Lux Livas saß viertel vor elf Uhr abends des schicksalhaften
Sonntags, fünf Tage nach Equinox Veris, mit Lux Montana in seinem
Büro, als es an der Tür klopfte und Danubia plötzlich hereinkam.
»Danubia! Gott sei Dank, wir haben uns schon Sorgen gemacht!«,
rief Montana, die sofort aufgesprungen war und die schmale Seherin erleichtert
an sich drückte.
»Und bringst du uns gute Neuigkeiten?«, fragte Lux Livas
augenblicklich. Er sah überhaupt nicht gut aus, wie Danubia erschüttert
feststellte. Genau wie Lux Montana hatte er gerötete Augen, die Sorgensfalten
um Mund und an der Stirn hatten sich noch tiefer eingegraben.
»Ich bringe noch etwas viel besseres.« Danubia holte
einen flachen runden Gegenstand aus ihrer Jeansjacke hervor und legte es
auf den Schreibtisch des Sippenoberhauptes.
Mit großen Augen betrachteten die beiden anderen die handtellergroße
Silberscheibe, an deren Rand die Buchstaben des Alphabets aus schwach grün
glühenden Aethron umgaben, darunter Kombinationen wie ›DH‹, ›KH‹ oder
auch ›XX‹.
»Schon wieder eine von diesen Dämonensonnen«, sagte
Lux Montana, der beim Anblick des Gegenstandes ein Schauer über den
Rücken lief. In den Büchern, die die Allianz als Lehrmittel für
die Sippen herausgab, wurden Dämonensonnen als Hilfsmittel der Teufelsanbeter
beschrieben, um den bösen Dienern der Shinnn unter Umgehung der Noden
Einlass zur Welt zu verschaffen. Und genau mit Hilfe so eines Gegenstand
hatten zwei Mitglieder PAGANS für die jungen Wandler vor drei Tagen
eine illegale Passage zu ihrem Seminar in die Mongolei errichtet.
»Es ist genau das, was ich erwartet habe. Auch wenn mir nicht
sehr wohl dabei ist«, bemerkte Lux Livas.
»Es heißt RAM. Damit können wir ein direktes Tor
in das Hauptquartier von PAGAN aktivieren. Das Passwort lautet ›Eloyah‹.
Und man rät uns, es augenblicklich zu tun.« Danubia senkte den
Kopf.
»Mont Tonc wurde aufgelöst. Dreizehn Xendii, darunter
fünf Kinder, wurden bei dem Überfall getötet.« Sie
schloss bei der Erinnerung an die kleinen, verbrannten Leichen die Augen
und schüttelte stumm den Kopf.
»Ja, wir wissen davon. Wir haben eine Mitteilung der Domén
bekommen, in der Mont Tonc der Teufelsanbetung und des Verrats angeklagt
wird«, erwiderte Livas leise, ohne die merkwürdige Scheibe aus
den Augen zu lassen.
Danubia stützte sich auf den Schreibtisch, beugte sich zu Livas
vor und sah ihn eindringlich an. »Dann lass uns das Tor augenblicklich
öffnen und fortgehen. Ich fürchte mich mittlerweile mehr vor
unserer Domén als vor den Daimons in Shangri-La.«
»Wir müssen jetzt ruhig bleiben und dürfen nicht
die Nerven verlieren. Dieser Gegenstand ist nur für den äußersten
Notfall gedacht und ich bin PAGAN sehr dankbar dafür. Aber es gibt
endlich einen kleinen Silberstreifen am Horizont: Die Domén Arxes
von Azteca und Atlantica haben gegen die verschärfte Vorgehensweise
der Europäischen und Nordamerikanischen Doméns Einspruch eingelegt
und Umbriel außerdem wegen religiöser Aufhetzung und Anstiftung
zu Mord angeklagt.«
»Ich weiß. Procyon hat mir davon erzählt«,
bekannte Danubia mit einem schwachen Lächeln.
Lux Montana hob argwöhnisch die Braue. »Du hast ihn wieder
gesehen?«
»Er ist Berater von George Midfield, dem Präsidenten
von PAGAN. Er hält sich sehr häufig in Shangri-La auf. Es war
unvermeidlich, ihn dort anzutreffen.« Und da Danubia es schaffte,
unbeteiligt zu klingen, gingen die beiden anderen Windwibbs nicht näher
darauf ein.
Dabei schlug ihr Herz in Wahrheit schon schneller, wenn sie nur
an Procyons Blick dachte, der sie noch an diesem Morgen mit seiner Wärme
und Zärtlichkeit empfangen hatte, als sie in seinen Armen erwacht
war.
»Shangri-La gibt es also wirklich«, rief Lux Livas erstaunt
aus. »Es soll von Dämonen errichtet worden sein, wie damals
Salomos Tempel.«
»Es gibt auch hochbegabte Wissenschaftler im Dienste PAGANs«,
wich Danubia aus.
»Wenn wir das RAM aktivieren, gelangen wir direkt in die Asiatische
Node und nach Shangri-La. Diejenigen der Mont Toncs, die die Auflösung
überlebt haben, sind dorthin geflüchtet und können frei
wählen, wo sie innerhalb des Gebiets von PAGAN leben möchten.
Ständig kommen Einzelne und Gruppen aus den Doméns der Allianz,
vor allem aus Europa und Nordamerika. Wie konnten wir so lange Zeit nichts
von dem Irrsinn bemerken, den De Navarris und andere Sippen hinter unseren
Rücken vorbereitet haben?« Danubia setzte sich auf den Stuhl
vor dem mächtigen Schreibtisch und knetete nervös ihre Hände.
»Hat Tigris die Examination gut überstanden? Ich wage
es kaum, ihr unter die Augen zu treten. Dabei möchte ich nichts lieber,
als sie endlich wieder in die Arme zu schließen.«
Verwundert sahen die beiden anderen sie an, woraufhin Danubia hastig
ergänzte: »Immerhin war ich an ihrem wichtigen Tag nicht an
ihrer Seite.«
»Tigris ist wohlauf. Dank Phoebe De Navarris hat niemand Verdacht
geschöpft. Sie ist eine derjenigen unserer Domén Arx, die den
Wahnsinn hinter Umbriels Predigten bemerkt haben«, erklärte
Lux Montana. Dann wandte sie sich mit besorgt zusammen gezogenen Brauen
näher zu Danubia.
»Sie hat erwähnt, dass die Aura von Tigris sehr ungewöhnlich
ist. Wir haben uns schon gewundert, wieso du nichts bemerkt hast. Doch
auch unsere Seher können nichts Außergewöhnliches an ihr
feststellen. Hat Procyon Zimberdale dir immer noch nicht verraten, wie
er das Xendium bei ihr so lange Zeit unterdrücken konnte? Und würde
der Schutz immer noch wirken, wenn sie nicht dieses merkwürdige Amulett
um den Hals trüge?«
»Er hat ein Eid gegenüber einer anderen Person geleistet,
niemals ein Wort darüber zu verlieren, mehr weiß ich nicht.
Aber es ist mir gleich: Er hat ihr damit das Leben gerettet, alles andere
ist unwichtig. Und vielleicht kommt der Tag, an dem jemand Tigris von diesem
Gegenstand befreien kann. Ich hoffe es so sehr.«
Sie betrachtete gedankenverloren ihre schmalen Hände. »Wie
hat unseren jungen Wandlern eigentlich das Seminar gefallen? Ich habe in
Shangri-La erfahren, dass es vorgezogen wurde.«
Lux Montana lächelte zum ersten Mal. »Oh, es ist erstaunlich,
was diese wenigen Stunden bewirkt haben. Ich war ja nie ein herausragendes
Talent in dieser Hinsicht. Es gibt nicht mehr viel, was ich ihnen beibringen
kann. Noch einige Unterrichtsstunden bei diesen jungen Wandlern von PAGAN
und sie können stattdessen mich und einige ältere Wandler hier
in Windwibbenburg unterweisen. Wie unbefangen sie seitdem mit Aethron umgehen!«
»Nun, unkonventionell war PAGAN doch schon von Anbeginn an«,
brummte Lux Livas.
»Wo sonst rät man einem Wandler, trotz der bedrohlichen
Nebenwirkungen weiter zu wandeln? So dankbar ich PAGAN auch bin - manche
Sachen sind meiner Meinung nach lebensgefährlich. Es ist doch eine
bewiesene Tatsache, dass der DiS-Verfall bei einem Xendi um so eher einsetzt,
je häufiger das Aethron durch ihn hindurchfließt.« Er
streckte langsam die Hand aus und nahm dann vorsichtig die Silberscheibe
auf, um sie mit angehaltenem Atem zu betrachten. »Wie öffnet
man das Tor überhaupt?«
»Das muss ein Wandler anscheinend mit einem roten Strahl machen«,
erklärte Lux Montana, die sich an die Vorgehensweise des hochgewachsenen
Farbigen von PAGAN erinnerte.
Danubia nickte. »Er muss damit bei dem ›E‹ beginnen und nacheinander
ohne abzusetzen von Buchstabe zu Buchstabe weitergehen, bis er alle Lettern
des Passwortes auf diese Weise miteinander verbunden hat. Damit aktivieren
wir eine direkte Passage nach Shangri-La.«
Lux Livas öffnete jedoch eine Schublade an seinem Schreibtisch
und legte das RAM wie erleichtert hinein. »Nun, hoffen wir, dass
wir niemals in diese Lage geraten. In wenigen Minuten beraten wir über
ein Treffen von Gleichgesinnten, dem ich gestern in Norwegen beiwohnte.
Du kommst also genau zur rechten Zeit.«
»Bitte seid mir nicht böse, aber zunächst möchte
ich Tigris sehen. Vielleicht komme ich später dazu, wenn ich nicht
zu müde bin.« Danubia sah den Sippenobersten flehentlich an
und zauberte auf diese Weise ein nachsichtiges Lächeln auf sein Gesicht.
Noch nie hatte er ihr etwas abschlagen können. Er nickte verständnisvoll
und erhob sich dann, um zusammen mit Lux Montana in den Festsaal hinunterzugehen
und Danubia mit einer aufmunternden Berührung an der Schulter aus
ihrer Mitte zu entlassen.
.
Nie hatte man seine Ruhe im Haus Rosenhag 3!
Trotz Ohropax, trotz der drei Decken, die sie über sich gezogen
hatte, um den ausgelassenen Lärm ignorieren und sich auf dieses ungeheuer
alt und interessant aussehende Buch konzentrieren zu können, hielt
es Ilvyn schließlich nicht mehr länger aus.
Als sie ihre Zimmertür mit der sauersten Miene öffnete,
die man sich vorstellen konnte, preschte Arktur an ihr vorbei, wobei er
mit einem Handschutz aus Aethron lachend die kleinen grünen Kugelschwärme
abwehrte, die ihm Ras Algheti von der Treppe hinterher schoss und die nur
um wenige Millimeter Ilvyns Stirn verfehlten.
