"Der große Westkontinent ist ein Ort mit kleineren Staaten
im Norden und zwei größeren Reichen, nämlich einem Kaiserreich
der Menschen, dessen ursprünglicher Name "Hanlar" unter der Regentschaft
der Gottkaisers Perin später in "Perinor" geändert wurde, und
dem Reich der goldenen Sonne, dem vermutlich größten, zusammenhängenden
Gebiet unserer Welt, das von Hochelfen besiedelt und regiert wird.
Daishan hingegen ist eins der kleineren Reiche im Norden und nicht
nur der Ort meiner Geburt, sondern auch das Land auf unserem Kontinent,
das ich ohne zu zögern "Heimat" nennen würde.
Daishan grenzt im Norden an das ewige Eis und ist im Süden
von Wäldern durchzogen, während im Norden die mächtigen
Berge des Weltengebirges in den Himmel ragen. Dort gibt es einen Sommer,
in dem die Sonne nachts nicht untergeht, und einen Winter, in dem sie am
Tage kaum aufgeht, genaugenommen tut sie das im Winter nur in den weit
im Süden liegenden Regionen Daishans.
Den Bewohnern Daishans sagt man nach, daß sie ein bißchen
seltsam sind. Sie haben eine sehr schweigsame Art, und wenn sie doch einmal
etwas sagen, dann machen sich die Leute aus anderen Regionen gerne über
ihren Akzent lustig.
Was ein Daishani sagt, hat jedoch Gewicht. Mit zwei Jahren bekommt
jeder von uns eine Rune unter dem Kehlkopf eingebrannt, die ihn unfähig
macht, bewußt die Unwahrheit zu sagen. Tut er das doch, beginnt sie
zu glühen, was derartige Schmerzen verursacht, daß es kaum möglich
ist, sie zu verheimlichen.
Ich muß hoffentlich nicht erwähnen, daß die ersten
Male, die man als Kind lügt, eine sehr stark erzieherische Wirkung
nach sich ziehen.
Daishan selbst wird von einem Ältestenrat regiert, der sich
zweimal im Jahr trifft, um Entscheidungen, die anstehen, zu treffen. Diese
Ältesten sind im Regelfall die Oberhäupter der größeren
Städte des Landes, es sind aber auch einige Stammesälteste der
Nomaden der nördlichen Regionen darunter.
In den bewaldeten Ebenen meiner Heimat stand das Gehöft meines
Vaters. Er war der Sohn eines Gelehrten, der sich im Alter in Daishan niederließ,
um eine Rinderzucht aufzubauen. Als mein Vater erwachsen wurde, überließ
ihm mein Großvater den Hof, damit er sich wieder dem Studium der
Natur und der Menschen widmen konnte.
Ich war das neunte Kind meiner Eltern und auch das letzte, das sie
bekamen. Sowohl Vater als auch Mutter hatten die Vierzig schon hinter sich
gebracht und die beiden waren sich einig, daß neun Kinder in ihrem
Alter genug waren.
Unser Hof war groß. Nicht nur für Daishan selbst, sondern
auch nach generellen Maßstäben. Auf ihm gab es sechzig Zuchtrinder,
die allen Familienmitgliedern viel Arbeit abverlangten. Dennoch, die Größe
der Zucht führte zu relativem Reichtum, sodaß mein Vater sich
sogar einige Knechte leisten konnte, die aber, nach daishanischer Sitte,
praktisch wie Familienmitglieder behandelt wurden.
Ich hatte eine ziemlich geborgene Kindheit und genoß die Gelehrsamkeit
meines Großvaters in vollen Zügen. Er brachte mir vieles bei,
was mir in meinem späteren Leben sehr zu Nutze war.
Eigentlich gehe ich heute die Pfade, die er damals, lange bevor
er sich niederließ, gegangen ist. Bis dahin war es aber leider ein
weiter und an vielen Stellen sehr steiniger Weg.
Als ich achtzehn Jahre alt war, geschah das große Unglück.
Der Drowkönig Welverin, angetrieben von einigem Wahnsinn, hatte sich
schon Jahrhunderte davor entschlossen, allen Bewohnern der Oberwelt den
Garaus zu machen.
Die Drow sind eine Realität in Daishan. Kein anderes der Nordländer
beherbergt unter der Erde eine größere Anzahl von Siedlungen
dieses Volkes, als unseres. Allein an den Südrändern der nördlichen
Berge gibt es elf ihrer Königreiche oder Stadtstaaten (je nach Religion),
im Süden gab es neben ein paar kleineren Städten noch das relativ
große Reich des Welverin.
Der Krieg zwischen Welverins Truppen und den Daishani hatte bereits
Generationen gedauert und war an seinem Ende durch eine Genozidoffensive
geprägt, die nur durch sein gewaltsames Ende gestoppt worden war.
Nach seinem Tode hatten die Drow seines Reiches damit begonnen, als Horden
von Marodeuren auf der Oberfläche herumzustreifen und dort Chaos und
Verwüstung anzurichten. Die Gründe dafür bleiben mir bis
heute verschlossen.
Als ich also achtzehn war, wurde ich selber Opfer dieses sinnlosen
Krieges. An einem Abend nach einem Tag schwerster Arbeit schlief ich einfach
erschöpft auf einer unserer vielen Weiden in einem Unterstand ein.
Das rettete mir das Leben.
Während ich schlief, stürmte eine riesige Menge Drow unseren
Hof, töteten meine Eltern und Geschwister, alle Mägde und Knechte
und brannten dann alles nieder. Die Rinder, die sie fanden, erschlugen
sie und ließen sie liegen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, sah ich schon von ferne
den Rauch aufsteigen und eilte sofort in Panik dorthin.
Ich fand nichts mehr, nicht einmal Leichen. Es war nur ein einziger
Haufen schwelender Trümmer.
Die nächsten sechs Monate verbrachte ich damit, durch Daishan
zu reisen und mich als Tagelöhner zu verdingen. Dabei stolperte ich
eigentlich nur von Ort zu Ort, ohne je zu verwinden, was mir geschehen
war. Vielen anderen aus meiner Generation ging es ähnlich.
Und dann... Ja dann kam der Tag, an dem sich alles änderte.
Mitten im Wald, irgendwo zwischen Bargum und dem Nirgendwo."
Joro Macun, Fossor Magnus Mortui, Im Jahre 743 nach dem großen
Krieg.
© Matthias
Wruck
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