneiden,
oder auch kleinen Jungen, da sind sie nicht wählerisch. Aber wenn
du auf der großen Straße bleibst, wird dir nicht geschehen."
Jahn verzichtete darauf, Hormar zu sage, was
er von dem `kleinen Jungen` hielt, auf jeden Fall solange sie sich so hoch
in der Luft befanden, und suchte lieber den Horizont nach Terbar ab. Er
gab sich nicht der Illusion hin, dass es sich dabei um eine Stadt wie seinen
Heimatort handelte, dazu unterschied sich Aretin zu sehr von seiner Welt,
aber er war doch überrascht, als Terbar hinter einer Hügelkette
auftauchte.
Die Stadt sah aus, als wäre eine Filmgruppe
gerade dabei, die Fortsetzung von Richard Löwenherz in Szene zu setzen.
Die mittelalterlichen Häuser duckten sich hinter eine riesige Stadtmauer,
die nur von wenigen Toren durchbrochen wurde, die jedoch einladend offen
standen. In der Mitte der Stadt erhob sich auf einem freien Platz eine
wuchtige Burg, auf deren Zinnen bunte Fahnen im Wind flatterten. Aber trotz
des eher feindseligen Eindrucks, den die Stadt von weitem machte, herrschte
in den Straßen ein buntes Treiben und auf dem Platz vor der Burg
war ein lebhafter Markt im Gange. Und weit und breit war nicht ein einziger
Soldat zu sehen, der die Mauern und Tore der Stadt bewachen würde.
Allem Anschein nach war die Macht Xarkurs noch nicht bis hierher vorgedrungen.
Der Drache begann in engen Schleifen zu sinken,
bis er sich auf einer Lichtung in einem Wäldchen nahe der Stadt niederließ.
Zu Jahns großer Erleichterung verzichtete er diesmal darauf, die
letzten fünfhundert Höhenmeter in einem Sturzflug zurückzulegen.
Trotzdem war er froh, als er wieder festen Boden unter den Füßen
hatte.
"Glaubst du, jemand in der Stadt kann mir
sagen, wo wir Demian finden können?" frage Jahn
"Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.
Und wenn nicht, musst du dir auf jeden Fall neue Kleider besorgen, in der
Stadt wirst du auffallen wie ein terbolischer Wislaf."
Jahn fragte lieber nicht, was um alles
in der Welt das nun wieder für ein Vieh war, aber dem fiesen Grinsen
Hormars´ nach war es bestimmt kein Kompliment gewesen. Und zudem
hatte der Drache recht. Als er seinen Blick an seinen Kleidern herunterwandern
lies, nahm er zum ersten mal bewusst wahr, wie sehr sie in den letzten
Tagen gelitten hatten. Sein T-Shirt war zerrissen und so dreckig, das man
die Grundfarbe bestenfalls noch erraten konnte und auch seine Jeans bot
einen traurigen Anblick. Von den Turnschuhen gar nicht zu reden! Außerdem
konnte Jahn sich nicht vorstellen, dass die Menschen hier nach der neuesten
Mode seiner Welt gekleidet waren. Jahn verfluchte sich innerlich dafür,
nicht selbst auf diesen naheliegenden Gedanken gekommen zu sein.
"Sie zu, dass du wieder hier bist, bevor es
dunkel wird, ich werde auf dich warten." Mit diesen Worten rollte sich
Hormar zusammen, legte seinen Kopf auf seinen Schwanz und schloss die Augen.
Langsam beschlich Jahn der Verdacht, dass Drachen entweder nachtaktiv waren
oder die größten Schnarchzapfen dieser Welt. Aber das sagte
er Hormar vorsichtshalber nicht, sondern ging durch den Wald auf die Stadt
zu.
Der Weg war weiter als er angenommen hatte,
und er brauchte fast eine ganze Stunde, bis er eines der großen Tore
erreicht hatte. Als er es durchschritt, war es ihm, als würde er von
einem Moment zum anderen in eine neue und aufregende Welt versetzt. Überall
auf der Straße tummelten sich die Menschen, lachten miteinander oder
huschten geschäftig hin und her. An einer Straßenecke sah Jahn
sogar einige Gaukler, die die Menge mit ihren Scherzen und Kunststücken
unterhielten und dafür mit kleinen Münzen, die in einen an einem
Stab befestigten Stiefel geworfen wurden, belohnt wurden. Und trotz des
allgemeinen Frohsinns, der um ihn herum herrschte, wurde Jahn das Gefühl
nicht los, als würde ihn jemand anstarren.