»Seitdem ihr dieses blöde Seminar mitgemacht habt, seid
ihr vollkommen verrückt geworden!«, schrie sie Ras Algheti zornig
an, der sich erschrocken die Hand vor den Mund schlug und halbherzig »Oops!
Tschuldige, war keine Absicht...« hervorstieß, als er an der
bebrillten Seherin eiligst vorbeihastete, um Arktur weiterzuverfolgen,
der inzwischen in das nächste Stockwerk gerannt war.
»Bat Furan! So geht das aber wirklich nicht!«, ertönte
von unten Lux Joels hilflose und höchstwahrscheinlich vollkommen nutzlose
Ermahnung. Als Ilvyn sich über die Brüstung beugte, sah sie den
jungen Wandler genau unter sich an einem Seil aus Aethron fröhlich
und kopfüber hin- und herschwingen. Ein Ende war um seine Füße
gewunden, das Andere aber genau um die Holzstrebe verknotet, vor der sich
Ilvyns Bein befand. Erschrocken machte sie einen kleinen Hüpfer rückwärts.
Nein, das konnte doch ein vernünftiger Mensch nicht länger
ertragen! Wütend marschierte sie in ihr Zimmer, wickelte das kostbare
Buch in einen Schal und rauschte mit zornbebenden Lippen die Treppe hinunter.
Sie warf dem älteren Seher noch einen mitleidigen Blick zu:
Lux Joel hatte zwar die Aufsicht an diesem Abend, aber eindeutig schon
längst die Kontrolle zumindest über die Wandler verloren. Warum
musste auch sie, Ilvyn, ausgerechnet in jenem Haus leben, in dem die Schlimmsten
von ihnen wohnten? Wie ruhig ging es dagegen in den anderen Häusern
zu, wo es nur Dheneb, Vorias, Antaris und Sienna gab - und selbst diese
versammelten sich mit Vorliebe in Haus 3. Wieso in Gottes Namen hielten
die Älteren seit einigen Wochen so ausdauernd Zusammenkünfte
ab, obwohl sie doch wussten, dass der jüngere Rest bei solchen Gelegenheiten
stets machte, was er wollte?
Und wie frech die Wandler seit dem Seminar geworden waren! Ilvyn
sah empört, wie Arktur mit Aethron heimlich ›Mamas Liebling‹ auf den
Rücken von Lux Joel schrieb, während jener mit Bat Furan schimpfte,
der nur blöde und gelassen grinste.
Sie schloss die Tür und eilte mit schnellen Schritten zur Burg,
denn so ganz ohne wandlerischen Schutz fand sie es äußerst beängstigend,
durch die Dunkelheit zu gehen, umzingelt vom bedrohlich schattenvollem
Wald beiderseits des Weges, während der Geist schon beim leisesten
Knacken des Unterholzes böse Dämonen herbeiphantasierte.
Doch dann konnte sie endlich die Steintreppe hinaufspringen und
quer über den kleinen, kopfsteingepflasteren Burghof durch das Sicherheit
verheißende Tor laufen.
Wie jeden Abend bewachten zwei der älteren Wandler den Korridor
mit den Passagen, die gegen Mitternacht geschlossen werden würden.
Ilvyn sagte ihnen kurz Bescheid, dass sie noch etwas in der Bibliothek
nachschauen musste, und begab sich dann in den zweiten Stock.
Der kleine Raum, in dem die wenigen Regale mit dem äußerst
mager zu nennenden Bücherbestand hintereinander gereiht waren, besaß
keinerlei Stromanschluss geschweige denn eine Heizung oder einen Ofen.
Trotzdem fühlte sich Ilvyn gleich viel besser, als sie die zwei Kandelaber
auf dem mächtigen Eichentisch entzündete und sich dann, schön
eingemummelt in ihre gefütterte Winterjacke, über das Buch hermachte.
›DIE ARMEE GOTTES - Gesammelte Zeugnisse und Legenden der Himmlischen
Heerscharen‹
Nun gut, die ersten hundert Seiten hatten bisher noch keine neuen
Erkenntnisse über die Engel gebracht, geschweige denn über einen
›Barujadiel‹. Doch Ilvyn glaubte an Zeichen und Omen - und wie sie an das
Buch gelangt war, bestärkte sie in ihrer Überzeugung, dass Gott
wollte, dass sie dieses Buch las.
Zum bestimmt hundertsten Male rief sie sich den Vorfall in Prag
in Erinnerung:
Sie hatte an Equinox Veris schon über vier Stunden in der paradiesisch
großen Bibliothek der Platinskys nach Engelsbüchern gestöbert,
in jedes ihr noch unbekannte Werk die Nase gesteckt, um es dann doch wieder
zurück an seinen Platz in den Wurzelholzregalen zu stellen.
Und dann war plötzlich ein Buch zu Boden gefallen - sie hatte
nur den dumpfen Aufprall vernommen, weil sie schon die Hand an der Klinke
gehabt hatte.
Als sie langsam die Regalreihen nach dem armen Ding abgesucht hatte,
war sie schließlich im hintersten Winkel des Saales fündig geworden.
Auf dem alten kostbaren Perserteppich hatte es ausgebreitet dagelegen.
Behutsam hatte sie es aufgehoben: jenes Buch kannte sie nicht, hatte auch
noch nie von ihm gehört, schon gar nicht von seinem Verfasser ›El
Raho Mishyaho‹.
Aber das hatte sie nur noch neugieriger gemacht und so hatte sie
es dem Xendi gebracht, der für die Bibliothek zuständig war.
Doch in seinen Listen hatte es dieses Werk gar nicht gegeben.
Kein Wunder, denn als er den Buchdeckel umgeschlagen hatte, war
ihnen beiden sogleich ein Stempel entgegen gesprungen; dort stand deutlich
lesbar geschrieben: ›Windwibbenburg - Für Gott und die Engel. Dieses
Buch gehört Ilvyn Windwibb‹.
»Na sowas, es ist gar nicht in unserem Besitz. Du kommst doch
aus dieser Sippe, oder nicht? Nimm es gleich wieder mit, nicht dass man
uns des Diebstahls bezichtigt!«, hatte er noch gesagt und sie war
sogleich schnell wieder nach Hause gegangen, beflügelt von der Gewissheit,
Zeuge des göttlichen Willens geworden zu sein.
Noch war sie auf nichts Geheimnisvolles, Neues gestoßen, wie
sie ein wenig enttäuscht feststellen musste. Aber das Buch hatte über
600 Seiten - und bot somit noch viel Spielraum für Überraschungen.
Die Kerzen flackerten, jemand räusperte sich, und sie fuhr
herum.
»Oh, sei gegrüßt, Engelbert!«, rief sie dann,
erleichtert und erfreut zugleich.
»Ja, du auch, Ilvyn. Und Gottes Segen sei mit dir«,
erwiderte er, wobei er im Gedanken ergänzte ›falls es ihn doch geben
sollte‹. So unauffällig wie möglich kratzte er sich an seinem
Hintern. Unvorstellbar, wie es vor langer Zeit die ›Engel‹ nur in dieser
lächerlichen und vor allem unangenehmen Maskierungen ausgehalten hatten.
Kein Wunder, dass die Gegenseite dafür stets nur Spott übrig
gehabt hatte - er selber mit eingeschlossen.
»So spät abends noch in Büchern vertieft... Das
täte Tigris zur Abwechslung auch einmal gut. Aber im Moment kann man
mit ihr und den anderen nicht viel anfangen«, brummte er nachdem
er den Stuhl gegenüber der jungen Seherin in Beschlag genommen hatte.
»Stell dir einmal vor: Arktur hat mir mit Di-, äh, Aethron eine
Art Bein gestellt und ich bin durch die ganze Eingangshalle gekugelt. Kein
Respekt vor Engeln, tsss!«
»Ja, die Wandler sind im Moment unausstehlich! Deswegen bin
ich ja hier. Ich will in Ruhe lesen. Vielleicht finde ich einen Hinweis
auf einen Engel namens Barujadiel.«
Engelbert hob erstaunt die Brauen. Hatte Tigris nun auch schon andere
Windwibbs ins Vertrauen über ihre Visionen gezogen? Dabei hatte er
schon längst im DimensioNet ohne Erfolg nach diesem Namen gefahndet.
»Also, ich kenne keinen Engel Barujadiel, Kleines. Und auch
keinen, hm, von der anderen Partei, der so heißt oder geheißen
hat. Vielleicht hat Tigris diesen Namen in ihren Träumen falsch verstanden?«
»Vielleicht. Aber vielleicht ist es auch ein ganz besonderer
Engel - ein geheimnisvoller Bote oder so ähnlich.«
»Ich könnte ja die Durchlauchtigsten Zerrafin danach
fragen, denn wenn es einer weiß, dann doch wohl sie, oder?«
Ilvyns Blick wurde ganz weich und verträumt. »Die Sieben
Zerrafin. Wie ich Tigris darum beneide, dass der Heilige Raffael ihr erschienen
ist. Bestimmt ist sie zu etwas ganz Großem ausersehen, sie weiß
es nur noch nicht.«
»Nja, die Wege der Zerrafin sind unergründlich, in der
Tat.«
»Erzähl mir doch bitte noch einmal, wie der Heilige Raffael
dir aufgetragen hat, über Tigris zu wachen!«
Engelbert unterdrückte eine Seufzen - diese Begegnung hatte
zwar auf der uralten Basis der Erpressung stattgefunden, und er hatte Ilvyn
schon dutzende Male in einer mehr als geschönt zu nennenden Form davon
berichten müssen - aber der unerschütterliche Glaube dieses Menschenkindes
an das Gute in Gestalt der ›Heiligen Erzengel‹ rührte Engelbert
immer wieder. Und so stellte er sich auf den Stuhl und mimte den Ersten
Zerrafin. »Oh Engelbert! Ich habe von unserem Gott den Auftrag erhalten,
dir einen Schützling zuzuweisen. Du sollst sie mit deinem Leben und
in Gedenken an unser aller Schöpfer behüten und beschützen,
bis eine andere Weisung an dich ergeht oder du in den anderen Gefilden
weilst. So steige hinab auf die Erde und breite deine Flügel über
jenes Mädchen, denn Gott unser Herr will es so! Amen! Und entsende
ihrer tapferen Sippe unsere Grüße!«
Beim letzten Satz lächelte Ilvyn selig. Tapfere Sippe!
