Im Gegensatz zu den wahrscheinlich meisten jungen Menschen, die
der Schulpflicht nachkommen mussten, fing für Tigris Aurora Windwibb
der beste Teil der Woche mit Montag an und endete zu ihrem größten
Bedauern mit Freitag.
Werktags nämlich wohnten Tigris und ihre Mutter für gewöhnlich
in Düsseldorf, weit weg von Windwibbenburg, weit weg von der Sippe,
weit weg von ihnen. Und nun, da sie seit mehr als zehn Jahren diese
andere Art Leben kannte, fand Tigris, es gäbe nichts schöneres,
als auf das Albert-Schweitzer-Gymnasium zu gehen, sich wie alle anderen
in der Klasse langsam, aber sicher auf das Abitur vorzubereiten und vor
allem mit ihnen, diesen tollen, gut verträglichen, stinknormalen Leuten
abzuhängen. Leute wie Tigris selber: Jene, die nicht irgendwelche
außergewöhnlichen Fähigkeiten besaßen, die nicht
andauernd alles, was nicht niet- und nagelfest war, durch die Gegend fliegen
ließen, die nicht ständig die Stromleitungen in ihrer direkten
Umgebung lahm legten, die sich nicht regelmäßig aufspielten,
die man nicht andauernd bewundern musste und denen man nicht dumme Streiche
oder blöde Scherze nachsehen sollte, da das Schicksal ihnen eine schwere
Bürde auferlegt hatte. Eben alle, die ihrer Meinung nach normal waren.
Und obwohl ihre eigene Mutter wegen ihrer außergewöhnlichen
Wahrnehmungsfähigkeit genau genommen auch einer der ›Freaks‹ von Windwibbenburg
war, kämpfte sie jedoch seit Jahren wie ein Löwe dafür,
endlich aus der Sippe entlassen zu werden, damit ihre einzige Tochter unter
dem großen Rest der Menschheit aufwachsen konnte, der nicht den blassesten
Schimmer von Orten wie Windwibbenburg und seine Bewohner besaß.
Allerdings bestand sie immer noch darauf, dass Tigris am Wochenende
mit nach Windwibbenburg kommen musste, da Danubia Windwibb dort Samstags
und Sonntags unterrichtete. Leider half dagegen nichts, weder raffinierte
Schmeicheleien und kreative Überredungskünste, noch Gemotze und
auch nicht der beleidigte Hinweis, man sei ja wohl schließlich mit
siebzehn Jahren alt genug, zwei Nächte ohne Mutti zu verbringen.
Samstag und Sonntag waren also unvermeidbar Windwibbenburg und die
Sippe angesagt - aber irgendwann einmal würde damit Schluss sein,
und an diese Hoffnung klammerte sich Tigris und spann bereits an den buntesten
Zukunftsplänen.
Und auch am Morgen jenes schicksalhaften Samstages schien die Welt
für sie noch relativ in Ordnung - wenn man gnädigerweise außer
Acht ließ, was für ein Ort Windwibbenburg im Bayerischen Wald
war, und wenn man vor allem tolerant darüber hinwegsah, wer dort lebte.
Die Nacht zuvor hatte sie wie so oft über die vergangene, erfreulich
normale Woche nachgedacht, sich an witzige Erlebnisse mit Berenike Messner,
ihrer besten Freundin aus der Schule, erinnert und vor allem an Darius
Alessi, ihrem heimlichen Schwarm. Es war auch sein Gesicht, das sie mit
hinüber in ihren Traum nahm - ein überaus angenehmer Traum übrigens,
in dem er ihr mitten in einem Streitgespräch plötzlich einen
langen wilden Kuss gab. In diesem Moment setzte der Chor mit ›And my Heart
will go on‹ ein, doch bevor es noch peinlicher werden konnte, brüllte
jemand aus Leibeskräften: »Ich kann Wind machen! Bei mir ist
das Xendium ausgebrochen! Um genau 4 Uhr 46!«.
Selbst Tigris’ Bett erzitterte, als gleich nach dieser freudigen
Verkündung dieser Jemand lautstark die Treppe hinunterstürmte.
Sie schnellte verschlafen aus den Kissen hoch und starrte benommen
auf die halb offene Zimmertür. Von unten her hörte sie Tellergeklapper
und Stimmgewirr, Türen wurden zugeknallt und aufgerissen, doch erst
beim anschließenden Gekeife aus den Zimmern nebenan fand Tigris endgültig
zurück in die Realität.
Die Realität von Windwibbenburg, unglücklicherweise.
»Antigua, du übernachtest nie wieder in unserem Zimmer!
Du hast meinen CD-Player explodieren lassen!«
»Oh, entschuldige vielmals, Rhenèlle. Das nächste
Mal entlade ich mich an deiner Nase! Als ob ich es absichtlich gemacht
hätte...«
»Leute, benutzt blooß nicht die Jungen-Toilette! Bat
Furan hat den Sitz intoniert, und wenn ihr euch aufs Klo setzt, gibt es
komische Würgelaute von sich.«
Tigris seufzte resigniert auf.
»Ach ja, wir sind ja in Windwibbenburg«, fiel es ihr
ein, woraufhin sie sich lustlos zurück ins Kissen fallen ließ.
Dann warf sie einen müden Blick auf den Wecker: 07:23, Frühstückszeit
und noch knapp eine Stunde bis zur täglichen Morgenmesse, in der Livas
Windwibb, der Sippen-Oberste, lange Predigten hielt, aus der Weißen
Bibel vorlas und unzählige Engelslobpreisungen und sonstige fromme
Liedchen anstimmen ließ. Darin ging es meistens um die abgrundtief
bösen Dämonen, die allgütigen Engel und natürlich Gott,
den Allbarmherzigen, Allgeheimnisvollen. Für jemanden, der nichts
mit Xendium und all dem Kram zu tun hatte und auch niemals nichts zu tun
haben wollte, waren das zwei Stunden bleierner Langweile. Bei dem Gedanken
daran schaute sie sehnsuchtsvoll zu der schmalen Buchenholztür neben
dem Kleiderschrank. Es war kinderleicht, einfach aufzustehen, durch das
Tor schreiten und sich mit einem Schritt drüben in ihrer Wohnung im
etwa 400 km entfernten Düsseldorf zu befinden, wodurch man dem Trubel,
der unten beim Frühstück herrschte, mühelos entgehen und
selig bis mittags weiterschlafen konnte. Aber dann gäbe es bei der
nächsten Gelegenheit sowohl von ihrer Mutter als auch von Livas eine
Gardinenpredigt. Eine Standpauke von dem Sippen-Obersten war jedoch noch
nervtötender und langweiliger als jede Morgenmesse in Windwibbenburg
und daher unbedingt zu vermeiden. Aber vielleicht kam ja Ember, ihr bester
Freund in diesem Kaff, zum Frühstück - wenn er nicht gerade wieder
einmal irgendwo in der Welt auf einem Seminar bei irgendeiner anderen Sippe
war.
Bei der Aussicht darauf schwang sich Tigris endlich aus dem Bett,
riss Gardinen und Fenster auf, um die frische Gebirgsluft ins Zimmer zu
lassen und schlurfte dann mit Jeans und Pulli unter dem Arm in Richtung
Mädchen-Badezimmer, das sich ein paar Türen weiter befand.
Im ersten Geschoß des dreistöckigen Fachwerkhauses Rosenhag
3 wohnten immer zwei Mädchen in einem Zimmer, insgesamt 8, wenn man
großzügigerweise Tigris dazurechnete. Im zweiten Stockwerk befanden
sich die Wohnungen der älteren Windwibbs von Rosenhag 3, und auf der
Etage unter dem Dach lebten fünf Jungen zwischen elf und neunzehn
Jahren. In der kleinen Siedlung unterhalb der Burg standen insgesamt elf
schmucke Häuser mit gepflegten Gärten, allesamt bewohnt von ganz
speziellen Leuten, von denen etliche ursprünglich aus anderen Ländern
Europas kamen - Ember etwa war aus Ungarn. Viele, wie auch er, waren sogar
unter normalen Menschen zur Welt gekommen und aufgewachsen - bis das Xendium
bei ihnen ausgebrochen war und sie Dämonen sehen konnten. Da dummerweise
der größte Teil der Menschen dazu nicht fähig war, führte
der Weg der von Xendium geschlagenen Unglücklichen letzten Endes fast
immer in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie. Und nur ein gnädiges
Schicksal ließ sie in einer der Kliniken weltweit landen, in der
Mitarbeiter der Rosenstern-Allianz beschäftigt und dabei behilflich
waren, sie aus der Klinik zu schleusen und einer Sippe zuzuteilen, die
die Neulinge ›adoptierten‹.
Glücklich, wer dagegen von Anfang an in eine Sippe hineingeboren
und dort groß wurde!
»Ember, ich kann jetzt endlich immer Wind machen, wenn ich
will!«, frohlockte es wieder durch den Eingangsbereich. Tigris beugte
sich über die Brüstung der Balustrade und sah Arktur unten wie
einen Gummiball auf dem Kirschholz-Parkett herumspringen. Er war dünn,
fast magersüchtig, wie viele von den Xendii und überaus frech,
weswegen ihn Tigris schon seit Jahren ›Frettchen‹ nannte. Anscheinend hatte
die ach so schwere Bürde des Xendiums endlich auch ihn ereilt, nachdem
er mit fast vierzehn Jahren schon längst überfällig war.