"Was habe ich denn erwartet", dachte Jahn
bei sich, "Ich bin fremd hier und sehe in ihren Augen bestimmt sehr auffällig
aus. Kein Wunder, dass mich manche Leute nachstarren."
Dieser Gedanke beruhigte ihn wieder und er
bewegte sich weiter auf das Zentrum der Stadt zu, das er von weitem schon
gesehen hatte.
Auf dem Markt herrschte ein unglaubliches
Gedränge. Zwischen den offenen Ständen und Zelten, in denen die
Waren angeboten wurden, drängten sich Tausende von Menschen Trotzdem
gelang es Jahn, zielstrebig auf einen Stand zuzusteuern, der Gewänder
aller Art verkaufte.
"Hallo, mein Junge", begrüßte ihn
die Frau auf der anderen Seite des Standes, "was kann ich für dich
tun?"
Jahn verkniff sich angesichts der Tatsache,
dass es hier nur Kleider zu kaufen gab eine dumme Antwort wie `Einmal Pommes
mit Ketchup bitte´ und sagte höflich:
"Ich sollte mich wohl komplett neu einkleiden,
die letzten Tage sind meinen Sachen nicht gut bekommen."
"Das sehe ich", antwortete die Händlerin.
"Anscheinend bist du darin einige Berghänge heruntergerollt. Dann
wollen wir mal sehen, was wir für dich haben..."
Und zehn Minuten später sah Jahn aus
wie ein neuer Mensch. Er trug nun eine ledernes Gewand, das ihm bis zu
den Knien reichte und von einem breiten Gürtel aus dem gleichen Material
zusammengehalten wurde, in dem sogar ein kleiner Dolch steckte. Dazu eine
– natürlich lederne – Hose und ebensolche hohen Stiefel.
"Das macht dann zusammen 1 Goldstück
und 20 Silberlinge"
Jahns Herz machte einen kleinen Sprung! Woher
sollte er hiesiges Geld nehmen? Aber da fühlte er plötzlich ein
ungewohntes Gewicht an seinem Gürtel zerren, das einen Augenblick
vorher noch nicht da gewesen war. Erstaunt griff er nach dem Beutel der
alten Margan schüttete sich den neuen Inhalt auf die Hand. Es waren
genau ein Goldstück und zwanzig Silberlinge! Mit einem stillen Dank
in Richtung Elementenfee legte er die Münzen auf den Tisch und schlenderte
weiter über den Markt.
Das Gefühl, beobachtet zu werden war
plötzlich so intensiv, dass Jahn schauderte. Nervös schaute er
sich um, aber er konnte niemand entdecken, der ihn anstarren würde.
Und trotzdem! Jahn beschleunigte seine Schritte, um nach wenigen Minuten
plötzlich an einem Stand mit Teppichen stehen zu bleiben. Er gab vor,
sehr an den ausgelegten Waren interessiert zu sein, in Wirklichkeit musterte
er sehr aufmerksam die Strasse hinter sich. Wahrscheinlich hätte er
wieder nichts besonderes bemerkt, wenn in diesem Moment nicht ein Mann
ziemlich hastig um eine Ecke gebogen wäre und ziemlich unsanft mit
jemandem zusammenstieß. Erst als Jahn genauer hinsah, fiel ihm die
Gestalt auf, die dort im Schatten an die Mauer gelehnt stand. Und obwohl
er nun wusste, worauf er zu achten hatte, konnte er die Gestalt, die die
Kapuze ihrer Mönchskutte tief ins Gesicht gezogen hatte, nicht genau
erkennen. Auf irgendeine für Jahn unerklärliche Art schien sie
mit dem Schatten zu verschmelzen, in dem sie stand und sich so seinem Blick
zu entziehen.