Engelbert betrachtete sie ein wenig schuldbewusst. In Wahrheit hatte
der Zerrafin überaus großspurig gesagt: »Du brauchst dringend
einen sicheren Zufluchtsort, nicht wahr, Engelbert? Die MDL hat deine Spur
schon bis hierher in die Zonen der FreeDaimons verfolgt. Besonders höher
stehende Personen sind wirklich erbost darüber, dass du überall
verbreitest, es ginge ihnen gar nicht um Daimonkratie und Freien Wettbewerb,
sondern nur darum, soviel Black DiS wie möglich anzusammeln. Aber
ich werde mich persönlich für ein sicheres Asyl für dich
auf Omrishahs Lieblingswelt einsetzen - du musst nur auf ein junges Ding
aufpassen, bei der das Rufer-Xendium ausgebrochen ist. Nichts weltbewegendes
also. Ich bin sicher, du gehst in Anbetracht deiner prekären Situation
vollkommen begeistert darauf ein.« Und als er sich davonmaterialisiert
hatte, hatte Engelbert für einen Moment das Gefühl einer ebensolchen
Black-DiS-Schwingung gehabt, was er jedoch auf seine überreizten Nerven
zurückführte. Die Sieben Zerrafin waren seiner Meinung nach zwar
überaus eingebildet und nicht gerade sehr gewandt im Umgang mit den
materiellen Wesen - doch sie taten auf ihre Weise das Beste, Welten vor
dem Untergang zu bewahren, wenngleich nicht mehr so erfolgreich wie in
früheren Tagen. Und was sie auch taten, verübten sie in dem Glauben,
nach göttlichem Willen zu handeln.
Den Shinnn hingegen nahm er ihr religiöses Geschwurbel schon
lange nicht mehr ab. Nicht, seitdem er bei einem ihrer öffentlichen
Auftritte aus purem Zufall hinter den Kulissen gestanden und den Dritten
Shinn As’medilon zu Nar’tanupsis, dem Sechsten, flüstern hören
hatte: ›Diese Idioten glauben aber auch alles, was man ihnen erzählt.
Ah, es ist schön, ein Shinn zu sein. Falls es Gott gibt, muss er uns
sehr lieben, hehe!‹
Und nun war er auf Omrishahs Lieblingsplaneten, der langsam aber
sicher ebenfalls den Bach hinunter ging. Sicheres Asyl, ha!
»Und was für ein Buch hast du da wieder erwischt?«,
fragte er, woraufhin Ilvyn auf einmal das Buch zu Engelbert schob, aufstand
und ihren Stuhl mit sich zog, um an seiner Seite und gemeinsam mit ihm
weiterlesen zu können.
»Es kitzelt ein bisschen, wenn ich so dicht an dir sitze«,
gestand sie kichernd und errötete an den Wangen und Ohren.
»Das sind die good vibrations, Kleines. Positive Schwingungen,
sozusagen.« Engelbert grinste, wieder einmal erstaunt darüber,
wie schnell sich manche Menschen in das Herz eines Daimons zu stehlen vermochten.
Und wie machtlos man selbst als Überirdischer dagegen war. Besonders,
wenn sie solche Dinge wie Ilvyn sagten: »Ich mag dich, Engelbert.
Ich wünschte, du wärst mein Schutzengel.«
»Oh, danke. So etwas Nettes hört man gerne.« Der
Cherub ließ das Buch ein wenig in die Höhe levitieren. »Über
Engel, natürlich.« Er lächelte Ilvyn voller Sympathie an.
Dann fiel sein Blick auf den Namen über dem Titel und er erstarrte
vor Überraschung.
.
»Was ist los, Tigris?« Antigua sah ihre Freundin besorgt
an, die seit ihrer Rückkehr aus der Mongolei sichtlich verstört
und ständig in Gedanken versunken war. Sie saßen im Wohnzimmer
von Rosenhag 3, wohin auch einige der jungen Seher und Vorias von Haus
1 sich vor den umhertollenden Wandlern geflüchtet hatten und nun gespannt
eine neue Folge von ›Buffy‹ verfolgten, wenn auch nur in Schwarzweiß.
Tigris tauchte aus den Erinnerungen an Aévons Worte und an
die unheimliche Drohung von Bru’jaxxelon wieder auf und lächelte die
Ruferin ein wenig zerstreut an.
Antigua kniff gespielt misstrauisch ein Auge zusammen. »Du
bist die einzige von euch spinnerten Wandlern, die seit ein paar Tagen
nicht ausdauernd mit ihren neuen Fertigkeiten und Kunststückchen angibt.
Irgendetwas hast du doch, Tig.«
»Ja, mir geht so einiges durch den Kopf«, gab Tigris
langsam und vorsichtig zu. Nur zu gern hätte sie jemandem ihr Herz
über Aévons unglaubliche Enthüllungen ausgeschüttet
- und über die immer unheimlicheren Momente, in denen jener Dämon
mit ihr sprach. Wann endlich kam ihre Mutter zurück nach Hause, um
den letzten, schwachen Zweifel hinsichtlich ihres Vaters auszuräumen
und ihr die ganze Geschichte von A bis Z zu erzählen?
»Du kannst mir wirklich vertrauen, Teuerste. Ich kann schweigen
wie ein Grab - mal abgesehen davon, dass ich nicht lange genug leben werde,
um dich in meinen Memoiren bloß stellen zu können.«
Tigris lachte gequält auf. »Hör auf, darüber
Scherze zu machen. Mein Leben wird jeden Tag chaotischer - wenn ich jetzt
auch noch darüber nachdenken muss, ob du eines Tages...« Sie
wandte sich mit zusammengezogenen Brauen von Antigua ab.
»Heulen oder Humor, es gibt nur zwei Möglichkeiten. Man
muss den Tatsachen ins Auge sehen, gerade als Xendi, und erst recht mit
Verstärktem oder Doppel-Xendium.« Antigua rückte näher
an Tigris heran und strich ihr tröstend über den Rücken.
»Sollen wir in unser Zimmer gehen? Du siehst aus wie jemand, der
eine kleine Beichte dringend nötig hat, weil ansonsten Explosionsgefahr
besteht.«
»Oh bitte, ich will den Bereich um die Eingangshalle und die
Treppen unbedingt großzügig meiden. Bat Furan und die anderen
Wandler hört man bis hierher.«
»Vorias ist aber doch ganz artig, oder nicht?«
Der kleine Wandler mit der Brille wandte bei der Erwähnung
seines Namens fragend den Kopf.
»Nichts, mein Schätzchen. Wir haben nur festgestellt,
dass du wohlerzogen bist und hoffentlich bleibst.« Antigua zwinkerte
ihm zu, was ihn nur befremdet wieder den Kopf drehen ließ: Mädchen,
pfff.
»Hm...« Die Ruferin dachte einige Sekunden nach. Dann
erhellte sich ihr Gesicht durch eine plötzliche großartige Idee.
»Wie wäre es damit: ›Die Nacht durchmachen und sich alles von
der Seele quatschen, was uns bedrückt‹? Im Alten Turm ist es doch
wunderbar ruhig.«
»Nur wir beide sollen jetzt noch dorthin und dann auch noch
die ganze Nacht dort verbringen?« Tigris sah die Ruferin verständnislos
an.
»Wen willst du sonst noch mitnehmen? Obwohl... Lux Joel wird
uns auf Knien danken, wenn wir zumindest Bat Furan aus diesem Haus entfernen.
Die blödesten Ideen kommen ja zumeist von ihm. Das Rudel wird ohne
ihn schnell wieder ganz zahm.«
Bat Furan Dinge anvertrauen, die sie beschäftigten? Von dieser
Idee war Tigris zunächst überhaupt nicht begeistert.
»Wieso nicht?«, fuhr Antigua eindringlich fort. »Wir
schwören uns alle, in dieser Nacht nichts als die Wahrheit zu sagen
und sie für uns zu behalten. Ember meinte einmal, Bat Furans Vergangenheit
ist auch nicht die glücklichste. Es wäre doch interessant, zu
wissen, wie er hierher gekommen ist, oder nicht? Er ist seit seinem neunten
Lebensjahr hier, wie mir Lux Livas erzählt hat. Aber was war davor?
Darüber sagt Bat Furan nie etwas.«
»Ember. Ich wünschte, er wäre noch hier. Wie sehr
man jemanden vermissen kann...« Tigris schluckte gerade eben noch
den dicken Klos im Hals hinunter, der bei der Erwähnung seines Namens
entstanden war. Ja, Ember hätte sie schon längst alles erzählt.
Ob er an Windwibbenburg und sie dachte? Was machte er jetzt? Ging es ihm
gut? War er glücklicher als zuvor?
»Und außerdem...« Antigua flüsterte den Rest
in Tigris’ Ohr: »Weiß ich genau, dass Bat Furan an Equinox
Veris eine ganze Flasche Whiskey bei unserer Stippvisite in New York mitgehen
lassen hat. Ich hätte große Lust, ein kleines intimes Besäufnis
zu veranstalten. Mal sehen, was dann jeder noch an überraschenden
Geständnissen zu bieten hat. Wir beide können uns ja ein wenig
zurückhalten und Mr. Hero dabei zusehen, wie er heult und lallt.«
Tigris kicherte. »Manchmal bist du das größte Biest
in der ganzen Domén, Antigua. Irgendwie erinnerst du mich an Aévon
Zimberdale.«
»Seinen wunderschönen japanischen Lover würde auch
ich nicht verschmähen. Aber leider steht er ja nur auf Männer.«
»War das soeben das erste Geständnis des Abends?«
»Jemand muss ja den Anfang machen. Komm!«
Beide gingen entschlossen in die Eingangshalle.
Dort spielten Bat Furan und Ras Algheti gerade eine Art ›Angriff
der Dämonen‹ mit einigen abenteuerlustigen Sehern, indem sie eine
Dike Party zum Schutz vor Arkturs und Antaris’ Dashes und Jets errichteten.
»Wo ist denn eigentlich Lux Joel abgeblieben?«, fragte
Tigris laut. Es sah höchst riskant aus, was die vier da mit den armen
Seher-Schülern veranstalteten.
Es folgte eine Waffenpause, in der Bat Furan sich am Kopf kratzte
und sagte: »Tja, er ist eben in die Küche gegangen, aber blöderweise
klemmt die Tür jetzt.«
Wie zur Bestätigung hämmerte es gegen besagte Tür
und Lux Joels zornig-verzweifelte Stimme rief nach Hilfe.
»Ihr dreht wohl vollends durch. Vielleicht ist zuviel Aethron
doch nicht so gut für die Gehirnzellen«, sagte Antigua spöttisch,
konnte aber dennoch ein Grinsen nicht unterdrücken.
»Jaja, wenn irgendwelche altersschwachen Türen klemmen,
sind immer die Wandler schuld«, verteidigte Ras Algheti seinen Freund
mit der ernstesten Miene, die er zu bieten hatte. »Früher war’s
die Milch, die plötzlich sauer wurde, oder überraschende Hagelschauer.