Meistens brach es zusammen mit den ersten Pickeln aus.
»Wind machen konntest du doch schon immer am besten, Arktur«,
hörte sie Embers sanfte Stimme. Er stand - für Tigris nicht sichtbar
- unterhalb der Balustrade, die im ersten Stockwerk den großen rechteckigen
Eingangsbereich umlief. »Na, dann beglückleide ich dich recht
herzlich. Willkommen im Club der potentiellen Opfer von Dämonenattacken.«
›Gott sei Dank ist Ember da, sonst überstehe ich die Messe
nicht‹, dachte Tigris beim Klang der vertrauten Stimme erleichtert. Sie
stürmte ins Badezimmer und wäre fast gegen Antigua geprallt,
die vor dem ersten der vier Waschbecken stand und ihre glatten langen,
silberblonden Haare ausgiebig und verträumt fönte. Selbst in
dem schlichten, beigen Overall, den die europäischen Xendii bei der
Messe und im Unterricht trugen, sah sie noch umwerfend gut aus.
»Ist das nicht ein wenig riskant?«, fragte Tigris spitz.
Antigua, ursprünglich bei einer dänischen Sippe aufgewachsen,
hatte die seltenste der drei Arten von Xendium: Sie konnte Energiearten
wie etwa Elektrizität nicht nur anziehen, sondern auch noch speichern
- theoretisch jedenfalls, da sie zwar seit Monaten eine entsprechende Ausbildung
für diese Begabung erhielt, aber dennoch nicht besonders umsichtig
damit umgehen konnte.
»Für mich riskant oder für dich?«, gurrte
sie ohne Tigris eines Blickes zu würdigen.
»Na ja, eigentlich für den Fön, wenn man es genau
nimmt...«
»Immerhin vertragen meine Haare den Fön, im Gegensatz
zu deinen.«
»Immerhin kotze ich nicht jede zweite Nacht das Bett voll,
im Gegensatz zu euch.«
»Immerhin ist unser Leben nicht so langweilig wie deins.«
»Dafür bin ich Gott sehr dankbar, da ich gute Chancen
habe, nicht von Dämonen gegrillt zu werden -«
So schlagartig, wie der Fön ausgeschaltet wurde, bereute Tigris
ihren letzten Satz.
»Das solltest du wirklich!«, stieß Antigua mit
zitternder Stimme hervor und flüchtete aus dem Bad.
Tigris seufzte schuldbewusst. Zwar hatte sie bei dem Spruch eigentlich
nur allgemein an die Gefahr gedacht, in der die Xendii stets schwebten,
aber natürlich war Antigua überzeugt, er wäre auf den schrecklichen
Tod ihres Vaters gemünzt gewesen, der bei einem Kampf in der australischen
Wüste von Dämonen verbrannt worden war, als sie noch ein kleines
Mädchen gewesen war.
›Ich werde mich wohl oder übel bei ihr entschuldigen müssen,
auch wenn ich es nicht so gemeint habe, sonst ist Mama sauer‹, dachte Tigris
und versuchte, die unangenehmen Gedanken abzuschütteln, indem sie
sich voll und ganz darauf konzentrierte, ihre dunklen lockigen Haare zu
kämmen, ohne hinterher wie nach einer Elektroschockbehandlung auszusehen.
Aber ihre Gedanken kehrten wieder zum Xendium zurück und was
es mit sich brachte. Die Xendii, so fand Tigris, hielten sich für
etwas ganz Besonderes, redeten ganz beiläufig von diesem oder jenem
Xendi aus anderen Sippen, der im Kampf für die Rettung der Welt sein
Leben verloren hatte, und von ihrem zukünftigen eigenen Tod, aber
am allerliebsten natürlich über ihre tollen Fähigkeiten
und Erfolgserlebnisse ihrer Ausbildung.
Als Ember vor vier Jahren von der Domén Arx nach Windwibbenburg
zur Adoption vermittelt worden war, ganz und gar nicht glücklich über
seine außergewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeit, hatte sie
erstmals die Schattenseiten des Xendiums erfahren: Häufige wahnsinnige
Kopfschmerzen, Magenkrämpfe, spastische Anfälle, Schübe
hohen Fiebers, zeitweilige Lähmungen und Depressionen, die bis hin
zu Selbstmordgedanken führten. Nein, Ember hatte sich die ersten Monate
überhaupt nicht auserwählt, sondern eher verdammt gefühlt.
Und diese Empfindung hatte er hin und wieder immer noch. Die anderen Xendii
hingegen verulkten sich gegenseitig mit diesen ganz und gar nicht bewundernswerten
Nebenwirkungen, manche führten gar Listen über die Häufigkeit
von Kopfschmerzen, Magenkrämpfen und epileptischen Anfällen.
»Was dir als Arroganz erscheint, ist in Wahrheit der missglückte
Versuch, ein elendes Schicksal als Auserwählung zu verkaufen«,
hatte Ember ihr noch vor wenigen Wochen erklärt, als sie sich wieder
bei ihm über das Verhalten der Xendii beklagt hatte. »Hättest
du einen Tag lang das Xendium - du würdest uns bemitleiden. Und vor
allem dich selber. Es ist nichts Bewundernswertes an einer Fähigkeit,
die dich so oder so eines Tages entweder umbringt, zum Krüppel werden
lässt oder dir einen Lebensabend im Bett mit den Augen starr zur Decke
beschert. Ist dir noch nie aufgefallen, dass es hier - wie in allen anderen
Sippen - sehr wenige Leute gibt, die älter als fünfzig sind?
Wenn sie nicht schon längst von Dämonen getötet wurden,
sollen sie auf irgendwelchen Inseln leben, zu denen wir keinen Zutritt
haben. Das sind Dinge, die die Jüngeren noch nicht erfahren dürfen.
Sie sollen bloß nicht sehen, was aus jenen wird, die alle Dämonenkämpfe
überstanden und alt geworden sind.«
»Und woher weißt du das, wenn es doch geheim gehalten
wird?«, hatte sie daraufhin neugierig gefragt.
»Jemand, der es weiß, hat es mir erzählt. Er hat
mir noch viel unglaublichere Sachen berichtet, aber darüber möchte
ich nicht sprechen.«
Ember war, was die Sippen und insbesondere die Windwibbs anging,
oft der gleichen Meinung wie sie. Im Gegensatz zu ihr fühlte er sich
jedoch besonders der Spezialtruppe der Domén Arx De Navarris, jene
Großsippe, die über ganz Mitteleuropa wachte, zu tiefer Dankbarkeit
verpflichtet, weil sie ihn aus der Budapester Psychiatrie befreit hatten.
Dorthin war er eingeliefert worden, nachdem er angeblich ein Kaufhaus in
der Innenstadt angezündet hatte, das deswegen bis auf die Grundmauern
niedergebrannt war. Für einen blassen, blonden Waisenjungen von zwölf
Jahren mit tiefen Ringen unter den Augen, der eisern daran festhielt, dass
es Dämonen gewesen waren, brachten nur gewisse Ärzte Verständnis
auf, die auch schon neue, wunderbare Pillen für seinen schweres Leiden
kannten. Ihr fiel einer seiner Scherze über Windwibbenburg ein. »Wieso
kann es mir nicht so ähnlich wie diesem Neo in ›Matrix‹ ergehen? Warum
lässt mich keiner zwischen Wahn und Wirklichkeit entscheiden... Ember,
ich stelle dich vor eine einmalige Wahl: Willst du dieses neuartige Medikament
oder tägliche Gottesdienste in Windwibbenburg? Oh bitte, bitte, ich
kenne Livas Windwibb, Herr Doktor, geben Sie mir gleich fünf Pillen
auf einmal!« Tigris musste lächeln: Der gute Ember! Noch dazu,
laut ihrer Mutter, die ihm und einigen anderen Seher-Schülern Unterricht
gab, ungeheuer talentiert mit seinen knapp sechzehn Jahren.
›Und ich werde in einer Woche siebzehn!‹, dachte sie frohlockend.
›Aber diesen Geburtstag feiere ich mit ganz normalen Leuten drüben
in Düsseldorf, gehe mit ihnen ganz normal in eine ganz normale Disko
und vergnüge mich ganz normal. Und Ember lade ich auch ein, er hat
mal eine kleine Abwechslung nötig.‹ Tigris rollte die Augen bei dem
Anblick ihres Spiegelbildes. ›Und ich drei Tage Schlaf hintereinander.‹
Seit einigen Tagen bekam sie nachts kaum ein Auge zu, was nicht
gerade zu einem frischen Aussehen verhalf. Nun, eine Schönheit wie
Antigua würde sowieso niemals aus ihr werden; nicht mit diesen dichten
störrischen Locken, die nur mit guten Nerven und viel Geduld in eine
einigermaßen zivilisiert aussehenden Hochsteckfrisur gezwängt
werden konnten. Auch besaß sie keine niedliche Stupsnase und keinen
noch niedlicheren kleinen Puppenmund, sondern eher genau das Gegenteil
davon. Auf ihrer ohnehin ein wenig zu breiten Nase hatte sich vor zwei
Jahren ein Pferd mit dem völlig unpassenden Namen Angelfeather durch
einen Tritt verewigt. Zwar hatte der Huf sie nur mehr gestreift als richtig
getroffen, doch durch die Wucht immerhin noch zu einer Delle im Nasenrücken
gereicht. Und ihr Mund kam ihr auch viel zu breit und groß vor. Aber
immerhin zogen ihre Augen die Blicke der anderen auf sich, so groß
und vor allem strahlend honigfarben wie sie waren. Und Wimperntusche brauchte
sie bei diesen langen schwarzen Wimpern auch nicht.