Mit einer spielerischen anmutenden Armbewegung
stieß sie den Mann, der sie angestoßen hatte, zur Seite und
richtete ihren Blick direkt auf Jahn. Er spürte, wie eine eiskalte
Faust nach seinem Herzen griff. Es war ein Gefühl, als würde
er bei lebendigem Leib tiefgefroren, und es breitete sich rasend schnell
über seine ganzen Körper aus. Gleichzeitig fühlte er, wie
etwas in seinen Gedanken stöberte, ein fremdes Bewusstsein sich in
seinem Kopf ausbreitete und jedes noch so kleine oder gut gehütete
Geheimnis entdeckte. Alles, was er wusste und alles was er war wurde aus
seinem Kopf gesogen und von dem Schatten gierig aufgenommen. Wenn er sich
nicht bald aus dieser Umklammerung lösen konnte, würde er hier
zu einer Eisstatue erstarren! Mit dem ganzen Willen, der ihm noch geblieben
war, riss er seinen Blick von dem Fremden los und unterbrach so die schrecklich
Verbindung zwischen ihnen. Obwohl das alles höchstens Sekunden gedauert
haben konnte, war er in Schweiß gebadet und sein Herz schlug so schnell,
als wollte es zerspringen. Zu Tode erschöpft taumelte Jahn weiter,
bog wahllos in enge Seitengassen ein und änderte so oft seine Richtung,
bis er sicher war, den Schatten abgeschüttelt zu haben. Dann stürzte
er sich förmlich in das nächste beste Zelt, mit der feste Absicht
so lange darin zu bleiben, bis er sicher sein konnte, dass der Fremde nicht
mehr nach ihm suchte.
Das Zwielicht im Inneren ließ ihn seine
Umgebung im ersten Moment nur schemenhaft erkennen, aber er sah, dass der
ganze Raum von verschiedenen Käfigen gefüllt war, die neben-
und übereinander standen. Und je mehr sich seine Augen an die Dämmerung
gewöhnten, desto erstaunter sah er sich um. In den Käfigen befand
sich die erstaunlichste Sammlung von Geschöpfen, die er je zu Gesicht
bekommen hatte. Neben vielen verschiedenen Drachenarten – Jahn hatte nicht
gewusst, dass es so kleine Drachen überhaupt gab – sah er vogelähnliche
Wesen mit Fledermausflügeln, sechsbeinige Tiere, die ihn an Ratten
erinnerten, nur dass sie in allen regenbogenfarben schillerten und Geschöpfe,
die er in freier Wildbahn nicht einmal als Tiere erkannt hätte, so
erstaunlich sahen sie aus. Die nächste halbe Stunde verbrachte Jahn
damit, staunend von einem Käfig zum anderen zu gehen und sich die
Bewohner dieser Welt genauer anzusehen.
"Interessierst du dich für ein Haustier?"
Jahn fuhr erschrocken herum. Die Stimme gehörte
dem Inhaber dieses Ladens, wie Jahn automatisch annahm. Seine Gedanken
überschlugen sich. Wenn er jetzt nein sagte, stand es zu erwarten,
dass Jahn ohne viel Federlesens vor die Tür gesetzt wurde. Und das
war das letzte, was er jetzt wollte. Also sagte er:
"Ja, ich wollte schon immer ein Haustier haben.
Das da hinten gefällt mir besonders gut."
Und deutete dabei ziemlich wahllos in eine
der Ecken des Zeltes. Der Blick des Mannes folgte seinem ausgestreckten
Arm und seine Augen leuchteten auf. Irgendwie hatte Jahn den Eindruck,
er witterte eine Chance, Jahn über den Tisch zu ziehen.
"Eine ganz ausgezeichnete Wahl, der junge
Herr, dieser junge Wandeldrache wird dir noch sehr viel Freude bereiten.
Komm mit, damit du dich mit ihm vertraut machen kannst." Mit diesen Worten
packte er Jahn am Ärmel und zog ihn zu einem kleinen Käfig. Der
kleine Drache, der darin gefangen war, hatte kaum Platz genug, sich umzudrehen
und schaute Jahn aus traurigen Augen an.
"Es ist ein Weibchen, wie du sicher schon
gesehen hast und stammt aus der großen Ebene sehr weit im Osten von
hier. Der Händler, der es hergebracht hat, hat sein Leben riskiert
um es hier zu verkaufen. Nur ein glückliches Schicksal hat ihn gerettet:
Er ist einem alten Magier begegnet, der ihn vor den Barbaren der Ebene
gerettet hat. Aber das gehört ja nicht hierher."