Eine ziemlich gefährliche Einstellung, Antigua.«
Doch Bat Furan wurde schon von der Ruferin beiseite genommen. Als
sie ihm ihren Vorschlag ins Ohr wisperte, war er augenblicklich ganz Feuer
und Flamme.
»Aber wenigstens Ras Algheti. Er ist mein Blutsbruder«,
hörte man ihn laut sagen.
»So haben Aévon und sein Rosanjin bestimmt auch angefangen«,
lästerte Tigris.
Bat Furan jedoch überhörte die Unverschämtheit einfach
und stubbste Ras Algheti an. »Wir gehen zum Turm, was Wichtiges besprechen.«
»Oh bitte, ich will auch mit, Bat Furan!«, rief Arktur
und sprang in seiner zappeligen Art aufgeregt vor ihm her.
»Sorry, Zutritt erst ab über 16. Geschlossene Gesellschaft«,
lachte der Wandler und knuffte Arktur zum Trost leicht in die Seite. »Aber
du kannst mir einen Gefallen tun: Wenn wir weg sind, kannst du ja mal dafür
sorgen, ob diese verdammte Küchentür nicht doch irgendwie aufzukriegen
ist. Und wenn jemand fragt, wo wir sind, sagst du, wir sind oben in unseren
Betten und schlafen schon selig. Und morgen Abend gehen nur wir Jungs in
den Wald und ballern in Ruhe, was das Zeug hält, okay?«
»Na gut«, maulte Arktur, der sich immer noch ein wenig
gekränkt, aber durch die Aussicht auf den nächsten Tag zumindest
etwas entschädigt fühlte.
Gegen elf Uhr nachts machten sich die vier Windwibbs schließlich
auf den Weg zu dem alten Gemäuer im Wald.
Ohne es zu ahnen, verpasste Tigris ihre Mutter um kaum zwei Minuten.
.
El Raho Mishyaho.
Engelbert erinnerte sich an einige Unterrichtsstunden auf der Takran-Uni,
die sich mit den Gewohnheiten der Zerrafin und Shinnn befasst hatten: Wenn
es eines gab, was die höheren Daimons gemeinsam hatte, dann ihre Gewohnheit,
sich niemals von ihrem Namen zu trennen, selbst bei verdeckten Operationen
oder geheimen Auftritten auf materiellen Welten; die höchste Form
der Tarnung bestand in einem Anagram.
Und genau so ein Anagramm hatte er vor sich - wenn es nicht ein
unglaublicher Zufall war, dass jemand einen Namen getragen hatte, dessen
Buchstaben umgestellt den Namen und die Art eines sehr hochstehenden Daimons
bildeten - überaus hochstehend!
Aber seit wann war jener unter die irdischen Schriftsteller gegangen?
Engelbert ließ die Seiten vor sich nacheinander umblättern.
Nichts Ungewöhnliches war zunächst zu lesen: Unendliche
Ermahnungen an die ›Engel‹, den Lebewesen der anderen Dimension mit Güte
und Weisheit beizustehen, sie zu lehren, jegliches Leben zu achten und
barmherzig gegen jedes Geschöpf zu sein.
›Ein Ratschlag, den sie wohl hin und wieder vergessen haben‹, dachte
Engelbert bei sich.
»Oh, wie interessant!«, rief er auf einmal aus und ließ
die Seite 458/459 aufklappen, um sie laut vorzulesen.
»Da rief der König seine Weisen zu sich, um ihren Rat
zu hören, denn die Visionen, in denen der Heilige Geist zu ihm gesprochen
hatte, beschäftigten seinen Geist ohne Unterlass.«
»Ah, die Stelle kenne ich aus der Weißen Bibel nur zu
gut. Der König Salomo spricht mit seinen Ratgebern über die Erzengel
und er sagt: ›Wer aber ist schöner als der Siebte Erzengel? Kraftvoll
und stark ist er, ein furchtloser Kämpe seines Herrn. Rein ist sein
Glauben und sein Gewissen, unbefleckt von Zweifeln.‹«
»Nun ja, hier steht es etwas anders, Kleines: ›Wer aber WAR
schöner als der Siebte Erzengel? Kraftvoll und stark WAR er, ein furchtloser
Kämpe seines Herrn. Rein WAR sein Glauben und sein Gewissen, unbefleckt
von Zweifeln. Und doch ist ausgerechnet er es, der tief fiel, der sich
der Dunkelheit seiner Seele verschrieb und Hass zu seiner neuen Religion
machte; er ist es, dessen Name aus den Gedächtnissen getilgt wurde,
um einen neuen an seine Stelle zu setzen.‹
Ilvyn runzelte befremdet die Stirn. »Dann steht es falsch
dort, vielleicht wurde es nicht richtig übersetzt. Denn wenn es so
wäre, hieße es, dass der Heilige Adaliel böse geworden
ist und wir jeden Tag einen Teufel lobpreisen. Aber die Erzengel wurden
in vollkommener Güte erschaffen, sowie die Teufel in vollkommener
Bosheit. Erzengel können nicht fallen.«
»Da ist das Buch aber anderer Meinung: ›Und der König
fragte seine Weisen: Wie kann es sein, dass ein Geschöpf, so rein
wie frischer Morgentau, der Sünde verfiel, wo es doch in den Schriften
heißt, dass die Engel in vollkommener Güte und die Teufel in
vollkommener Bosheit erschaffen wurden, von dem ersten Augenblick, in dem
der Herr sie ins Leben rief bis zu der Stunde, da Er alles Sein beenden
wird?‹«
»Diese Stelle gibt es in der Weißen Bibel nicht...«,
wunderte sich Ilvyn.
»Die Weisen wussten keine Antwort, denn dies bedeutete fürwahr
ein großes Rätsel.
Und der König sprach weiter: ›Wenn es aber kein vollkommen
reines Geschöpf gibt, sowie es kein vollkommen bösartiges Wesen
gibt, dann lichtet sich das Dunkel ein wenig, mit dem die Worte des Heiligen
Geistes gewoben wurden, die ich in der Vision vernommen hatte, als ich
vor vierzig Nächten durch die Wüste irrte. Darin klagte Er:
Du mein Geliebter, der Zerrafin Siebter, durch meinen ungerechten
Zorn stieß ich dich hinab in die tiefste Hölle, die die Seele
kennt, in die Hölle deines Selbst, woraus es kaum ein Entrinnen gibt,
denn dort wacht ein strenger, umbarmherziger Richter. Und wer ist unbarmherziger
als die eigene Seele? Verzeiht sie doch oft anderen Seelen, nur nicht sich
selbst, wenn Schuld sie quält.‹«
»Diese Stelle klingt ein bisschen wie jene in der Weißen
Bibel«, überlegte Ilvyn laut, »aber dort heißt es:
›Gottes gerechter Zorn wird die Frevler in die tiefste Hölle stürzen
und es gibt kein Entrinnen daraus, denn ein strenger Wächter bewacht
die Seelen, die dort gefangen.‹«
»Tja, es stellt sich also die Frage, welche Version richtig
ist. Für mich klingt das so, als ob Adaliel den gefallenen Erzengel
ersetzt hat.«
»Davon habe ich noch nie in meinem Leben gehört!«,
wisperte Ilvyn fassungslos. »Aber wenn nun der Heilige Adaliel an
die Stelle dieses Erzengels getreten ist... was ist mit diesem gefallenen
Engel geschehen? Meine Güte, was für ein abgrundtief böses
Geschöpf er doch sein muss. Oh, Moment...« Sie sah Engelbert
mit immer größer werdenden Augen an.
»Ist sein Name vielleicht Barujadiel? Vielleicht will Gott
uns durch Tigris’ Träume vor ihm warnen, weil er zu einem Teufel geworden
ist!« Ilvyn sah angstvoll im Raum umher, als könnte jeden Moment
aus den tanzenden Schatten an der Wand eine furchterregende Gestalt hervortreten.
»Kleines, viel brisanter finde ich die Behauptung, dass der
hm... Heilige Geist nicht unschuldig an seinem Fall war.« Selbst
Engelbert, der einen erheblichen Teil seines ohnehin schon dreitausend
Jahre währenden Lebens als Langzeit-Student auf der berühmten
Takran-Universität verbracht hatte und über ein ausgedehntes
Wissen verfügte, waren diese ungeheuerlichen Behauptungen vollkommen
neu. Und wenn seine Ahnung ihn nicht trog, hatte eine bestimmte Person
Interesse daran, sie publik zu machen - weil Schuldgefühle sie plagten?
Der wissensdurstige Forscher war in Engelbert erwacht.
Dieweil las Ilvyn weiter vor.
»Und der Heilige Geist sprach weiter: ›Ich weiß, was
selbst Erzengel verbergen. Doch eines Tages wird die Wahrheit kundgetan
werden, die kunstvollen Lügennetze zerhauen und die Tücher zerrissen,
unter denen ein schändlicher Vertrag verborgen.‹
In der Weißen Bibel heißt es: ›Ihr wisst, dass die Erzengel
nichts verbergen und die Wahrheit kundtun, die kunstvollen Lügennetze
zerhauen und die Tücher zerreißen, unter denen schändliche
Verträge verborgen liegen.‹«
»Starker Tobak! Ich würde sagen, die Aussagen in beiden
Texten gehen weit auseinander.«
»Aber das kann nicht sein, Engelbert. Vielleicht...«
Ilvyn wich plötzlich vor dem Buch zurück. »Vielleicht hat
es mir ein Teufel zukommen lassen! Dieser Barujadiel! Damit ich meinen
Glauben verliere.« Tränen blitzten in ihren Augen auf und Ilvyn
nahm die Brille ab, um sie mit der anderen Hand fortzuwischen.
»Nein, nicht doch Kleines!« Engelbert war für einen
Moment versucht, eine kleine tröstende Intonation über Ilvyn
hinwegwehen zu lassen, entschied sich jedoch für tröstende Worte:
»Also, dieser Barujadiel - falls er überhaupt ein gefallener
Erzengel ist - kann es ja nicht gewesen sein, da nicht genug Aethron in
der Atmosphäre für einen wie ihn ist. Und in den Sippen passt
man doch höllisch auf, dass keine Dämonen ihr Unwesen in den
Arxes treiben können.«
»Aber es ist sehr verwirrend, was in diesem Buch der Heilige
Geist - also Gott! - alles gesagt haben soll. Hör dir das jetzt an:
›Bitter musste ich erkennen, dass selbst die Reinen und Verdammten nicht
unveränderlich sind und bitter musste ich an mir selber erkennen,
dass selbst ich zu Unrecht fähig war.
Tief fiel der Siebte Zerrafin, so gefürchtet wurde sein Name,
dass auch das Unrecht anderer ihm zufiel, denn er leugnete nichts und kümmerte
sich nicht darum, welche Lügen erneut um ihn gewoben wurden. Niemand
weiß, welche gräulichen Dinge er getan und welche ihm bloß
zugeschrieben wurden. Er war mein geliebter Siebter Zerrafin, dann wurde
er zu einem Geschöpf, das selbst die Shinnn fürchteten.