»Ach du Schande. Mit diesen Ringen unter den Augen sehe ich
ja fast aus wie die Xendi-Freaks«, seufzte sie und zog sich endlich
an, um hinunter ins Speisezimmer zu gehen.
.
Wie üblich, saßen die jungen Xendii ein wenig abseits
an den Plätzen am großen Fenster und palaverten über ihre
Fähigkeiten und Seminarserlebnisse. Weiter vorne ging es weitaus sittsamer
und ruhiger zu. Dort nahmen die älteren Xendii sowie diejenigen ihr
Frühstück ein, bei denen das Xendium nicht aktiv war, sondern
als eine Art Erbanlage in ihnen schlummerte, weswegen man sie Träger
nannte. Ihre Mutter war noch nicht da, doch da fiel Tigris auch wieder
ein, dass sie mit Livas vor der Messe sprechen wollte.
»Tig, hey! Hier ist ein Platz an meiner grünen Seite.
Direkt vor mir befindet sich übrigens die Erdnussbutter«, rief
Ember ihr zu. Er saß an der langen Tafel am begehrten Fensterplatz
und hatte ihr einen Stuhl neben sich freigehalten.
»Das ist aber auch schon der einzige Grund, mich neben einen
Xendi zu setzen!«, rief sie zurück und quetschte sich an der
langen Reihe Stühle vorbei in Richtung Ember. Dabei kam sie an Antigua
vorbei und blieb neben ihr stehen. Antigua sah natürlich demonstrativ
in die andere Richtung.
»Es tut mir leid, was mir da eben oben im Bad rausgerutscht
ist...«, sagte sie genauso demonstrativ laut und deutlich - was noch
demonstrativer missverstanden wurde.
»Aber Tigris, Teuerste!«, warf Bat Furan gespielt entsetzt
ein. »Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen, nur weil du zur
Abwechslung mal etwas Nettes zu Antigua gesagt hast.«
»Selbst wenn es so wäre, ginge es dich schon einmal überhaupt
nichts an, Batman«, entgegnete Tigris spitz und wandte dem hünenhaften
Wandler den Rücken zu, um weiterzugehen. Gerade noch rechtzeitig erkannte
sie durch einen mehr zufälligen Blick zurück zu Bat Furan, wie
sich die Senftube auf dem Tisch vor ihm langsam drehte und mit der Spitze
auf sie zeigte, während es in ihrem Inneren deutlich sichtbar rumorte.
Geistesgegenwärtig ging sie auf Tauchstation, während ein Strahl
›Bayrischer Löwensenf‹ über ihren Kopf hinwegschoss und dann
in dekorativen Schlieren an den Holzpanelen herunterlief.
»Huch! Da ist mir aber jetzt etwas herausgerutscht.«
erklärte Bat Furan gespielt zu Tode erschrocken.
Der missglückte Schuss ließ das Gekicher und Gegrinse
der jungen Xendii zu offenem Gelächter und Spötteleien anschwellen.
Selbst Bat Furan bekam sich kaum ein vor Lachen, beeilte sich jedoch, die
verdächtigen Spuren auf der Wand mit einer schnellen Handbewegung
in wenigen Augenblicken verdampfen zu lassen, bevor die gesetzteren Herrschaften
am anderen Ende der Tafel Verdacht schöpften. Das war ohnehin eine
der leichtesten Übungen für ihn, wurde er doch von allen für
einen gottbegnadeten Wandler gehalten, weil er beispielsweise mit nur achtzehn
Jahren bereits einen Stein in seiner Handfläche im Bruchteil einer
Sekunde zu Sand pulverisieren konnte. Allerdings hatte jegliche Überanstrengung
auch seinen Preis bei ihm, wie bei jedem Xendi. Bat Furan etwa bekam fast
jeden Tag mehrmals Nasenbluten.
»Apropos herausrutschen, Batman« Tigris wandte sich
bei der Erinnerung daran noch einmal zu Bat Furan um, als sie ihren Stuhl
erreicht hatte. »Du hast doch letztens so sehnsüchtig meine
Packung O.B.s angesehen. Vielleicht solltest du dir einen Ruck geben und
mich einfach fragen.«
»Das sollte ich wirklich, die Dinger wären vielleicht
eine echte Alternative zu Taschentüchern und Fleckensalz. Hast du
denn noch welche übrig, die nicht irgendwie irgendwo rausgerutscht
sind?«, gab Bat Furan grinsend zurück und ließ so das
anhaltende Gelächter einmal mehr anschwellen.
»Ihr seid dekadent und arrogant und ich mag euch gar nicht«,
rief Tigris verächtlich, verdrehte die Augen und ging endgültig
zu ihrem Platz.
»Genau das selbe denken wir von dir«, tönte es
noch hinter Tigris her, was eindeutig von Antigua kam.
»Oh Gott, jetzt haben wir doch etwas gemeinsam!«, rief
Tigris und ließ sich auf den Stuhl neben Ember sinken. »Hey,
du lebst noch!« Das sagte sie jedes Mal zu Ember, wenn sie sich längere
Zeit nicht gesehen hatten. Sie strahlte ihn an und umarmte ihn dann ganz
fest.
»Ja, sicher, ich bin ja auch noch nicht fertig mit meiner
Ausbildung. Alles ist noch so nett und spielerisch, auch die Magenkrämpfe
sind noch spielerisch und gar nicht ernst gemeint...«
»Immer noch so schlimm?«
»Na ja, deine Mutter - äh, Lux Danubia hat mir autogenes
Training beigebracht. Damit kriege ich es schnell wieder in den Griff.«
»Von so etwas hat sie wirklich Ahnung. Wie war eigentlich
dieses Seminar in Sydney, von dem du mir letztens erzählt hattest?
Hat Livas doch noch sein O.K. gegeben?«
Ein schneller Seitenblick ließ Tigris den einen oder anderen
missbilligenden Blick der Xendii in ihrer Nähe registrieren: Erfahrene,
ältere Xendii mussten nämlich von jüngeren Sippenmitgliedern
stets mit dem Titel ›Lux‹ angeredet werden, was das lateinische Wort für
›Licht‹ war. Sogar auch nur das Erwähnen ihres Namens machte diesen
Zusatz erforderlich.
»Ja, Gott sei Dank, es hat geklappt. Aber nur, weil auch einige
andere Sippen ihre Schüler dorthin geschickt haben. Immerhin gehörten
die Lehrerin und über die Hälfte der Teilnehmer nicht zur Allianz.«
»Zu wem denn sonst? Zu den Dämonen?«
Tigris wusste, dass die meisten Sippen auf der Welt der RSA, der
Rosenstern-Allianz angehörten, die vor über hundert Jahren als
Reaktion auf ›die um sich greifende moralische und charakterliche Verderbtheit
von Sippen und Individuen‹ gegründet worden war. Sie bildete den Dachverband
für Gemeinschaften auf der ganzen Erde, die in etwa an das gleiche
glaubten und das gleiche Ziel hatten: Die Menschheit vor den Dämonen
zu beschützen, die ihrerseits scheinbar keinen anderen Lebenssinn
gefunden hatten, als die Welt zu vernichten.
»So ähnlich. Das Seminar wurde von den Abtrünnigen
veranstaltet. Jedenfalls fand ich Lux Savannis Fähigkeiten der Wahrnehmung
wirklich beeindruckend für ein moralisch und charakterlich verderbtes
Individuum. Doch wie pflegt Lux Livas immer zu sagen: Sogar die Dämonen
besitzen Weisheit.«
»Mathematik ist garantiert so eine Dämonenweisheit, worunter
Leute wie ich noch heute leiden müssen.«
»Das ist wahr. Dämonen lieben Mathematik. Sie sind ganz
vernarrt in Zahlen.«
»Deswegen mag ich die Engel viel lieber. Die haben mit so
etwas bestimmt nichts am Hut. Hat eigentlich jemand von euch mal wieder
in Windwibbenburg einen Engel gesehen?«, fragte Tigris mehr spaßeshalber
und schaute gelassen in die Runde.
»Oh ja, gestern erst wieder«, erzählte Ember begeistert.
»Stell dir vor, Tig: Sie können sogar richtig witzig sein.«
»Ach was, Ember!«, sagte Ilvyn, ein dünnes vierzehnjährige
Mädchen mit Brille und sah ihn kritisch an.