Genau das fand Jahn auch und nickte trotzdem
wissend mit dem Kopf, als wäre er selbst schon dort gewesen. Obwohl...
ein Magier im Osten, der jemandem das Leben gerettet hatte? Sollte das
etwa...? Krampfhaft überlegte er, wie er das Gespräch wieder
auf den Magier bringen konnte, ohne zu sehr aufzufallen. Er runzelte die
Stirn, als ob er dem Händler nicht glauben würde.
"Ich denke, man hat sie betrogen", sagte er
zweifelnd, "ich weiß zufällig genau, dass im Osten gar kein
Magier mehr lebt. Wahrscheinlich wollte ihr Freund nur den Preis hochtreiben."
"Aber das kann doch gar nicht sein, ich kenne
den Händler schon seit Jahren und er hat mich noch nie betrogen. Er
hat mir sogar den Namen gesagt... warte einen Moment, ich glaube Dermitan
... oder so ähnlich."
Jahn konnte sein Glück nicht fassen.
Schon bei der ersten Gelegenheit erfuhr er, wo sich der Magier, den sie
suchten, befand. Das konnte doch gar nicht sein, oder doch? Und woher sollte
der Tierverkäufer auch von seiner Suche wissen? Jahn konnte den Gedanken
nicht weiter verfolgen, denn schon fuhr der Mann fort, seinen Wandeldrachen
anzupreisen.
"Sei dem aber wie es sei, dieser Drache ist
auf jeden Fall ein ganz besonderes Stück. Ich habe ja gleich gesehen,
dass du etwas besonderes suchst, schon als du hereingekommen bist."
Mit einem Griff öffnete er den Käfig
und zog den kleinen Drachen an einem Flügel heraus.
"Hier, nimm ihn doch einmal in den Arm", sagte
er und setzte Jahn den Drachen in die Arme. Wieder überraschte ihn
die Wärme, die von dem Tier ausging. Und das Gewicht des Drachen.
Es war beinahe so, als würde er schweben, so leicht kam er Jahn vor.
"Was soll er den kosten? Er ist doch bestimmt
sehr teuer, oder?"
"Teuer?" Der Händler sah Jahn empört
an. "Bei mir ist nichts teuer. Nur zehn Goldstücke kostet der Kleine
da. Wenn das teuer ist, will ich mich sofort vom goldenen Tod holen lassen"
Jahn konnte gerade noch ein Grinsen unterdrücken, wenn er daran dachte,
wie nahe der goldene Tod sich vor den Toren der Stadt befand – und wahrscheinlich
selig vor sich hinschlummerte. Gerade wollte er das Angebot ablehnen, da
fühlte er wieder, wie der Beutel an seinem Gürtel sich füllte.
"Also gut, ich nehme ihn. Zehn, hast du gesagt?"
Und er zählte die Goldstücke in die ausgestreckte Hand des Händlers.
Und mit einem Drachen im Arm verließ er das Zelt.
Im Sonnenlicht sah Jahn erst, wie schön
das Tier war. Vom Körperbau her ähnelte es Hormar sehr, aber
seine Knopfgroßen Schuppen leuchteten Smaragdgrün und seine
goldenen Augen blickten Jahn an.
"Tja, und was mache ich jetzt mit dir?" murmelte
er vor sich hin. Der kleine Drache spitzte die Ohren und sagte zu Jahns
großer Verblüffung
"Wie wäre es, wenn du mich einfach zu
dir nach Hause mitnimmst, schließlich hast du für mich gezahlt!
Und das nicht zu knapp, das Schlitzohr hat dich nämlich ziemlich übers
Ohr gehauen, weißt du?"
Fast hätte Jahn den Drachen fallen gelassen,
aber im letzten Moment griff er noch einmal zu.
"Trotzdem vielen Dank, dass du mich aus den
Klauen von Jeremas gerettet hast, ich glaube, lange hätte ich das
Eingesperrt sein nicht mehr ertragen."
"Und es würde dir nichts ausmachen, als
mein Haustier zu leben?" Jahn konnte es nicht fassen, dass ein so offensichtlich
intelligentes Geschöpf sich freiwillig in eine Art Sklaverei begab.