Und an jedem Unrecht, das er beging, habe ich Anteil.
Ich machte ihm zu dem, was er wurde.
Und wenn sie ihn den Ewigverdammten nennen ob seiner unheimlichen
Macht, die soviel stärker war als die derjenigen von seiner Art, so
ist es meine Schuld.
Ja, meine Sünde wiegt am schwersten, denn ich erschuf den ›Ewigverdammten‹.‹«
»Ewigverdammter... ich kenne nur einen, der unter anderem
mit diesem Titel brillieren kann«, dachte Engelbert laut.
»Wer? Das kann doch nur ein Höllenfürst sein oder
einer seiner Anhänger!« Ilvyns Stimme zitterte schon vor Furcht.
»In... unseren Gefilden trägt der ehemalige Siebte Shinn
diesen Beinamen. Und außerdem tausend andere, höchst unschmeichelhafte,
aber wohlverdiente Bezeichnungen.«
»Ehemaliger Siebter Shinn? Dann können auch Höllenfürsten
- wenn dieses Buch die Wahrheit spricht - durch andere Höllenfürsten
ersetzt werden?«
»Ich weiß nur von einem Postenwechsel innerhalb der
oberen Ränge, und zwar bei den Shinnn. Seitdem ich das Licht der Sterne
erblickte, kenne ich die Sieben Zerrafin nur in der Besetzung, in der auch
in der Weißen Bibel von ihnen gesprochen wird. Wenn bei ihnen jemand
ausgewechselt wurde, so muss das sehr, sehr lange her sein. Im Schnitt
leben Cherubim ja nur bis zu fünftausend irdischen Jahren. Na gut,
außer die Devnia -«
»Devnia sind Teufel der untersten Hierarchie! Gott soll sie
verfluchen!«
»Richtig, sie sind gefallene Cherubim, ich vergaß.«
»Tatsächlich? Das ist mir neu.« Ilvyn sah Engelbert
befremdet an.
»Die Cherubim werden verständlicherweise nicht gerne
daran erinnert.« Erleichtert bemerkte der Cherub, dass Ilvyn diese
Erklärung anscheinend einleuchtend vorkam. Dennoch nahm er sich vor,
sich in Zukunft vorsichtiger durch die verkrusteten Glaubengrundsätze
der Allianz zu lavieren.
»Jedenfalls, äh, wollte ich sagen, dass es erst vor kurzem
zu einem Austausch bei den Shinnn kam, es liegt kaum zweihundert irdische
Jahre zurück. Damals trat ein neuer Siebter Shinn namens Shar’katâna
seinen Dienst an. Aber vor ihm hatte einer namens Bru’jaxxelon den Posten
des Obersten Kriegsherren inne.
Kriegsherr, tsss. Eigentlich kennen wir so etwas wie Herren oder
Damen gar nicht, aber na ja.«
»Was meinst du damit, dass er den Posten des Obersten Kriegsherren
innehatte? Wieso hatte? Hat ihn ein Zerrafin vernichtet?« Ilvyns
Augen glänzten in hoffnungsvoller Erwartung ob solch einer Heldentat.
Engelbert überlegte, ob er Ilvyn über die höchst
beunruhigende Tatsache aufklären sollte, dass ein verrückter
Massenmörder die Dimensionen bedrohte - und vielleicht sogar schon
auf der Erde herumspazierte!
Doch er entschied sich dagegen: Die Kleine zitterte ja schon jetzt
vor Furcht!
»Gut möglich, man weiß jedenfalls nicht, wo er
jetzt steckt, er ist sozusagen verschollen. Vielleicht hat Raffael der
Furchtlose ihn endgültig zur Strecke gebracht. Niemand hasst Bru’jaxxelon
mehr als er.«
»Bestimmt«, sagte Ilvyn entschieden und wild entschlossen,
keine andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen. »Und der gefallene
Erzengel, der vielleicht Barujadiel hieß, ist nun - oh Gott, behüte
mich - der Siebte Höllenfürst Shar’katâna.«
Engelbert sparte sich eine Antwort darauf, da er das Mädchen
nicht weiter beunruhigen wollte, auch wenn ihre Schlussfolgerung aufgrund
ihres Unwissens über die Daimonsion vollkommen falsch war.
Außerdem gingen ihm verschiedene Fragen durch den Kopf, die
allesamt keine Antwort oder aber nur neue Fragen nach sich zogen. Wie gern
würde er jetzt im DimensioNet nach allem forschen, was mit Bru’jaxxelon
zu tun hatte!
Ilvyn las weiter laut in dem Buch vor, das sie einerseits nicht
für wahr nehmen wollte, das sie jedoch andererseits durch seine ungeheuerlichen
Behauptungen in den Bann schlug:
»›Lass mich dir nun‹, sprach der Heilige Geist zu mir, ›die
ganze Wahrheit über den Fall des Siebten Zerrafin berichten, über
den schändlichen Vertrag, den einige Zerrafin und Shinnn besiegelten,
und über mein Geheimnis. Dies bin ich dir schuldig, denn du weißt
nicht, wie ich deinen jüngsten Sohn vor dem Tode errettete. Es ist
ein Geheimnis, das ich von Welt zu Welt trage, von Zeitalter zu Zeitalter,
verwoben mit dem Schicksal des gefallenen Siebten Zerrafin, als auch des
Siebten Shinn.«
Plötzlich schreckte Ilvyn auf und riss Engelbert aus seinen
Gedanken. »Was ist das für Lärm?«
Das dumpfe Geräusch einer Vielzahl von rennenden Füßen
unter ihnen ließ die Kandelaber auf dem Eichentisch erzittern.
»Ich schaue mal nach!«, rief Engelbert und dematerialisierte
sich augenblicklich.
Noch bevor Ilvyn den zweiten Atemzug getan hatte, war er wieder
da, das Gesicht vor Entsetzen und Furcht verzerrt.
»Du musst hier raus! Windwibbenburg wird angegriffen!«
Gellende Schreie hallten vom untersten Stockwerk bis hinauf zu ihnen.
Ilvyn erstarrte vor Furcht.
Da ließ Engelbert die Tür auffliegen und levitierte die
junge Seherin kurzerhand aus der Bibliothek.
Schon hörte man mehrere Leute die Treppe hinaufstürmen.
Engelbert sah sich in dem Korridor um, in dem es außer alten
Bildern, einer Truhe, zwei Vitrinenschränken und den Unterrichtszimmern
keine sicheren Verstecke gab.
Außer vielleicht...
»Du passt bestimmt in diese alte Truhe. Rühr dich nicht
von der Stelle, gib keinen Mucks von dir. Ich muss die anderen warnen!«
Er ließ geräuschlos die Truhe aufklappen, beförderte
das zitternde Mädchen hinein, ließ eine Schlaf-Intonation über
sie hinwegwehen, ließ ebenso lautlos den Deckel der Truhe wieder
zugehen, versperrte sie, löschte eiligst die Kerzen, ließ den
Duft des Rauches verschwinden
Und materialisierte sich genau in dem Moment hinfort, als drei große,
schwarz vermummte Gestalten um die Ecke bogen.
.
»Los, komm schon, Bat Furan«, drängte Antigua.
»Du bist dran: Wie hat es dich hierher verschlagen? Wir wissen nur,
dass deine Eltern beide Träger des gleichartigen Xendiums sein müssen,
denn nur die Kinder von zwei solchen Trägern haben das normale Xendium.«
Sie saßen im schummerigen Schein von fünf Teelichtern
im Kreis, hatten jeder schon ein Glas Whiskey-Cola intus und spielten Die
Reine Wahrheit. Es war ausgemacht, dass derjenige, der eine Frage unglaubwürdig
beantwortete, kurzerhand von einem der drei Wandler mit einem Hypnose-Spray
intoniert werden sollte und spätestens unter dem Einfluss von DiS
die Wahrheit sagen musste.
»Ich habe früher unter Neutralen gelebt, wie meine Eltern.
Mein Vater ist früh gestorben und meine Mutter hat mich alleine großgezogen.
Sie wusste nichts von Xendium, trotzdem hat sie Besuch von der Allianz
bekommen, und dann hat sie wohl zugestimmt, dass mich die Allianz zu sich
nimmt. Jedenfalls war ich auf einmal hier.« Bat Furan betrachtete
ausdauernd seinen zappelnden Fuß, während er recht sachlich
und nüchtern von dieser Tatsache berichtete.
»Einfach so?« Tigris hob die Braue. Welche liebende
Mutter gab ohne weiteres ihr Kind in die Obhut einer fremden, obskuren
Sekte?
»Sie kamen ein paar Mal, und irgendwann war sie wohl überzeugt.«
»Vermisst du sie denn nicht?«, fragte auch Antigua.
»Hey, nur eine Frage! Und du bist jetzt dran, Antigua, meine
Teuerste«, sagte Bat Furan harsch. »Und außerdem war
sie nicht die beste Mutter. Zufrieden?«
»Okay, Antigua«, meinte Ras Algheti daraufhin. »Ich
will von dir wissen, hm ...will von dir wissen, ob du nicht irgendwie sauer
bist, weil deine Sippe von der Domén Arx aufgelöst worden ist.
Ich bin jedenfalls stinkig deswegen. Dabei haben wir gar nichts getan außer
nett zu leben, nett zu anderen zu sein und nett zu uns zu sein.«
»Deswegen wird noch lange keine Sippe aufgelöst, mein
Chocochip.«
»Das will ich als gereifte Person jetzt mal überhört
haben.«
»Es war auch nicht als Beleidigung gemeint. Chocochips sind
doch was Leckeres.« Antigua lächelte Ras Algheti so süß
und unschuldig wie möglich an, während sie es so vieldeutig wie
nur möglich sagte, was ihn sichtlich aus dem Konzept brachte. Verwirrt
griff er nach seinem Glas und stieß es dabei beinahe um.
»Nun, wir warten auf die Antwort, Teuerste Antigua«,
sagte Bat Furan. »Oder sollen wir dich gleich einnebeln?«
»An dieser Stelle muss ich euch bedauerlicherweise mitteilen,
dass eure Verneblungsmethode bei mir gar nichts nützt. Ich ziehe locker
all eure Nebel - oder Spray, wie ihr ja jetzt sagt - einfach an und speichere
sie in mir. Und wenn ich Lust habe, dann nehme ich einen von euch in den
Arm und gebe es heimlich wieder an den Spender zurück.«
»Du entwickelst dich zu einer Spielverderberin«, stellte
Tigris amüsiert fest.