»Das war kein richtiger Engel, den wir gestern oben in der
Burg gesehen haben. Als ob Engel die Gestalt von Miss Marple annehmen...«
»Und was sonst, wenn Dämonen keinen Fuß nach Windwibbenburg
setzen können, ohne vernichtet zu werden?«
»Vielleicht höchstens ein Cherub. Jedenfalls kein richtiger,
Hoher Engel wie der Heilige Gabriel oder der Heilige Michael.«
»Auch wenn es jemand aus der unteren Hierarchie war: Es war
ein Engel. Und ich fand sie sympathisch. Es war zwar merkwürdig, was
sie zu mir gesagt hat, aber ich konnte doch ganz deutlich ihre Aura erkennen;
das ist doch das erste, was ein Seher lernt!«
»Und was hat sie gesagt?«, wollte Tigris begierig wissen.
Das meiste an der merkwürdigen Religion der Sippen ließ sie
kalt, aber Engel... Engel faszinierten sie vollkommen.
»Klapp’ den Mund zu, Junge, und bleib locker. Oder hast du
noch nie einen Cherub gesehen? Aber ich gebe keine Autogramme, damit das
schon mal klar ist.«
»Häh?«, Tigris musste kichern.
»Ja, ich schwöre bei meiner unsterblichen Seele, genau
das hat sie gesagt und Ilvyn hat es gehört.«
»Ein richtiger Engel würde so etwas niemals sagen«,
beharrte Ilvyn und löffelte mit finster zusammengezogenen Brauen weiter
ihr Müsli.
»Dieser Cherub hat es aber gesagt. Und Cherubim sind - wie
wir alle in den allerersten Stunde Angelogie gelernt haben - ebenfalls
Engel, wenngleich der untersten Hierarchie. Danach kommen die Melegonin
und dann die Heiligen Zerrafin.«
»Vielleicht war es ein cooler Engel, der keine blonden langen
Haare und Flügel mochte?«, sagte Tigris heiter lächelnd.
»Du hast doch überhaupt keine Ahnung, Tigris!«,
zischte Ilvyn da zornig. »Für dich und andere von deiner Sorte
sind Engel und Dämonen doch nur Hirngespinste. Ihr glaubt nur das,
was ihr seht, was sehr hochmütig ist, wenn man in Wahrheit kaum etwas
sieht.«
»Natürlich glaube ich an Engel, auch wenn ich armes Menschlein
sie nicht sehen kann. Vielleicht wollt ihr nur das sehen, was ihr sehen
wollt! Gibt es eine Art Kleiderordnung bei höheren Mächten?«
Ilvyn holte tief Luft und sah Tigris fest an - was diese bitter
bereuen ließ, sich wieder einmal mit jemandem auf eine Diskussion
eingelassen zu haben, der morgens mit der Weißen Bibel der Xendii
aufwachte und abends darin las, bis er darüber einschlief. Es folgte,
wie nicht anders zu erwarten, ein Zitat aus daraus.
»Wer aber ist schöner als der Siebte Erzengel Gottes?
sprach der König. Seine Augen sind klar und strahlend, kein böses
Wesen kann ihrem Blick standhalten, ohne dass seine Seele sich gegen seine
Bosheit erhebt und es augenblicklich fliehen möchte. Doch es hält
den Atem an und wagt sich nicht zu rühren. Wenn die goldenen Schwingen
des Erzengels schlagen, weht Blütenduft umher gleich einer Sommerbrise
im Garten. Kraftvoll und stark ist er, ein furchtloser Kämpe seines
Herrn.
Das Geheime Buch des Mose 2. Absatz, 1 - 8 Vers.«
Sie erhob sich mit Tränen in den Augen. »Es ist Zeit
für die Morgenmesse.« Dann eilte sie aus dem Speisezimmer, wobei
sie fast Tigris' Mutter in die Arme gelaufen wäre.
»Ach, Tigris«, seufzte Bat Furan. »Du weißt
doch, wie sensibel sie ist. Ich wette, wir dürfen uns jetzt eine geschlagene
Stunde lang eine Predigt über die Bedeutung des Geheimen Buch des
Mose anhören, was ja Lux Livas’ Trost für gekränkte Seelen
ist. Und die Strafe für widerborstige Freidenker wie dich.«
»Wie sie wohl eine Diskussion mit einem eingefleischten Atheisten
überstehen würde?«, fragte sich Ember laut.
»Wahrscheinlich würde sie abwechselnd ohnmächtig
werden und in Tränen ausbrechen.« Tigris rollte missmutig die
Augen, weil sie auch schon ihre kleine, zierliche Mutter auf sich zukommen
sah.
»Tigris Aurora, was hast du wieder zu Ilvyn gesagt?«,
fragte Danubia vorwurfsvoll und hielt Tigris fest im Blick ihrer lindgrünen
Augen.
»Eigentlich nichts Schlimmes«, erklärte Ember,
bevor Tigris den Mund aufmachen konnte. »Wir unterhielten uns über
den Cherub, der gestern wegen einer Beratung mit Lux Livas hier bei uns
gewesen war. Er hatte eine... etwas ungewöhnliche Erscheinungsform
gewählt.«
»Und deswegen ist sie weinend hinausgelaufen? Wenn du sie
irgendwie verletzt hast, solltest du dich entschuldigen, Tigris. Wir wollen
unsere letzten Wochen in Windwibbenburg doch besser friedlich verbringen.«
Tigris klappte der Mund herunter. »Wie...? Wir dürfen
für immer in Düsseldorf bleiben?« Sie schlug selig lächelnd
die Hände vor den Mund.
»Ja. Nach den Feiern zu Equinox Veris wird das Tor zwischen
unserer Wohnung in Düsseldorf und Windwibbenburg gelöscht«,
erklärte Danubia knapp. Da es auffällig still am Tisch geworden
war und alle noch Anwesenden sie groß ansahen, fuhr sie fort: »Das
Talent, Dinge zur unpassenden Zeit herauszuposaunen, hat Tigris anscheinend
von mir. Ja, Lux Livas hat sich endlich einverstanden erklärt. Ihr
wisst, dass es mir sehr am Herzen liegt, dass Tigris ... unter ihresgleichen
lebt. Genau wie viele von euch es genauso selbstverständlich für
das Richtige halten, ihre Kinder hier unter ihresgleichen aufwachsen zu
lassen.«
»Aber was ist mit deiner Aufgabe als Lehrerin?«, fragte
Lux Montana bestürzt, eine der wenigen Mittvierzigerinnen Windwibbenburgs.
»Willst du all deine Pflichten einfach von dir werfen und diejenigen
alleine lassen, die auf deine Anleitung angewiesen sind? Die Zeiten sind
schlimm geworden.«
»Wieso halten wir es nicht wie bisher?«, warf auch Lux
Joel ein, ein ernster, fünfundzwanzigjähriger Seher. »Die
Lösung von zwei Wohnsitzen, schnell zu erreichen durch ein Privates
Tor, war doch für uns alle angenehm.«
»Ehrlich gesagt, fühle ich mich ausgebrannt«, sagte
Danubia leise. »Ich habe der Rosenstern-Allianz fünfzehn Jahre
lang gedient. Ich mache von meinem Recht auf frühzeitige Entlassung
Gebrauch. Vielleicht nicht für immer. Aber im Moment sehe ich mich
nicht mehr in der Lage, meine Schüler mit angemessener Ruhe zu unterrichten.«
Tigris sah, dass ihre Mutter die Hände so fest in das Holz
der Stuhllehne vor ihr krallte, dass die Knochen ihrer schmalen, zierlichen
Hände weiß hervortraten. Gleichzeitig glaubte sie die unausgesprochene
Missbilligung in den Augen zu sehen, die sie, Tigris - zufällig oder
nicht - mit ihrem Blick streiften. ›Klar, sie geben mir alleine die Schuld,
egal, was Mama sagt‹, dachte sie betrübt und wäre am liebsten
augenblicklich aufgesprungen, nach oben zum Tor und geradewegs zurück
in ihr Zimmer in Düsseldorf gerannt.
»Wer von uns wünscht sich nicht, seinem Schicksal entfliehen
zu können«, sagte Ember leise und zog so etliche unverhohlen
zornige Blicke auf sich. Impulsiv umarmte Tigris ihn beschützend und
legte ihren Kopf auf seine Schulter. Doch Ember wollte auf etwas anderes
hinaus.
»Aber ob man so ein selbstgewähltes Exil wirklich ertragen
könnte, mit dem Wissen um die Wahrheit? Ich glaube, ich könnte
es nicht. Mit einem kleinen Bernstein ist es möglich, die Aura des
Xendiums für die Dämonen zu verwischen. Erinnerungen kann er
jedoch nicht löschen. Bringe ich es fertig, vor dem Fernseher auf
der Couch zu liegen, mit der Gewissheit, dass andere Xendii tagtäglich
im Kampf gegen die Dämonen sterben?«
»Es gibt mehr als genug Seher, geradezu im Überfluss«,
wandte Danubia ein und strich sich unsicher eine Strähne ihrer schulterlangen,
dunklen Haare aus dem Gesicht. »Wirklich wichtig sind wir eigentlich
nicht. Die wahre Verantwortung lastet auf den Schultern der Rufer und Wandler.«
»Noch«, entgegnete Lux Montana mit ihrer rauen Stimme.