Traurig schaute der Drache zu ihm hoch:
"So lange ich dieses verdammte Halsband trage,
dass mir der Drachenfänger angelegt hat, habe ich keine Wahl. Glaubst
du wirklich, ein Mensch könnte mich halten, ohne Magie zu verwenden?!"
Die Trauer in seinem Blick war einem lodernden Zorn gewichen. Jahn konnte
regelrecht spüren, wie lange dieses Geschöpf schon gefangen war
und was das für einen Drachen bedeuten musste. Und bei genauerem Hinsehen
fand er wirklich ein dünnes Halsband, dass genau dieselbe Farbe hatte
wie der Drache. Ohne zu überlegen zog er den Dolch aus seinem Gürtel
und befreite das Wesen von der magischen Fessel. Erstaunt blickte der Drache
Jahn ins Gesicht
"Warum hast du das getan?" fragte es und Jahn
konnte das maßlose Erstaunen aus seinen Worten heraushören.
"Du weißt doch, dass du jetzt keine Gewalt mehr über mich hast"
"Da, wo ich herkomme ist es schon lange verboten,
jemanden gegen seinen Willen festzuhalten, auf jeden Fall, wenn er nichts
verbrochen hat." Sagte Jahn.
"Dann musst du von sehr weit herkommen, von
so einem Land haben ich noch nie gehört" sagte der Drache.
`Da könntest du sogar recht haben´
dachte Jahn bei sich, `sogar von einer anderen Welt!´ Aber da ihn
dieses Thema unangenehm war, wechselte er schnell das Thema.
"Und was wirst du jetzt tun?"
Der Drache überlegte kurz und antwortete:
"Wenn du nichts dagegen hast, würde ich
gerne bei dir bleiben, bis ich meine Schuld dir gegenüber beglichen
habe. Immerhin hast du mir das Leben gerettet und die Freiheit wiedergegeben."
Mit diesen Worten breitete sie ihre Flügel
aus und schwang sich mit einigen flatternden Schlägen auf seine linke
Schulter.
"Ich heiße Jahn", sagte Jahn in Richtung
seines neuen Freundes. "Und wie soll ich dich nennen?"
"Mein Name ist EstargdaMehiRaluneDa"
Jahn glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
Das würde er sich nie merken können.
"Äh, würde es dir viel ausmachen,
wenn ich dich Esmeralda nennen würde, sonst verknote ich mir jedes
Mal die Zunge, wenn ich dich anspreche?"
EstargdaMehiRaluneDa lachte leise, was sich
bei ihr anhörte, als würde ein unendlich sanfter Hauch ein Windklangspiel
zum klingen bringen.
"Ich habe mir schon gedacht, dass mein Name
dir zu kompliziert sein würde. Esmeralda, ja das hört sich gut
an. Also abgemacht."
Mit seiner neuen Freundin auf der Schulter
machte sich Jahn auf den Weg zurück zum Stadttor. Dich schon nach
wenigen Schritten wurde die Luft um ihn herum eiskalt. Es war, als wäre
er durch die Tür eines Kühlraums gelaufen. Jahn musste husten,
als er den ersten Atemzug in dieser Kälte tat. Und auch Esmeralda
auf seiner Schulter begann plötzlich zu zittern. Im ersten Moment
fühlte Jahn sich verwirrt. Das war einfach unmöglich, in Aretin
herrschte zur Zeit Sommer! Aber schon im nächsten Augenblick beschlich
ihn eine furchtbare Ahnung. Mit schnellen Blicken sah er sich nach dem
Schatten in der Mönchskutte um, und tatsächlich sah er ihn in
einem dunklen Winkel hinter einem der Zelte stehen. Sofort schaute Jahn
in eine andere Richtung, um sich nicht wieder dem Blick des Unbekannten
auszusetzen. Aber dieser stand nur da, die Arme in einer beschwörenden
Geste ausgebreitet. Alarmiert bemerkte Jahn, wie sich die Atmosphäre
um ihn herum veränderte. Nicht nur, dass es immer kälter wurde,
die Menschen um ihn herum hörten auf, ihren Geschäften nachzugehen
und blieben stehen. Es sah so aus, als würden sie auf eine Stimme
hören, die Jahn verborgen blieb. Die Fröhlichkeit verschwand
aus ihren Gesichtern in gleichem Maße, wie sich dort Ärger breit
machte. Immer mehr Menschen fuhren herum und starrten Jahn an. Ihre Züge
verzerrten sich zu blankem Hass, den er erst einmal in dieser Intensität
gesehen hatte: Bei dem Kampf am See. Ein Mann hob einen apfelgroßen
Stein vom Boden und warf ihn in Jahns Richtung!