»Ich weiß nicht, wie oft ich es wiederholen muss: Natürlich
fand ich das Ganze nicht so spaßig, und irgendwie ist es auch besser,
dass ich nicht mehr viel von der Aktion behalten habe. Aber Gesetz ist
Gesetz. Zwei Xendii dürfen keine Nachkommen in die Welt setzen. Es
war hart, aber gerecht.«
»Ich frage mich nur«, sagte Ras Algheti daraufhin, »wieso
sie dich nicht in ihr Sonderausbildungslager gesteckt haben. Immerhin hast
du Verstärktes Xendium.«
»Ich weiß es nicht, da musst du wohl die Domén
Arx fragen.«
»Aber bist du nicht traurig wegen deiner Mutter?«, wunderte
sich Tigris.
»Schön, dass du dich zu Wort meldest, Tig, denn du bist
dran«, entgegnete Antigua schärfer als beabsichtigt.
»Und ich stelle die Frage«, verkündete Bat Furan.
»Ich frage mich schon seit Tagen, was du bei deiner Prüfung
verbrochen hast. Lux Montana und Lux Livas waren doch so etwas von schockiert,
dass sie dich postwendend wieder zurück nach Windwibbenburg schicken
wollten.«
»Ich habe keine Ahnung, wirklich.«
»Einmal ein Hypno-Spray für die Dame mit den Locken!«,
rief Antigua.
»Nein, ich meine es ernst.« Tigris sah sie der Reihe
nach eindringlich an. »Die Sache ist nämlich die: Ich habe die
Nacht davor Engelbert gebeten, mir eine Art Beruhigungswelle zu verpassen,
weil ich solche Angst hatte. Anscheinend hat dieser Gehirnbaldrian zu gut
gewirkt: Ich erinnere mich weder, wie wir nach Barcelona gegangen sind,
noch an die Prüfung.«
»Na, dann wäre so ein Nebel doch erst recht gut«,
befand Bat Furan.
»Ich weiß nicht. Hinterher dauert meine Amnesie noch
länger als die an Equinox Veris.«
»Ach, ich performe nur einen Easy Spray, was denkst du denn!«
»Nee, lass mal.«
»Mann, komm schon! Wir haben es doch ausgemacht.«
»Und außerdem ist doch Antigua da«, schaltete
sich Ras Algheti ein. »Sie kann das DiS wieder abziehen.«
»Ich ziehe nur Aethron ab, wenn überhaupt.«
Tigris überlegte kurz. Mit Antigua im Bunde konnte es eigentlich
nicht schief gehen. Und es stimmte: Das Verhalten der beiden Älteren
war mehr als merkwürdig gewesen. Undeutliche Erinnerungen an eine
Rose und Flammen kamen wieder in ihr hoch, so dass sie schließlich
zustimmte.
Bat Furan ließ über ihrem Kopf feine, grüne Schlieren
kreisen.
»Okay, dann mal los«, sagte er leise. »Geh zurück
zu diesem bedeutungsvollen Tag -«
»Vor fünftausend Jahren, oder so.« Ras Algheti
grinste, wurde jedoch von Antigua zur Antwort mit strengen Blicken bedacht.
»Ja was?«, fragte er. »War doch nur Spaß.
Das ist doch DER Trend: Rückführungen in frühere Leben.«
»Ruhe jetzt, ihr beiden! Also noch einmal.« Bat Furan
sah Tigris aufmerksam an.
Dieser waren mittlerweile die Augen bis auf einen winzigen Spalt
zugefallen, während sie sachte mit ihrem Oberkörper hin- und
herwippte.
»Was ist denn so Schreckliches passiert, als-«
In diesem Augenblick kippte Tigris schlaff zur Seite, zu ihrem Glück
genau in Antiguas Schoß.
»Aha, sie ist an dem Tag also ohnmächtig geworden«,
stellte Ras Algheti fest.
»Engelberts Beruhigungsintonation war wohl nicht gut genug«,
sagte Bat Furan.
Plötzlich stieß Tigris einen erstickten Schrei aus und
verkrampfte sich. Augenblicklich traten Schweißperlen auf ihr Gesicht,
während sie mit einem Mal die Augen aufriss.
»Verdammt, Antigua, zieh lieber das Aethron ab!«, rief
Bat Furan und kam mit Ras Algheti sofort an ihre Seite.
»Ba ... Baruja ...diel. Diél ...«, stammelte
Tigris, während ihr Blick ins Leere ging.
»Wartet!« Antigua beobachtete Tigris fasziniert. »
Sie entspannt sich wieder.«
»Wer ist denn dieser Barujadiel?«, fragte Ras Algheti
verdattert.
»Wo ist Barujadiel?«, flüsterte Antigua Tigris
leise zu.
»Ich weiß nicht. Ich kann ihn nicht mehr fühlen.«
Tigris' Stimme wurde immer leiser, während Tränen ihre Schläfen
hinabglitten. »Es wird dunkel. Und kalt.«
»Wer bist du?«, fragte Ras Algheti unvermittelt.
»Ich bin... Nein, nicht mehr. Das Leuchten ... das Licht.
Nein!« Tigris hob mit entsetzter Miene den Kopf an. »Bitte,
hör mich an. Ich bin nicht mehr... schau, die Rosen. Gib... sie mir.«
Sie hob zitternd den rechten Arm und schloss die Hand um etwas imaginäres.
»Siehst du? Siehst du es, Omrishah?« Sie sah lächelnd
zur Decke empor. »Bitte rufe Barujadiel, ich will sein Gesicht sehen,
bevor...« Dann runzelte sie die Stirn. »Wie meinst du das?
Wohin ist er gegangen?« Sie schwieg für einige Sekunden, als
höre sie jemandem zu, der ihr etwas Trauriges sagte. »Du musst
ihn finden und es ihm erklären. Was tust du da?« Ihr Gesichtsausdruck
verriet den schweigenden Jugendlichen um sie herum Erstaunen und Verwunderung.
Sie lächelte wieder. »Was hast du gemacht? Bist du so mächtig,
dass du den Tod vertreiben kannst? Bist du doch Gott? ...ich dachte ja
nur, verzeih. ... Was soll ich dir verzeihen? Nein, sei nicht traurig.
Sie haben auch dich belogen. Ich verzeihe dir, wenn es etwas zu verzeihen
gibt ... was-was ist das? Ich werde so leicht... wolkig... schlafen...
Diél.« Tigris fielen die Augen langsam wieder zu.
»Was war das denn?«, äußerte sich Bat Furan
als erster nach diesem merkwürdigen Vorfall.
»Ganz klar, wir haben sie in ein früheres Leben zurückgeführt«,
meinte Ras Algheti mit Kennerblick. »Ihr könnt das gleich mal
bei mir ausprobieren. Oh Mann, ich bin gespannt, was ich früher war.«
»Du warst bestimmt eine von diesen Frauen, die Rembrandt so
gerne gemalt hat«, entgegnete die Ruferin spöttisch.
»Omrishah, Barudingsbums. Das ganze klang dramatisch, oder?«
Bat Furan sah Antigua fragend an, doch die Ruferin schwieg nachdenklich,
während sie ihre Hand über Tigris’ Kopf hielt und das Gespinst
in sich einsog. Augenblicklich begannen Tigris’ Lider zu flattern, dann
zuckte sie erschrocken zusammen und erhob sich mit verwirrtem Gesicht aus
den Armen der Ruferin.
»Tigris, wir haben dich in ein früheres Leben zurückgeführt«,
frohlockte Ras Algheti.
»Schade nur, dass du dich nicht erinnern kannst, wer
du genau warst. Und wer Omrishah und Barujadiel waren.«
»Habe ich etwa davon erzählt? Bei der Prüfung?«
Tigris sah ihn mit großen Augen an.
»Nein, aus Versehen haben wir dich anscheinend in ein Leben
ein paar tausend Jahre vorher zurückgeführt«, bekannte
Bat Furan. »Das war vielleicht krass. Du warst wohl irgendwie dabei
zu sterben, aber anscheinend hat dich jemand namens Omrishah gerettet.«
»Vielleicht hat dich dieser Barujadiel aus Eifersucht erschossen
und dieser Omrishah hat dich gerettet«, spekulierte Ras Algheti.
»Nein!«, schleuderte ihm Tigris so wütend entgegen,
dass es sie selber überraschte.
»Von wegen Rückführung. Das sind Namen, die ich
seit Wochen in diesen blöden Visionen von mir höre. Und es liegt
auf jeden Fall an meinem Amulett. Vielleicht sind darin die Erinnerungen
von jemand anders gespeichert. Ich weiß es nicht.«
»Oh, Visionen. Nicht übel.« Bat Furan grinste
wieder frech. »Gibt es sonst noch etwas, was du uns bisher verschwiegen
hast? Kannst du vielleicht auch in die Zukunft sehen? Ein kleiner Lottogewinn
täte Windwibbenburg ganz gut.«
»Damit kann ich nicht dienen.« Tigris nahm ihr Glas
und sah für einen Moment in das Whiskey-Cola-Gemisch. Dann hob sie
entschlossen den Kopf und sagte: »Aber ich kann mit neuen Verwandten
aufwarten. Procyon Zimberdale ist höchstwahrscheinlich mein wahrer
Vater und Aévon Zimberdale mein Halbbruder.«
»Toller Witz«, meinte Bat Furan verächtlich. »Dann
hättest du Doppel-Xendium und deswegen schon lange bei uns mitgemischt.«
»Er hat einen Weg gefunden, es für eine Zeitlang in mir
zu unterdrücken.«
»Xendium kann man nicht unterdrücken, schon gar nicht
Doppel-Xendium«, wandte Bat Furan ein. Was für eine schauerliche
Vorstellung: Tigris verwandt mit der No. 1 seiner persönlichen Hass-Liste!
»Pah, wer weiß. Die Abtrünnigen kennen bestimmt
viele Dinge, die alles andere als gut und moralisch zu nennen sind«,
sagte Antigua düster. »Aber Procyon Weiberdale und deine Mutter?
Er muss sie intoniert haben, anders könnte ich mir das nicht erklären.«
»Wie auch immer. Meine Mutter kommt bestimmt bald zurück.
Dann werde ich sie damit konfrontieren. Ich weiß, dass sie mich nur
belogen hat, um mich zu schützen.«
»Du machst also keinen Spaß?« Bat Furan sah Tigris
immer noch voller Zweifel an.
Mit einem Mal fegte eine Druckwelle durch das Turmzimmer und stieß
sowohl die Cola- als auch die Whiskeyflasche um, die glucksend ihren Inhalt
über die Decke ergossen. Fluchend sprangen die Vier auf und sahen
wütend Engelbert an, der sich nahe dem Fenster materialisierte und
ihnen mit vor Grauen verzerrtem Gesicht entgegentaumelte.
»Ihr müsst fliehen! Wir werden überfallen!«
Die Jugendlichen starrten den Cherub ungläubig an.