»Es gab schon mehrmals Zeitalter auf unserer Welt, in denen die Kämpfer
ohne gute Seher niemals hätten entscheiden können, ob sie einen
wahren Menschen vor sich hatten oder einen fleischgewordenen Dämonen.
Wie könnten wir sicher sein, dass diese Zeiten nicht eines Tages wieder
anbrechen? So bedrohlich war die Lage in den letzten dreihundertfünfzig
Jahren nicht mehr, wie wir sie in diesen Tagen vorfinden. Der Einfluss
der dämonischen Gesellschaften auf die Menschen nimmt stetig zu, und
wir leisten nichts als Sisyphusarbeit. Wo wir einen Dämon vernichten,
tauchen zehn neue in den nächsten Stunden auf. Nicht zuletzt dank
diesen Dämonenfreunden, diesen... Abtrünnigen.«
»Mein Entschluss steht fest. Wenn die Situation sich jedoch
wirklich verschärft, werde ich für die Sippe und die Rosenstern-Allianz
antreten«, sagte Danubia. »Und nun sollten wir uns besser auf
den Weg zur Burg machen, die Messe fängt in einer Viertelstunde an.«
Etliche ältere Xendii erhoben sich seufzend, während die
Jüngeren rasch hinauseilten, miteinander tuschelten und Tigris Blicke
zuwarfen, die dieser offen feindselig vorkamen.
.
»Lass uns die Predigt gemeinsam durchstehen«, sagte Tigris
und hakte sich bei Ember unter, um in gebührendem Abstand von irgendeinem
anderen Xendi den etwa eineinhalb Kilometer langen Waldweg hoch zur Burg
Windwibb zu gehen. Ihre Mutter befand sich sehr weit vorne, voll
und ganz von Lux Montana und Lux Joel in Beschlag genommen, die erregt
auf sie einredeten.
»Und wie stehe ich es durch, wenn du bald für immer weg
bist? «, fragte Ember leise.
»Wie stehst du es denn durch, wenn ich - wie so oft - gar
nicht da bin?«
»Nun ja... Hin und wieder gelingt mir die Selbstversenkung.
Dann sehe ich zwar wach und aufmerksam aus, schlafe aber in Wahrheit.«
»Das ist ja mal eine prima Taktik. Könnte ich hin und
wieder auch für die Geschichtsstunden gebrauchen.«
»Es ist nur so schwer, sie zum richtigen Zeitpunkt zu beenden.
Deswegen bin ich bis jetzt ziemlich oft aufgeflogen. Einmal hat mich Lux
Livas zur Strafe einen ganzen Tag und eine ganze Nacht in der Kapelle sitzen
lassen, ohne dass ich es gemerkt habe. Erst Antigua hatte Mitleid mit mir
und hat mich am nächsten Morgen mit einem kleinen elektrischen Schlag
wachgerüttelt.«
»Antigua ist schon eine Sache für sich. Sie sollte niemals
eine Großstadt wie New York betreten. Hinterher bricht Chaos aus,
weil wegen ihr die Stromversorgung in der ganzen Stadt ausfällt.«
»Antigua wird von Woche zu Woche besser. Sie ist eigentlich
ein herzensgutes Mädchen. Und wenn du wüsstest, welches Schicksal
sie hierher nach Windwibbenburg geführt hat, würdest du vielleicht
netter zu ihr sein.«
Ember warf Tigris einen ernsten Blick zu.
Doch Tigris schnaubte nur trotzig. »Ich kann nichts dafür,
dass ihr Vater von Dämonen getötet worden ist!«
»Es hat nichts mit dem Tod ihres Vaters zu tun, sondern eher
mit bestimmten, wirklich grausamen Regeln der Allianz. Mehr kann ich dazu
nicht sagen. Es hat tiefe Wunden in ihrer Seele hinterlassen. Und sie ist
definitiv nicht eingebildet.«
»Doch, ist sie. Die meisten Xendii sind eingebildet«,
beharrte Tigris und kickte missmutig in den Schotter des Waldweges, dass
er in hohem Bogen aufspritzte. » Sie fühlen sich auserwählt,
weil sie Fähigkeiten haben, die normale Mensch-«
»Was soll das denn heißen, normale Menschen?«
»Ja, Entschuldigung! Dann eben Menschen ohne Xendium oder
das Wissen darüber. Sie würden die Xendii jedenfalls beängstigend
finden. Und die Xendii fühlen sich mächtig und toll und halten
uns für Schäfchen, die man zwar beschützen, aber sonst nicht
weiter ernst nehmen muss.«
»Das ist Unsinn, Tig. Die meisten jungen Xendii beneiden dich
um dein normales Leben. Wie gerne würden wir einfach mal in den Städten
spazieren gehen, einfach einen netten Tag mit den anderen Menschen erleben,
Spaß haben und lachen. Aber das geht nicht. Sobald irgendein Dämon
einen Xendii wahrnimmt, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Dann würde
der Ausflug unter Umständen Unschuldige das Leben kosten, Häuser
würden zu Bruch gehen und die Xendii wahrscheinlich in der nächstbesten
Psychiatrie landen, wenn sie nicht schnell genug fliehen können. Wir
schotten uns nicht vom Rest der Menschheit ab, weil wir uns überlegen
fühlen. Wir müssen uns von ihnen möglichst fernhalten, weil
sie uns - wie du schon richtig gesagt hast - nicht verstehen und Angst
haben und weil wir sie schon durch unsere bloße Anwesenheit gefährden
könnten. Das war schon immer so.«
»Soll das heißen, du würdest nicht zu meiner Geburtstagsfeier
kommen? Ich feiere nächstes Wochenende in Düsseldorf, und du
bist herzlich eingeladen!« Tigris blieb stehen und sah Ember flehentlich
an. Der junge Seher seufzte aus tiefstem Herzen und senkte traurig seine
samtbraunen Augen. Tigris merkte ihm deutlich an, dass es ihm ehrlich leid
tat, als er sagte: »Mal abgesehen von den zig Regeln, die so etwas
verbieten - die ich für dich übrigens ohne weiteres brechen würde
-... Ohne einen Bernstein bin ich die Käseplatte und die Dämonen
die hungrigen Mäuse. Ich könnte mich überhaupt nicht gegen
sie wehren.«
»Ich würde sogar Bat Furan einladen, damit er dich beschützt,
nur damit du kommen könntest!«
»Das würdest du tun?« Ember grinste und zog sie
für einen Moment fest an sich. »Was für ein Opfer, wo du
ihn am allerwenigsten leiden kannst. Dabei mag er dich wirklich gerne.«
»Das habe ich ja eben gemerkt«, entgegnete Tigris kühl.
»Trotz des Xendiums ist er tatsächlich auch nur ein Junge.
Und Jungs sind so. Jedenfalls erinnere ich mich an die Zeit, bevor das
Xendium bei mir ausgebrochen ist. Da hieß es: Je mehr du ein Mädchen
magst, desto heftiger solltest du sie ärgern.«
»Dann ist es wohl unsterbliche Liebe bei ihm. Ich weiß
gar nicht mehr, wie oft der Inhalt irgendwelcher Flaschen oder Tuben bei
Tisch von einer Sekunde zur anderen plötzlich in meinem Gesicht oder
meinen Klamotten gelandet ist. Oder diese nette Art, Türen vor meiner
Nase zufliegen zu lassen, irgendwelche Gegenstände auf der Treppe
auftauchen zu lassen, während ich beschwingt hinauf- oder hinuntergehe
oder - ganz liebevoll - mitten in der Nacht die Fenster aufspringen und
irgendwelche ekligen Insektenschwärme in meinem Bett landen
zu lassen. Ich dachte, so etwas machen nur kleine, pubertierende Jungen.«
»Bei uns Männern geht die Pubertät niemals restlos
vorüber.«
»Wieso verhältst du dich nicht so ätzend? Du bist
immer so freundlich und ernst, ganz lieb und vor allem so geduldig mit
allen.«
»Ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich wenigstens um
mich herum Frieden haben möchte, wenn es schon in meinem Kopf so chaotisch
zugeht.«
»In deinem Kopf ist alles in Ordnung, glaub es mir.«
»Ich weiß nicht. Manchmal denke ich...«. Ember
sah sich besorgt um, sodass Tigris wusste, dass er wieder einmal etwas
ansprechen wollte, was nicht im Einklang mit den Vorstellungen der Sippen
war. »Manchmal denke ich zum Beispiel, dass die Abtrünnigen
gar nicht so übel sind, wie sie von der RSA dargestellt werden. Bei
ihnen gibt es keine Sippen, keine Erbsünde, nicht Millionen von Regeln,
die man zu beachten hat... sie sind viel freier. Jeder Seher, der sich
unter die anderen Menschen mischen möchte, bekommt anstandslos einen
Bernstein... Viele von ihnen leben sogar mitten unter den Menschen; ich
weiß nicht, wie sie es schaffen, dass die Dämonen sie dort nicht
belästigen. Stell dir einmal vor...«. Er senkte die Stimme.