"Um Gottes Willen, Esmeralda, mach dass du
wegkommst, die sind verrückt geworden!" schrie Jahn, fuhr herum und
rannte zurück, die Straße hinauf.
"Lauf, Jahn, ich hole Hilfe!" rief Esmeralda
und verschwand blitzschnell über den Dächern.
Hinter sich hörte Jahn die Menge aufschreien,
und er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass der Mob sich
auf die Verfolgung gemacht hatte. Immer mehr Steine, Holzstücke und
sogar Schuhe prasselten um Jahn herum auf den Boden. Dass er noch nicht
ernsthaft getroffen worden war, erschien ihn wie ein Wunder. Haken schlagend
wie ein Hase rannte Jahn die Strasse hinauf. Ein hastiger Blick zurück
überzeugte ihn schnell davon, noch schneller weiterzulaufen. Zwar
blieb die Menge etwas hinter ihm zurück, da sie sich in ihrem Eifer,
ihn zu schnappen, gegenseitig behinderten. Aber aufgeben würden sie
erst, wenn sie ihn hatten.
Jahn wusste nicht mehr, wie lange er schon
gerannt war. Er war immer wieder in kleine Gassen abgebogen und ab und
zu hatte er die Meute aus den Augen verloren, aber immer wieder tauchte
sie auf, als würde sie jemand führen, der genau wusste, wo er
sich befand. Seine Lungen brannten wie Feuer, seine Beine zitterten und
ein kleiner Teufel schien bei jedem Atemzug mit einem scharfen Messer in
seine Seite zu stechen. Erschöpft lehnte er sich gegen eine Mauer,
um wenigstens wieder etwas zu Atem zu kommen, als seine Verfolger schon
wieder um die Ecke bogen. Entsetzt zwang Jahn seinen Körper dazu,
weiterzulaufen, rannte in die nächste Seitengasse... und stand vor
einer Mauer. So breit die Gasse war, es war eine Sackgasse! Die Häuser
zu beiden Seiten standen dicht an dicht und nirgendwo war eine Tür
oder ein Fenster zu sehen. Verzweifelt rannte Jahn bis zu der Mauer und
lehnte sich zitternd mit dem Rücken dagegen, als auch schon die ersten
Verfolger auftauchten. Zu seiner Verblüffung sammelten sie sich am
andere Ende der Straße und schauten ihn nur schweigend an. Plötzlich
kam Bewegung in die Menge und sie bildeten einen schmalen Pfad. Jahn wusste,
wer da auf ihn zukommen würde, bevor er ihn sah. Es war der Schattenmönch.
Keiner der Menge schaute ihn auch nur an, es schien, als würden sie
ihn nicht wahrnehmen.
'Du bist also der Auserwählte, der
Aretin retten soll'
Jahn erschauderte, Die Worte bildeten sich
irgendwo in seinem Gehirn, ohne dass er sie wirklich hören konnte.
'Hast du wirklich geglaubt, uns mit deinem
mickrigen Wurm trotzen zu können? Du bist ein Narr und wirst wie ein
Narr sterben!'
Wieder fühlte Jahn die eisige Kälte
nach seinem Herzen greifen und dieses mal würde sie ihn töten.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht sank er zu Boden.
In diesem Moment erklang vom Himmel her ein
grässliches Fauchen und Hormar stürzte sich, die Sonne im Rücken,
auf die wartende Menge. Jahn erkannte seine Chance.
"Da, der goldene Tod, er wird uns alle vernichten!
RETTE SICH WER KANN!!" schrie er mit letzter Kraft. Die Wirkung war verheerend.