»Wenn das ein Witz sein soll -«, begann Antigua mit
böse zusammengezogenen Brauen.
»Nein! Ihr müsst es mir glauben!« Engelbert torkelte
planlos von einer Ecke in die nächste. »Ich muss die Siedlung
aufwecken! Es sind so viele! Schnell, raus hier!« Und schon hatte
er sich davon materialisiert.
Sie sahen sich fassungslos an, alle vier kreidebleich, und doch
immer noch nicht fähig, sich zu bewegen.
»Oh Gott!« Entfuhr es Antigua heiser und sie schlug
sich die Hände vor den Mund. »Wenn das stimmt...« Dann
fielen ihre Hände schlaff an ihr herunter. »Mitternacht. Bevor
die Tore geschlossen wurden. Als alle schliefen. Nein!« Mit angstverzerrtem
Gesicht rannte sie plötzlich zur Treppe und löste den Schock
der drei Wandler, die ihr augenblicklich ohne weiter nachzudenken hinterher
stürzten.
Sie hatten noch nicht die Hälfte der Treppe hinter sich gelassen,
als ein ohrenbetäubender Knall in die Stille der Nacht explodierte,
den Turm zum Erzittern brachte und sie vor Schreck stolpern ließ.
Doch noch während der Donnerschlag fauchend verhallte und verebbte,
hasteten sie weiter und entflohen, kaum dass sie im Freien angelangt waren,
in die Wälder.
.
Ohne sich umzusehen, ohne daran zu denken, was sie in der Siedlung
erwartete, rasten sie durch die Reihen der Baumstämme, achteten nicht
auf Zweige, die ihnen ins Gesicht schlugen, rannten immer weiter, als schon
die Luft in ihren Lungen stach und ihre Herzen hämmerten, als ob sie
jeden Moment voller Panik ihre Rippen sprengen wollten, um daraus zu entfliehen.
Schreie und Weinen kamen mit jedem Augenblick näher, schon
sahen sie grellen Feuerschein durch die Lücken im Geäst und Brandgeruch
setzte sich in ihrer Nase fest.
Dunkle, unbarmherzige Stimmen gaben Kommandos und fluchten, doch
schrecklicher war ihr Lachen, während ein Kind durchdringend und schrill
schrie, um abrupt zu verstummen.
Antigua, die vor ihnen lief, blieb ebenso abrupt stehen, zitterte
am ganzen Leib und fiel dann lautlos weinend in das Laub, das Gesicht schmerzhaft
verzerrt.
Doch die anderen konnten nicht stehen bleiben.
Hitze schlug ihnen entgegen, während meterhohe Flammen sich
Haus Rosenhag 2 und einige kleinere Gebäude schon brüllend einverleibt
hatten. Dennoch rannten sie mitten in die Siedlung, mitten hinein in die
furchtbaren Schreie von Männern, Frauen und Jüngeren.
Aus einem kleinen Haus schoss plötzlich schreiend eine junge
Frau im Nachthemd und lief Ras Algheti in die Arme, als eine hünenhafte,
schwarzvermummte Gestalt mit schnellen Schritten aus der gleichen Tür
trat und eine tiefblaue Kugel auf sie abschoss, die noch im Flug zerplatzte
und gierige blaue Blitze freigab.
»Dike Party!«, brüllte Ras Algheti und sie blieben
stehen, um den Schutzwall hochzufahren.
Gerade noch rechtzeitig verschluckte das grüne Netz vor ihnen
die Salve.
Die kurze Überraschung des Angreifers wusste Bat Furan zu nutzen,
indem er seitlich wegtauchte, sich auf den Boden warf und dabei einen Nice
Pipe abschoss, der auf die Brust des Vermummten traf und ihn in die Knie
zwang: Die Wut des jungen Wandlers hatte einen tiefvioletten Jet durch
den hohlen Strahl geschickt und das Herz des Angreifers durchbohrt.
»Versteck sie im Wald und komm sofort wieder!«, befahl
Bat Furan seinem Freund und hastete mit Tigris weiter durch die brennende
Siedlung zu Haus 3, ihrem Heim. Zwei junge Mädchen, beide erst vor
kurzem als Seher-Schülerinnen von den Windwibbs adoptiert, lagen blutüberströmt
auf der Schwelle von Rosenhag 2.
»Oh Gott! Kommen wir zu spät?« Tigris ergriff den
Arm des Wandlers, während ihre Beine nachgaben.
»Nein!«, sagte Bat Furan wütend und packte Tigris
an beiden Armen. »Aufstehen, wir müssen nach Überlebenden
suchen! Du kannst jetzt nicht ohnmächtig werden!«
»Da sind noch Zwei!« sagte plötzlich eine weibliche
Stimme.
Geistesgegenwärtig hüllten sich Bat Furan und Tigris in
Cages, während zwei Vermummte vor ihnen auftauchten.
»Wie interessant. Und wie lange wollt ihr das durchhalten?«,
sagte die andere Gestalt mit männlicher Stimme. Beide kamen langsam
näher, während sie in ihren Rechten tiefrote Kugeln entstehen
ließen.
»Macht es euch doch nicht unnötig schwer. Satan wird
euer Blut mit Freuden trinken.«
»Wer seid ihr und was wollt ihr von uns?«, spie Tigris
ihnen entgegen.
»Wer sollte schon nach Allianz-Blut verlangen? Wer schickt
sich an, die Weltherrschaft zu übernehmen und hat schon tausende von
Dämonen über die Jahre in seinen Dienst gestellt?«
sagte die vermummte Frau und drehte sich um. Deutlich sichtbar war
ein weißes Wort auf ihren Overall gedruckt.
»PAGAN!« Bat Furan biss vor glühendem Hass die
Zähne aufeinander, nicht mehr fähig, weiter zu sprechen.
»Das ist eine Lüge, Bat Furan!«, wisperte Tigris.
Ein blauer Pfeilregen, abgeschossen von jemandem hinter ihnen, schnellte
an ihnen vorbei und traf die Vermummte ins Gesicht, wo augenblicklich der
Stoff ihrer Maske zu brennen anfing und sie vor Schmerz aufbrüllen
ließ.
Ohne weiter zu überlegen, hob Bat Furan seinen Schutz auf und
rannte blind vor Zorn auf den Mann zu. Doch dieser ließ sich auf
alle viere fallen und schlug mit den Händen hart auf den Boden. Die
Erde brach auf, ein Spalt eilte auf den Wandler zu, sich dabei stetig verbreiternd,
doch dieser sprang zur Seite und schoss violette Strahlen auf den Xendi
ab.
Ras Algheti tauchte plötzlich neben der schreiend umhertorkelnden
Frau auf und schubste sie sie mit aller Kraft in den klaffenden Erdspalt.
Dann zog er Tigris mit sich, noch tiefer in die Siedlung hinein, in Richtung
der Spielwiese, die sich nahe am Waldrand befand. Auf ihn hielten sie zu,
bevor die Wiese in Sicht kam.
»Etwas Schreckliches soll dort vorgehen, wir müssen etwas
tun!«, stammelte er mit zitternder Stimme.
Sie gingen hinter Baumstämmen in Deckung, von wo aus sie die
Wiese überblickten.
Gespenstisch tanzendes Licht der brennenden Häuser ließ
sie die Rücken mehrerer Menschen in Pyjamas und Nachthemden sehen,
Große und Kleine, schlotternd vor Angst, dicht aneinander gedrängt.
Es mochten um die fünfzehn Windwibbs sein, zumeist Jugendliche.
Zwanzig Vermummte standen ihnen gegenüber, je einer noch zu
beiden Enden der Reihe, während zwei weitere hochgewachsene Gestalten
sich vor den Gefangenen aufgebaut hatten, von denen eine sie verhöhnte.
»Teufelsanbeter, das seid ihr! Ihr habt den Uralten Schwur
vergessen und macht gemeinsame Sache mit den Abtrünnigen. Aber wenigstens
wird euer Tod nützlich sein. Denkt nicht, wir machen das zum Spaß,
oh nein. Oder doch? Was sagen meine Leute?«
Er wandte sich zu der Reihe der Vermummten um, von denen etliche
gehässig lachten.
»Teufelsanbeter und Dämonen vom Angesicht der Erde hinweg
zu tilgen ist Gottes Werk«, rief einer von ihnen inbrünstig.
»Richtig. Und wenn man diese Verwüstung und all die Leichen
findet, darunter manchen Angreifer von PAGAN, dann wird ein Sturm der Entrüstung
durch die Zweifler in der Allianz fahren. Sie werden sich an die Worte
Umbriels erinnern, der sie vor den wahren Absichten der Abtrünnigen
gewarnt hat. Und alle werden Rache fordern für diesen wirklich überaus
feigen und brutalen Überfall!« Sämtliche vermummten Gestalten
lachten höhnisch.
Tigris und Ras Algheti überlegten so fieberhaft, was sie gegen
diese Überzahl ausrichten konnten, dass sie schockiert zusammenzuckten,
als sich Hände auf ihre Schultern legten.
Antigua.
Mit versteinerter Miene verfolgte sie mit, was sich auf der Wiese
weiter vor ihnen abspielte.
»Wir sind nicht hier, um Spaß zu haben, Kaitain«,
sagte dort eine Stimme kalt. »Verlese ihnen endlich die Anklage und
tötet sie, diese Sympathisanten der Höllenbrut.«
»Zu Befehl, mein General.«
Die Hände auf Tigris’ und Ras Alghetis Schultern glitten kraftlos
herab.
»Kaitain?« Antigua flüsterte es kaum hörbar.
Tigris riskierte einen Blick hinter sich.
Antigua starrte mit großen Augen und offenem Mund auf den
Boden.
»Kaitain. Wie konnte ich diesen Namen nur vergessen? Sein
Gesicht. Es ist ... sein Gesicht in meinen Träumen«, stammelte
sie.
Dann ging sie wie hypnotisiert an den beiden Wandlern vorbei, die
nicht schnell genug reagieren konnten, um sie zurückzuhalten, ohne
sich selber zu verraten, und trat geradewegs aus dem Schutz der Bäume
auf die Wiese.
Langsam, gleich einer Schlafwandlerin ging sie auf die Reihen der
Gefangenen zu.
Derjenige namens Kaitain stieß brutal zwei kleinere Gestalten
zur Seite, um sich das offensichtlich verstörte Mädchen genauer
anzusehen, das da auf sie zuwankte.
Die Hand, die er schon erhob, wurde mit einem Mal nach unten geschlagen.
»Lass sie. Ich habe schon die ganze Zeit nach ihr gesucht«,
herrschte der General ihn an.
Und Tigris fiel in ihrem Versteck bei diesen Worten ein, wer der
General sein musste: Thanatos, der ihnen in Barcelona vorgestellt worden
war.