»Bei ihnen ist es nichts besonderes, wenn etwa zwei Frauen oder zwei
Männer eine Beziehung haben - du weißt schon, diese Art Beziehung,
für die man in den Sippen sofort exkommuniziert wird.«
»Ich wüsste auch nicht, was daran so gotteslästerlich
sein soll. Als ob man es sich aussuchen könnte, wen man liebt. Die
Sippen sind wirklich altmodisch und rückständig. Was für
ein Kampf es war, bis Livas sich vor zwei Monaten dazu durchgerungen hat,
Computer mit Internetzugang anzuschaffen! Ich habe zu Hause schon seit
drei Jahren so ein Ding stehen.«
»Lux Savanni hat mich wirklich beeindruckt«, Ember lächelte,
versunken in anscheinend sehr erfreulichen Erinnerungen. »Sie ist
noch so jung, gerade mal neunzehn. Wenn sie sich stark genug konzentriert,
kann sie sogar kurz Gedanken lesen. An ihr ist nichts Dämonisches.
Sie ist die Güte in Person. Ich glaube, die Abtrünnigen werden
nur deswegen mies gemacht, weil die Domén Arxes der Welt ihre Macht
mit niemandem teilen wollen. Trotzdem konnten sie nicht verhindern, dass
schon fünf der Zwölf Noden unter der direkten Kontrolle der Abtrünnigen
stehen. Aber im Gegensatz zur Allianz erlaubt PAGAN, die Organisation der
Abtrünnigen, jedem Xendii ungeachtet seiner Abstammung, durch die
Noden und die damit verbundenen Tore wohin auch immer zu gehen. Wenn ein
Abtrünniger Wege benutzen will, die der RSA unterstehen, wird er stundenlang
aufgehalten und schikaniert.«
»Pagan. Was für ein komischer Name. Ist das nicht englisch
und bedeutet ›Heide‹?«
»Das auch. Aber eigentlich sind es die Anfangsbuchstaben von
Paranormal Associations Global and Autonom Network. He, was ist denn vorne
los?«
Tigris wandte daraufhin den Kopf und betrachtete neugierig die Szene,
die sich in einiger Entfernung weiter vorne auf dem Waldweg abspielte:
Die älteren Xendii und Träger waren stehen geblieben und schienen
ziemlich aufgebracht über etwas zu sein. Dann sahen sie Bat Furan
auf sich zu rennen. Ganz aus der Puste blieb er bei ihnen stehen. »Die
Gute Nachricht: Der Gottesdienst fällt aus - Lux Livas muss zu einer
Notversammlung in der Domén Arx. Die Schlechte: Wir haben eine weitere
Node verloren! Die Domén Arx von Atlantika ist zu den Dämonenfreunden
übergelaufen!«
»Oh...«. Ember sah ziemlich verdattert aus. Immerhin
hatten sie keine Minute vorher genau darüber gesprochen.
»Fällt die Morgenmesse aus, steht das Weltenend ins Haus«,
bemerkte Tigris und sah gespielt ängstlich in den Himmel.
»Nicht ganz«, sagte Bat Furan mit todernstem Gesicht.
»Fällt die Morgenmesse aus, steht ’ne Fete uns ins Haus. Während
die Lehrer und die anderen Erwachsenen jetzt bestimmt im Gemeindesaal diskutieren
und sich über diesen Schock einen oder zehn genehmigen, werden wir
die Gelegenheit nutzen und uns in die Südsee verdrücken.«
»Mal abgesehen davon, dass dort jetzt auch strahlender Sonnenschein
um...«. Ember sah auf seine Uhr. »Neun oder zehn Uhr abends
herrscht: Man würde uns niemals den Zutritt zu den Noden der Abtrünnigen
erlauben. Nicht ohne Sondergenehmigung und Sippen-Siegel.«
»Dann eben Zypern oder die türkische Adriaküste.
Egal, irgendwie werden wir die unerträgliche Freizeit schon nutzen.
Wir könnten ja auch in Düsseldorf bummeln gehen. Mit unserer
Besten Freundin Tigris.«
»Wenn ihr euch traut, bitte sehr. Ich besuche euch jedenfalls
nicht im Gefängnis oder in der Heilanstalt«, sagte Tigris spöttisch
und verschränkte die Arme, insgeheim Stoßgebete gen Himmel sendend,
dass Bat Furan sich ja nicht an dieser Idee festbiss. Sie musterte ihn
argwöhnisch. Groß, breitschultrig, dunkelhaarig, die Augen so
blau wie der Himmel bei bestem Sommerwetter - er war genau der Typ Junge,
auf den beispielsweise ihre beste Freundin Berry augenblicklich fliegen
würde. Nein, das kam gar nicht in Frage. Andererseits... sie betrachtete
Ember liebevoll. Er sollte bei ihrem Geburtstag dabei sein. Er musste dabei
sein! Er war wie ein Bruder für sie, und er hatte es verdient, einmal
für ein paar Stunden der Enge Windwibbenburgs und seiner Sippe zu
entfliehen.
»Hättest du Interesse an einem Job als Bodyguard?«,
fragte sie Bat Furan daher möglichst beiläufig.
»Aber Tigris! Ich bin entsetzt! Nur weil wir dich nicht leiden
können, heißt das noch lange nicht, dass einer von uns dich
deswegen umbringen würde.«
»Da wäre ich mir überhaupt nicht so sicher. Nein,
es geht um meinen Geburtstag, den ich in Düsseldorf feiern werde.
Ich möchte Ember dabeihaben. Und damit ihm nichts passiert, sollst
du mitkommen. Wenn du möchtest. Und wenn du dich traust, natürlich.«
»Also, ich würde mich dann theoretisch und auch praktisch
trauen«, bemerkte Ember in seiner gewohnt bescheidenen Art.
»Das ist ja wohl das geringste Problem«, antwortete
Bat Furan und sah nachdenklich in die Baumwipfel des Waldes. »Aber
es wäre besser, wenn Antigua auch mitkommt. Sie steckt locker etliche
Schüsse von Dämonen weg. Ich kann zwar gut schießen, aber
mit den Körperschildern hapert es noch bei mir.«
»Warum feiere ich es dann nicht gleich hier in Windwibbenburg?«,
stöhnte Tigris und verdrehte die Augen. »Gut, ich überlege
es mir. Falls sie mir überhaupt zuhören würde. Sie ist noch
sauer wegen eben. Dabei habe ich es gar nicht so gemeint, wie sie es aufgefasst
hat.«
»Das ist dein Problem. Ich gehe dann mal wieder zu den anderen«,
rief er und stürmte davon zu den Grüppchen der jungen Xendii,
die sich vor einem umgestürzten, moosbewachsenen Baumstamm versammelt
hatten, der einige Schritte abseits des Weges im Wald stand. Vor ihnen
hüpfte Arktur nervös von einem Bein aufs andere, während
die Xendii ihre Scherze rissen.
»Na los, zeig mal, was du schon drauf hast!« »Wir
dachten schon, deine Mutter hätte sich bei deiner Zeugung im Mann
geirrt und du wärst vollkommen unbegabt.« »So unbegabt
wie Tigris.« »Tigris kann gut abspülen, sagt nichts gegen
Tigris.«
Tigris setzte ihren verächtlichsten Gesichtsausdruck auf und
schlenderte untergehakt bei Ember langsam zu ihnen.
»Ich kann schon echt gut Wind machen, ich habe heute Morgen
um fünf sogar meinen Drachen steigen lassen. Aber er ist zu Hause,
sonst könnte ich es euch zeigen«, sagte Arktur und leckte sich
nervös und verlegen über seine ewig rissigen Lippen.
»Wir könnten doch Tigris nehmen, dann würden sich
eventuell mehrere Probleme auf einmal lösen«, schlug Dheneb,
eine vierzehnjährige, burschikose Wandlerin vor. Wie Arktur war sie
nach einem Stern benannt. Andere trugen Flussnamen - wie Tigris selber
- oder den Namen eines Windes - wie Bat Furan.
»Um mich auch nur einen Zentimeter hoch schweben zu lassen,
braucht ihr mindestens zehn starke Wandler und nicht dieses Frettchen«,
entgegnete Tigris müde lächelnd.
Bat Furan zog sich edelmütig seine Diesel-Jeansjacke aus, die
er erst eine Woche zuvor auf einem Markt in Singapur billig erstanden hatte.
»Das reicht für den Anfang. Wenn du es schaffst, sie mindestens
drei Meter hoch zu wehen, gebe ich dir ein Eis in meinem Lieblingsbistro
in Istanbul aus.«
Er breitete sie vor Arktur auf den vertrockneten Blättern des
Waldbodens aus und trat dann zurück.
»Okay, das kann ich schaffen«, sagte Arktur, schloss
die Augen und holte tief Luft.
Wider willen beobachtete Tigris ihn gespannt.
Arktur begann sich langsam im Kreis zu drehen. Noch wirbelten nur
die Blätter durch seine Schritte auf. Erstaunlich rasch fing jedoch
das Laub in einem Radius von etwa zwei Metern an, aufzufliegen, als scheuchte
es der Junge mit einem unsichtbaren Stock in die Höhe.
»Nicht übel, er benutzt Aethron-Nebel, um die Luft zu
bewegen«, raunte Ember den anderen zu.
Aethron.