Jahn konnte regelrecht spüren, wie der Bann, unter dem die Menge stand,
zerbrach und sich eine Massenpanik ausbreitete. Die Leute rannten davon,
rissen sich gegenseitig über den Haufen und nicht wenige gingen zu
Boden, wo sie von der wilden Menge überrannt wurden. Ohne zu wissen,
was sie taten, stürmten viele der Menschen in die Sackgasse hinein,
so dass der Mönch von den Füßen gerissen wurde. Die eiskalte
Hand um Jahns Herz lockerte sich. Und über dem Getümmel stand
Hormar flügelschlagend in der Luft. Seine Kralle fuhr herunter, packte
Jahn unsanft und riss ihn in die Höhe. So schnell ihn seine Flügel
trugen flogen er und die grün schimmernde Esmeralda davon und ließen
die noch immer kopflos flüchtende Menge hinter sich.
Ihre Flucht endete nach wenigen Minuten an
einem kleinen Nebenfluss des Forams. Jahn lehnte sich gegen einen Felsblock,
wo er versuchte, seinen rasenden Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen.
"Wie bist du nur wieder in so einen Schlamassel
geraten, Kleiner?" fragte Hormar, seine Augen ungläubig auf Jahn gerichtet.
"Ihn trifft wirklich keine Schuld", antwortete
Esmeralda an seiner Stelle, "dieses Schattenwesen hat die Menge auf ihn
gehetzt."
"Du hast es auch gesehen Esmeralda?" fragte
Jahn erstaunt. Bisher hatte es den Anschein gehabt, nur er könne den
Schattenmönch sehen.
"Aber klar, hat dir Hormar noch nicht gesagt,
dass man Drachen nicht täuschen kann? Weder durch Worte noch durch
irgendwelche Blendzauber."
"Ihr habt euch also schon bekannt gemacht,
wenn ich das richtig sehe", sagte Jahn.
"Aber wie hast du Hormar denn überhaupt
gefunden, Esmeralda?"
"Ach", antwortete die Drachendame, "das war
purer Zufall. Ich sehe da einen großen Drachen im Wald liegen und
überlege schon, wie ich ihn überreden kann, dir zu helfen. Aber
kaum habe ich deinen Namen genannt, das springt er schon wie von der wilden
Tarantel gebissen auf und fliegt auf die Stadt zu. Den Rest kennst du ja."
"Kannst du mich jetzt auch mal darüber
aufklären, was in der Stadt vorgefallen ist?" fragte Hormar ungeduldig.
"Einer der Diener Xarkors war in der Stadt.
Er hat mich gesehen und verfolgt. Und er muss telepathisch veranlagt sein,
er..."
"Telepathisch?" warf Esmeralda dazwischen.
"Er kann Gedanken lesen, und noch mehr. Er
weiß jetzt, wer ich bin und was wir vorhaben. Er weiß sogar,
dass wir Demian suchen. Deshalb hat er die Menschen aufgehetzt und versucht,
mich zu töten. Aber was er noch nicht weiß, ist, dass wir jetzt
einen Führer bei uns haben, der uns zu dem Magier führen kann,
nicht wahr, Esmeralda?" Hormar schaute Esmeralda genauso verwirrt an wie
diese Jahn.
"Warum schaust du mich dabei so an? Ich weiß
nichts von diesem Magier. Wie soll ich euch da führen?"
"Der Händler, der dich mir verkauft hat,
sagte, ihr wäret in der großen Ebene von Barbaren verfolgt worden
und ein Magier hätte euch gerettet. Stimmt das etwa nicht?"
"Ach, das ist euer Magier? Ich dachte eher,
er wäre der Großvater aller Hutzelmännchen Aretins. Wenn
ihr den meint, zu dem kann ich euch führen, ja."
"Na wunderbar, kommt, lasst uns aufbrechen,
wir haben noch ein paar Stunden Tageslicht." In Hormars Augen glomm Hoffnung
auf. Anscheinend hatte er nicht wirklich damit gerechnet, diesen Demian
zu finden. Nachdem er Jahn hatte aufsteigen lassen, folgte er Esmeralda,
die wie ein kleiner, grün funkelnder Stern vor ihnen herflog, Richtung
Osten.
Als es Abend wurde, suchten sie sich einen
Lagerplatz auf einem Moosbewachsenen Hügel. Hormar rollte sich auf
seine charakteristische Art zusammen, indem er den Kopf auf seinen Schwanz
legte. Jahn lehnte sich mit dem Rücken an die warme Flanke des Drachen
und Esmeralda kuschelte sich in Jahns Schoß. So saßen sie da,
beobachteten den Sonnenuntergang und jeder hing seinen Gedanken nach.
"Hast du Angst, Kleiner?" Die Stimme Hormars
durchbrach die andächtige Stille. Jahn dachte nach.
"Ich glaube schon", sagte er seinen Blick
nach wie vor auf den Horizont gerichtet. "Nicht jetzt im Moment, aber ich
hatte Angst vor dem Schattenmönch und auch vor dem verrückten
Pegasus. Wie wird es wohl werden, wenn wir dem Herrn dieser dunklen Gestalten
gegenüberstehen? Hältst du mich jetzt für einen Feigling,
Hormar?"
"Angst ist etwas Gutes, Kleiner, wenn du nicht
zulässt, dass sie Gewalt über dich gewinnt. Solange du etwas
fürchtest, bist du auf der Hut. Und nur so ist eine so große
Aufgabe wie die unsere zu schaffen. Angst hat nichts mit Mutlosigkeit zu
tun, solange du dich ihr stellst. Sich selbst zu überwinden erfordert
den meisten Mut, Kleiner."
"Und wie sieht es bei dir aus Hormar, hast
du Angst?" fragte Jahn den Drachen.
"Seit zwei Tagen, ja" antwortete Hormar
"Seit zwei Tagen? Also seit dem Kampf mit
dem Pegasus?"
Hormar nickte.
"Warum?"
"Ich werde es dir zeigen. Nimm den Dolch aus
dem Gürtel."
Verwundert zog Jahn den Dolch
"Und jetzt versuche, mich zu verletzen, und
nur nicht zu zögerlich."
Aber erst, nachdem ihn Hormar noch einmal
dazu aufgefordert hatte, stieß Jahn zögerlich nach dem Leib
des Drachen. Es klang, als hätte er massiven Stahl getroffen.
"Du sollst mich nicht kitzeln, sondern versuchen
mich ernsthaft zu verletzen, jetzt mach schon."
Jahn zuckte mit den Schultern. So ein Nadelstich
würden Hormar schon nicht gleich umbringen. Er stieß mit aller
Kraft zu. Der Dolch wurde ihm aus der Hand geprellt und landete meterweit
neben ihm im Moos. Auf Hormars Schuppenpanzer war jedoch nicht die kleinste
Schramme zu sehen.
"Siehst du, es ist so gut wie unmöglich,
einen Drachen zu verletzen. Nicht mit euren Waffen. Um ehrlich zu sein,
bisher dachte ich, nur Drachenkrallen können uns ernsthaft Schaden
zufügen."
"Und seit damals weißt du, dass ihr
euch nicht nur gegenseitig töten könnt, sondern auch Andere dazu
in der Lage sind?"
"Drachen töten sich nicht gegenseitig",
antwortete Hormar, "dazu sind sie nicht fähig. Wenn ein Kampf entschieden
ist, ziehen wir uns zurück. Das ist uns angeboren."
"Ja", antwortete Jahn," genauso wie es die
Natur der Pegasi ist, zu heilen."
"Siehst du, genau das macht mir Angst. Bisher
waren wir Drachen so gut wie unverwundbar. Aber ein einziges seiner Wesen
hat gereicht, um mich fast zu töten. Wie soll es werden, wenn er eine
ganze Armee seiner Kreaturen zur Verfügung hat? Die alle angeborenen
Verhaltensweisen verleugnen und nur noch töten wollen? Niemand wird
ihn mehr aufhalten können. Unsere Zeit drängt, Kleiner, wir müssen
ihn stellen, bevor er zu mächtig geworden ist."
"Aber warum gerade jetzt? Er hat Jahrhunderte
gebraucht, um so stark zu werden wie er heute ist. Warum hat er es plötzlich
so eilig?" fragte Jahn.
"Wahrscheinlich bist du der Grund. Vielleicht
hat er schon vorher gewusst, dass du kommst und bereitet sich auf den Kampf
vor."
"Das heißt, auch er hat Angst."
"Anscheinend, und wie gesagt, Angst macht
vorsichtig. Er wird also alles tun, um diesen Kampf zu verhindern. Wir
müssen auf der Hut sein, Kleiner."
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