Tigris wusste, dass letztendlich die Fähigkeiten der Xendii
darauf zurück zu führen waren, dass sie im Gegensatz zu den anderen
Menschen das allgegenwärtige Aethron wie Engel oder Dämonen beeinflussen
konnten. Es kam angeblich überall im Universum vor, war laut Ember
etwas völlig natürliches und besaß die Eigenschaft, auf
Materie zu wirken. Für die meisten Menschen auf der Welt war es unsichtbar,
weswegen sie die unheimlichen Dinge, die ein Xendi vollbringen konnte,
auf in ihm sitzende Kräfte zurückführten, oder auf einen
Pakt mit dem Teufel. Wie so vieles, was die Menschen glaubten, stimmte
das natürlich überhaupt nicht. Ohne Aethron kein Xendium, keine
Xendii - so einfach war die Formel. Man konnte diese Fähigkeiten nicht
erlernen, und auch nicht an der Garderobe abgeben. Einmal ausgebrochen,
konnte nichts und niemand das Xendium wieder verlöschen lassen. Einzig
die Seher hatten durch einen besonders präparierten Bernstein die
Möglichkeit, ihre Aura für Dämonen zu verwischen und so
möglichen Angriffen zu entgehen. Allerdings hatte das für sie
bei lang anhaltendem Gebrauch den gravierenden Nachteil von Konzentrationsschwäche
und Bewusstseinsstörungen.
»Hey, Arktur, du Naturtalent!«, johlten die Xendii.
Der schmächtige Junge drehte sich nun sehr schnell im Kreis, während
ein Schleier aus trockenem Laub und dürren Zweigen sich um ihn herum
und mit ihm bewegte. Die Jeansjacke schwebte schon in Arkturs Brusthöhe.
»Er hat es echt drauf. Wer hätte das gedacht?«,
rief Bat Furan anerkennend.
Mit einem Mal blieb Arktur stehen und warf die Hände in die
Höhe, woraufhin das Kleidungsstück steil nach oben zwischen die
Baumwipfel flog - und in den Ästen einer kahlen alten Eiche hängen
blieb.
»Drei Meter hätten gereicht, du Angeber!«, lachte
Bat Furan und sah eigentlich überhaupt nicht erbost aus. Doch Arktur,
der den älteren Wandler zutiefst verehrte, stampfte zornig mit dem
Fuß auf und rief: »Blöder Baum!« Gleich darauf machte
er eine heftige Schleuderbewegung in Richtung der Jacke. Es gab ein hässliches,
endgültiges Geräusch von splitterndem Holz - dann stürzten
zwei große Äste mitsamt Bat Furans Jacke zu Boden. Als sie auftrafen,
wirbelten sie eine große Wolke aus trockenem raschelndem Laub auf.
»Schießen kannst du sogar auch schon, Kleiner!«,
sagte einer der jungen Xendii und alle lachten.
»De Navarris ist ganz wild auf Talente, die es den Dämonen
so richtig besorgen können!«
Nur Ember schaute bestürzt auf die herabgeschossenen Äste,
während Tigris vor Wut kochend auf Arktur zuschoss und ihn anbrüllte:
»Du Spinner! Der Baum hat dir nichts getan!« Zornesrot fuhr
sie herum und zischte den amüsierten Xendii zu: »Ich dachte,
Bäume sind heilig und man soll sie nicht ohne Grund verletzen, und
schon gar nicht aus Spaß zerstören!«
»Reg’ dich ab, Tigris. Er hat ein wenig überreagiert,
das war alles«, sagte Antigua kalt.
»Arktur? Du siehst so grün aus...«, bemerkte Ember
besorgt und legte dem Jüngeren die Hand auf die Schulter.
»Tja, das gehört dazu. Wer angeben will, muss auch was
hergeben«, kicherte Dheneb. »Die ersten Wochen nach Ausbruch
meines Xendiums habe ich gleich zehn Kilo abgenommen, weil ich gar nichts
soviel essen konnte, wie ich wieder auskotzen musste.«
Schon begann Arktur zu husten und zu würgen. Stöhnend
sank er auf die Knie, die Hände auf seinen Magen gepresst. Plötzlich
sprang Ember zu Seite, gerade noch rechtzeitig, so dass der unappetitliche,
erbärmlich stinkende Schwall aus Arkturs Mund ihn nicht traf.
Die anderen Xendii, die sich einige Schritte zurückgezogen
hatten, betrachteten Arkturs Brechanfall seelenruhig und augenscheinlich
ohne größeres Mitleid.
»Man sollte es anfangs ruhig angehen und nicht soviel mit
Aethron herumspielen«, befand Antigua.
»Aber man tut es dann natürlich doch, man kann nicht
anders«, sinnierte Bat Furan. »Was habe ich mir damals die
Seele aus dem Leib gebrochen. Und die Magenkrämpfe haben mich fast
umgebracht. Im Moment ist Nasenbluten angesagt... Gott wollte nicht, dass
wir allzu viel Spaß mit unserem Xendium haben, das steht fest.«
Inzwischen war Arktur zu einem schluchzenden, zitternden Häufchen
Elend zusammengebrochen, wurde in unregelmäßigen Abständen
von einem spastischen Anfall durchgeschüttelt und erbrach in der Zeit
dazwischen die letzten Reste seines Frühstücks.
›Das geschieht ihm ganz recht‹, dachte Tigris voller Genugtuung.
›Das geschieht ihnen allen ganz recht. Sie halten sich für etwas Besonderes
und geben ständig mit ihren Fähigkeiten an. Gott ist gerecht.‹
»Versuche, tief und regelmäßig durch zu atmen«,
schlug Ember vor, der als einziger bei Arktur auf dem Waldboden hockte
und ihm beruhigend über den Rücken strich. Doch dieser kroch
auf allen vieren benommen durch das raschelnde Laub, würgte und hustete
fast ohne Unterbrechung.
Tigris seufzte. Allmählich begann Arktur ihr Leid zu tun. Er
war zwar ein Spinner, der aus unerfindlichen Gründen oft wie eine
Klette an ihr und Ember hing, wenn Tigris in Windwibbenburg war - aber
im Gegensatz zu manchen anderen bedachte er sie nicht mit blöden Sprüchen
oder spielte ihr irgendwelche hirnrissigen Streiche.
Sie kramte in ihrer Jeansjacke nach einem unbenutzten Taschentuch
und ging zu dem unglücklichen Arktur. Er brach inzwischen nicht mehr,
sah aber immer noch hundeelend aus und zitterte.
»Hier, wisch dein Gesicht ab, Frettchen«, sagte sie
und hielt ihm das Tempo hin.
»D-danke«, ächzte Arktur. Tigris zerstrubbelte
ihm aufmunternd die rotbraunen borstigen Haare.
»Tigris hat doch ein Herz für uns Xendii«, spöttelte
jemand hinter ihr.
»Kotzende, spastisch zuckende Leute mit Nasenbluten und tiefen
Ringen unter den Augen kann selbst ich nicht hassen«, erwiderte Tigris
kalt. »Jemandem, der leidet, zu helfen, ist eine zutiefst menschliche
Regung.«
»Dämonen kennen kein Mitleid«, entgegnete Bat Furan.
»Und sie halten dir ganz bestimmt kein Taschentuch hin. Man muss
lernen, diese Nebenwirkungen auszuhalten. Besser, Arktur gewöhnt sich
von Anfang an daran. Übersensible Xendii leben in der Regel nicht
lange genug, um ihre Wehwehchen zu kultivieren.«
»Ja, ihr seid ja alle so hart im Nehmen, ich weiß. Die
Helden, die permanent die Menschheit vor dem Bösen schützen,
ohne dass sie es überhaupt weiß...«. Tigris funkelte die
Gruppe der Xendii feindselig an.
»Tigris!« Ember zupfte seine Freundin vorwurfsvoll am
Jackenärmel.
»Ember, keine Sorge«, sagte Antigua gelassen. »Sie
kann uns gar nicht verletzen. Was weiß sie schon von uns oder über
die Welt. Die wahre, ganze Welt?« Antigua schnaubte verächtlich
auf und wandte sich als erste zum Gehen um, woraufhin alle anderen Xendii
es ihr wie auf Kommando gleichtaten. Sie hingen immer zusammen, mindestens
aber zu zweit. Und jeder Seher blieb in der Nähe eines Wandlers oder
bei Antigua, der einzigen Ruferin in Windwibbenburg.
»Wartet auf mich, ich bin wieder okay«, krächzte
Arktur, kam mit Embers Hilfe schwankend wieder auf die Beine und torkelte
Seinesgleichen hinterher. Die Gruppe nahm ihn in ihre Mitte und entfernte
sich rasch in Richtung Burg. Der Waldweg, den sie beschritt, endete in
etwa achthundert Metern Entfernung vor einer langen und steilen Granittreppe,
die hinauf zu dem alten Gebäude führte. Tigris mochte das düstere,
kalte Gemäuer überhaupt nicht. Früher hatte sie sich oft
gefragt, wo die Xendii unterrichtet wurden, war die Burg doch eigentlich
ziemlich klein. Inzwischen wusste sie, dass es dort oben größtenteils
Korridore mit zahlreichen Türen gab - Türen, die zu Zimmer führten,
die sich irgendwo anders in Deutschland befanden, zumeist Passagen zu den
Mayor Arxes - den Burgen - der größten Sippen. Da Windwibbenburg
eine eher kleine, unbedeutende Sippe war, gab es in der Burg keine direkte
Passage zur herrschenden Sippe Europas nach Barcelona. Dort lebte die über
Europa wachende Gemeinschaft, die Domén Arx, dort lebten die De
Navarris. Und dort befand sich auch die Node von Europa, einer der zwölf
Knotenpunkte auf der ganzen Welt, von dem aus viele Passagen in andere
Gegenden Mitteleuropas führten und der mit allen anderen elf Noden
verbunden war, sodass man innerhalb weniger Minuten buchstäblich vom
Nordpol zum Südpol gehen konnte, wenn man nur wusste, welche Noden
und Tore man dafür durchschreiten musste. Was sich für Menschen
wie Tigris wie ein Scherz anhörte: ›Ich geh’ mal rüber nach Grönland,
wir treffen uns in zwei Stunden auf Fidji‹, war für die Xendii, Träger
des Xendiums und einige wenige Menschen ohne Xendium etwas völlig
Normales, und das schon seit Jahrtausenden. Wer brauchte da noch Besen
oder fliegende Fabelwesen? Das waren ohnehin Legenden, die die Xendii entweder
selber über sich in Umlauf gebracht hatten oder die aus zufälligen
Ereignissen heraus entstanden waren. Jedenfalls glaubten die ›vernünftigen‹,
›aufgeklärten‹ Menschen in der Welt ohnehin nicht mehr an Hexen und
Zauberer, was von diesen genau so beabsichtigt war. Und inzwischen galten
sowohl ›Hexe‹ als auch ›Zauberer‹ inzwischen als Schimpfwörter und
Beleidigungen unter den Xendii und bezeichneten jemanden, der sich mit
seinem Talent ziemlich tollpatschig anstellte oder damit ein merkwürdiges
Ergebnis erzielte.
Tigris bemerkte, dass Ember sehnsüchtig den Weg zur Burg betrachtete.
»Du möchtest rauf, stimmt’s?«, fragte sie ein wenig gekränkt.
»Hm... ja, aber nicht wegen den anderen. Ich wollte noch etwas
erledigen. Aber das kann warten.«
»Da aus dem Gottesdienst nichts mehr wird, hat meine Mutter
bestimmt nichts dagegen, wenn ich ein paar Stunden in Düsseldorf bleibe.
Sie ist ja ohnehin fürs erste beschäftigt mit der Sippe. Ich
wollte mit Berry noch ein paar Besorgungen für nächste Woche
machen. Geh also ruhig, Ember.« Sie lächelte ihn zur Bekräftigung
strahlend an.
»Wirklich? Aber du bist doch spätestens zum Abendessen
wieder zurück, oder?«
»Klar«, sagte Tigris und seufzte lustlos bei dem Gedanken
daran. »In Wahrheit kann ich doch nicht ohne die permanenten Sticheleien
meiner lieben Freakfreunde leben und brauche sie hin und wieder.«
»Sie denken bestimmt dasselbe. Auf eine Art bist du genau
wie diejenigen, die du ständig kritisierst. Du grenzt dich selber
ab - und beklagst dann die Arroganz der anderen Seite.«
»Antigua hat recht: Ich verstehe euch nicht. Dieses ständige
Gerede von Dämonen und Tod, von Heiligen Engeln und bösen Abtrünnigen
- wer nicht in der Xendii-Welt steckt, kann einfach nur annehmen, sie haben
nicht alle Tassen im Schrank. Weißt du was?« Tigris sah Ember
entschlossen an. »Dir und meiner Mutter zuliebe versuche ich aber
trotzdem, mich ab jetzt zusammenzureißen. Bald sehe ich die meisten
von euch nie mehr wieder...«
»Wie wahr. Falls du einige Jahre später wieder hier auftauchen
solltest, sind viele bestimmt schon tot.«
Tigris schluckte und versuchte den schrecklichen Gedanken zu verdrängen,
der für einen Moment in ihr aufgetaucht war: Wenn du einige Jahre
später wieder hier auftauchen solltest, könnte Ember schon tot
sein.
»Okay, wir sehen uns heute Abend«, sagte sie deshalb
kurzentschlossen, drückte Ember noch schnell und flüchtete dann
regelrecht zurück in die Siedlung.
Sie stürmte in das hübsche Fachwerkhaus, fegte die Holztreppe
hinauf bis in ihr Zimmer und blieb dann außer Atem vor der schlichten
Buchentür neben ihrem Bauernschrank stehen, um sich die Tränen
vom Gesicht zu wischen, die sich mit einem Kribbeln in der Nase angekündigt
hatten und die sie nicht zurückzudrängen vermochte.
»Wenn ihm etwas passiert, falle ich tot um«, dachte
Tigris mit einem Kloß im Hals. Noch nie war ihr so stark bewusst
geworden, wie grausam sich schon allein der Gedanke an den Tod eines Freundes
anfühlte. Dann fiel ihr das Lied ein, das Ember ihr einmal leise vorgesungen
hatte, als sie beide in den Alten Turm in den Wäldern Windwibbenburgs
entflohen waren, ihrem Versteck, wo sie sich ihre geheimsten Gedanken und
Träume gegenseitig offenbarten.
Wischt fort, ihr Lieben, die Tränen geschwind
Gott hat mir endlich Frieden gegeben
Nun fliegt meine Seele frei wie der Wind
Ohne Schmerz ist mein neues Leben
Die Engel sind heute zu mir gekommen
Küssten zart mir das kalte Gesicht
Haben mich in ihre Arme genommen
Trugen meine Seele hinauf in das Licht
Weint nicht, ihr Lieben, lächelt mir zu
Singt für mich nur fröhliche Lieder
Das schmerzvolle Leben verglüht im Nu
Bald schon sehn wir uns wieder
Sie schniefte und blieb immer noch unschlüssig vor der Tür
stehen. Jetzt fingen schon wieder diese Kopfschmerzen an, diese Unruhe
in ihrem Herzen. Seit einigen Tagen fühlte sie sich seltsam rastlos,
wie jemand, der schon ein Gewitter herannahen fühlte, während
die anderen noch fröhlich in der Sonne spielten.
Plötzlich fingen bunte Punkte an, vor ihren Augen zu tanzen.
Lichtwirbel und strahlende Spiralmuster drehten sich um sie herum. Ihr
wurde so schwindelig, dass sie sich gegen die Wand lehnte und ihre pochende
Stirn gegen den kühlen Stein drückte.
In diesem Moment hörte sie zum ersten Mal eine raue, kalte
Stimme von irgendwoher sprechen, die ihr merkwürdig vertraut vorkam.
Doch woher kannte sie sie bloß? Es wollte ihr nicht einfallen.
Die Stimme klang verzweifelt und traurig:
›Einen mächtigen Palast habe ich mir und ihr gebaut, dort
lebe ich für alle Zeiten angekettet. Er steht inmitten eines dunklen
unfruchtbaren Landes, dessen giftige Wolken jeden Sonnenstrahl und jeden
Stern aussperren. Blutiges Eis aus bitteren Tränen umfängt die
verdorrten Gärten. Es ist so kalt, dass jeder erfrieren würde,
beträte er es. Unüberwindbare Berge bewachen den Palast, erbaut
aus Schuld und Hass auf alles.
Dies ist meine Zuflucht, die ich mir selber erwählt habe,
mein Exil, das ich mir zu Recht für mein abscheuliches Verbrechen
verdient habe.
Für das, was ich ihr angetan habe.‹
Benommen schüttelte Tigris den Kopf. Die Stimme verhallte,
die Punkte und Lichterscheinungen verblassten. Erschrocken schaute sie
sich um. Doch sie stand ganz alleine im Zimmer, irgendwo im Bayerischen
Wald, an einem Ort, den die normalen Menschen aus bestimmten Gründen
nicht wahrnahmen noch dessen Natur sie kannten.
›Die Freak-Schwingungen zerkochen auch schon mein Gehirn. Höchste
Zeit, von hier abzuhauen!‹, dachte Tigris wütend, riss energisch die
Tür auf und trat in die undurchdringliche Finsternis ein.
Ein Tor zu passieren, dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde und
fühlte sich in etwa an, als stünde man genau vor einem voll aufgedrehten
Bassverstärker - nur ganz ohne Musik. Wenn man es das erste Mal in
seinem Leben durchschritt, wurde man von der einen Moment lang dauernden
grenzenlosen Panik befallen, in einen Abgrund zu stürzen. Doch dies
währte nur solange, bis der ausgestreckte Arm eine glatte, harte Fläche
fühlte und dagegen stieß. Dann ging eine andere Tür auf,
und das Bein, das man ausgestreckt hatte, setzte beispielsweise auf stinknormalem
Laminatboden auf.
Tigris seufzte erleichtert, als sie im Flur ihrer Düsseldorfer
Wohnung stand. Ärgerlich stieß sie den zwei Meter hohen Barock-Spiegel
hinter sich zu, der das Tor nach Windwibbenburg schloss und ging sofort
zum Telefon, um Berry anzurufen.
Sie brauchte jetzt normale Menschen um sich, ganz stinknormale Leute,
die sich nicht ständig mit Aethron, Kotzen und dem Tod beschäftigten.
© I.S.
Alaxa
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