»Meine Güte, Antigua! Was tust du da? Wieso bist du nicht
im Wald geblieben?«, schluchzte eine Stimme aus den Reihen der Gefangenen.
Tigris bekam beim Klang dieser Stimme plötzlich keine Luft
mehr. Sie musste sich an Ras Alghetis Arm festkrallen, um nicht augenblicklich
zu Boden zu stürzen.
Ihre Mutter stand in der Reihe der wehrlosen Gefangen, ganz außen,
verdeckt durch einen Vermummten, der hinter ihr stand.
Eine Ohrfeige hallte durch die Nacht, und zwischen den breit aufgestellten
Beinen des Wächters konnte Tigris eine schmale Gestalt zu Boden fallen
sehen.
Gleich einer Stichflamme setzte unbändiger Hass ihr Herz in
Brand.
Das brennende Gefühl strömte von dort wie eine siedend
heiße Flüssigkeit durch ihre Adern, bis es ihr Gehirn erreichte
und jeden Nervenstrang entzündete.
›Ich werde diese erbärmlichen Gestalten alle zerfleischen,
zertrampeln, zerreißen und niederbrennen!‹, schoss es ihr durch den
Kopf. ›NEIN! Oh nein... nie wieder!‹ Sie begann vor Schreck zu zittern.
›DOCH!‹, meldete sich ein hasserfüllter Gedanke wieder. ›Nein. Ich
will es nicht mehr. Aber dann werden Die Meinen sterben! Ich kann nicht
tatenlos zusehen! Und jetzt sei ruhig, lächerliche Kreatur!‹
Die Welt verfärbte sich blutrot, inmitten der roten Schattierungen
von Bäumen und Büschen stachen die Menschen als schwarze Schatten
hervor, von denen feine grüne Schlieren ausgingen. Die Reihe der Gefangen
gab spiralförmig verwirbelte Muster ab, bis auf eine kleine Gestalt,
deren Aura kräftiger und zackiger erschien.
Thanatos Aura glich sowohl jener der Seher als auch derjenigen,
wellenförmigen von Antigua, die einige Schritte vor ihm und jenem
namens Kaitain stand. Diesem entströmten kräftiggrüne Zacken,
was Verstärktes Wandler-Xendium bedeutete, gleich einigen der Vermummten.
Innerhalb eines kurzen Augenblickes hatte Tigris dies registriert.
Jegliche Angst war davongeflogen und einer kühlen, nüchternen
Stimmung gewichen.
»Ihr beiden da! Bringt sie hoch zur Burg«, befahl Thanatos
mit lauter Stimme zwei Vermummten.
Plötzlich machte Antigua einen Satz auf Kaitain zu und sprang
ihn an. Überrascht taumelte er mit Antigua in scheinbar inniger Umarmung
rückwärts, während es unter ihren Händen aufblitzte.
Noch bevor ein Vermummter sie von Kaitain fortreißen konnte, hatte
sie ihm schon mit den elektrischen Schlägen das halbe maskierte Gesicht
verbrannt, wobei sie triumphierend aufheulte.
Diese kurzen chaotischen Sekunden reichten Tigris.
Blitzschnell brach auch sie aus ihrer Deckung hervor und schleuderte
einen tiefblauen Slave von sich, der sich um den Hals von Antiguas Bewacher
wickelte und ihm das Genick brach.
Wieder befreit, stürzte sich Antigua sofort wieder auf Kaitain,
der fluchend und stöhnend den Rückzug zu seine Leuten angetreten
hatten.
Diese kamen zusammen mit Thanatos herangeschossen, wobei sie blaue
und tiefviolette Strahlen und Kugeln auf Tigris feuerten, während
Danubia entsetzt nach ihrer Tochter rief und nur mit Mühe von drei
Windwibbs daran gehindert werden konnte, zu Tigris zu rennen.
Doch die Schüsse zerschellten an dem Rotglühenden Netz,
das Tigris umtanzte, ohne sie zu berühren.
»Verfluchte Brut stinkender Aasgeier!«, brüllte
sie, während sie geradewegs in die heranstürmenden Angreifer
rannte. »Ihr wollt Spaß? Ich zeige euch, was Spaß ist!«
Tigris hob ihre Deckung auf und wirbelte rasend schnell um die eigene
Achse. Dabei schossen rote Blitze aus ihr und fällten diejenigen der
vermummten Angreifer, die direkt um sie standen. Dennoch warfen sich die
nächsten Reihen auf sie, wobei sie Gott anriefen und Umbriels Namen
schrieen.
Die Gefangenen nutzten die Aufruhr und hasteten in Richtung der
Wälder.
In diesem Moment kamen Ras Algheti als auch Bat Furan ins Spiel
und griffen vor Hass und Verzweiflung brüllend drei Vermummte an.
Diese hatten den Fliehenden nachgesetzt und beschossen sie dabei: Ein Körper
nach dem anderen fiel leblos zu Boden, manche brachen nur wenige Meter
vor dem rettenden, dunklen Wald zusammen.
Bat Furan sprang einem Angreifer auf den Rücken und schnitt
ihm die Kehle mit einem Dolch durch, den er aus einem Ast gewandelt hatte.
Die Verfolger machten kehrt und griffen zu zweit Ras Algheti mit
blauen Strahlen an, gegen die jener seinen Cage hochfahren ließ -
zu spät jedoch.
Bat Furan stürmte brüllend heran, doch er konnte nicht
verhindern, dass die hochenergetischen Strahlen Ras Alghetis Arm trafen
und zischend seinen Pullover und die Haut darunter verbrannten. Stöhnend
sank der junge Farbige auf die Knie.
Die beiden Vermummten wandten sich Bat Furan zu, der zum Schutz
vor ihren Angriffen seine Linke mit einem Frill einhüllte und mit
der rechte Hand schoss.
Doch die beiden hatten das Verstärkte Xendium, was ihre Strahlen
ungleich kraftvoller und zerstörerischer machte.
Sie nahmen den jungen Wandler unter Dauerbeschuss mit ihren Strahlen,
weswegen ihm nichts anderes übrig blieb, als sich letztendlich doch
wieder in einen Cage zu hüllen, der es ihm nicht erlaubte, Schüsse
abzugeben.
Plötzlich huschte jemand blitzschnell von hinten an seine beiden
Angreifer heran. Rotglühende Schlingen legten sich um ihre Hälse,
brannten sich in ihr Fleisch, immer tiefer - dann fielen ihre Köpfe
ab.
Bat Furan hob seinen Schutz auf und starrte Tigris entgeistert an.
»Danke. Aber... Was- was ist mit dir los? Du hast so rote
Augen.«
Unter zusammengezogenen Brauen schauten jene unheimlichen Augen
zurück zu ihm. »Und was ist dagegen einzuwenden, Staubgeweihter?«
»N-Nichts.« Er sah sich um - außer sie beide und
Ras Algheti, der leise stöhnend auf dem Boden kauerte, war die Wiese
übersät mit Leichen. Überraschend viele Schwarzvermummte
waren darunter, zum Teil grausig zugerichtet, als ob ein Wahnsinniger unter
ihnen gewütet hatte, ihnen Köpfe, Arme oder Beine ausgerissen
und durch die Gegend geworfen hatte.
»Dann kümmere dich um die Unseren, Staubgeweihter. Ich
fürchte, unsere werten Gäste wollen uns bereits vor dem Finale
verlassen. Was für ein ungebührliches Verhalten.« Und kaum
hatte sie zu Ende gesprochen, schoss Tigris mit einer unglaublichen Geschwindigkeit
davon. Im Rennen sprang sie sogar mehrere Meter weit.
Bat Furan wandte sich verwirrt von dem unmenschlich wirkenden Anblick
ab und kümmerte sich um Ras Algheti.
»Ich glaube, es ist vorbei, mein Freund«, sagte er tonlos
und nahm den Verletzten in den Arm.
.
Wie sie rannten und flüchteten!
Und wie köstlich ihre Angst und ihr Entsetzen sich anfühlte.
Unbarmherzig näherte sie sich den sechs Vermummten, die schreiend
die Treppe empor zur Burg hinaufsprangen.
Die ersten beiden, die fast oben waren, wurden von roten Kugeln
getroffen, die ihre Köpfe wie reife Tomaten platzen ließ und
Blut und glitschige Fetzen Gehirnmasse auf diejenigen hinter ihnen regnen
ließ.
»Der Satan ist hier! Sie haben einen Satan beschworen und
auf uns losgelassen!«, schrieen diejenigen gellend, die es endlich
schafften, über den Burghof zu rennen.
Doch zwei von ihnen erreichten die rettende Tür nicht mehr
- mit einer gewaltigen Kraft packte jemand sie bei den Haaren und rammte
ihre Köpfe mehrmals gegen die Burgmauern zu beiden Seiten des Tores,
dass das Blut und Knochensplitter nur so umhergeschleudert wurden.
Dann flog das Tor krachend aus den Angeln und eine Gestalt raste
wie der Blitz hinein.
Geschüttelt von Wahnsinn blieben die restlichen zwei Angreifer
Windwibbenburgs stehen. Noch zehn weitere ihrer Truppe waren zur Wache
in der Burg geblieben, nachdem man auf einen Schlag über zwanzig der
Teufelsanbeter bei einer nächtlichen Sitzung angetroffen und schnell
vernichtet hatte.
Die beiden schlichen sich vorsichtig in den Eingangsbereich. Vielleicht
würde sich der Satan zunächst mit ihren Kollegen abgeben, was
ihnen hoffentlich die Möglichkeit verschaffte, schnell durch die Tore
zu verschwinden.
Tatsächlich fanden sie den Korridor mit den Passagen bis auf
die Leichen der beiden Wächter scheinbar leer vor, und wahnsinnsgetränkte
Schreie hallten aus den oberen Stockwerken zu ihnen herunter.
»Der Satan ist mit den anderen beschäftigt. Los!«
Sie rannten so schnell wie noch nie zuvor in ihrem Leben den Korridor
entlang, den Blick fixiert auf die offen stehenden Türen.
Ein Schatten huschte blitzschnell an ihnen vorbei, dennoch liefen
sie weiter, denn das erste Tor war schon zum Greifen nahe.
Doch kaum hatten sie die rettende Finsternis erreicht, da riss eine
machtvolle Druckwelle sie von den Füßen und schleuderte sie
gegen die andere Wand des Korridors. Einer der beiden war sofort tot, der
andere blieb mit gebrochenen Gliedern in seiner Blutlache liegen.
Verschwommen sah er ein Paar verdreckte, schlammige Wildleder-Boots
vor sich stehen.
»Nichtswürdiger, elender Wurm«, knurrte eine hasserfüllte
Mädchenstimme. Dann schnellte sie hoch in die Luft und zermalmte den
Rücken des Sterbenden, als grausiges Stakkato sprang das Echo seiner
brechenden und knackenden Knochen im Korridor umher.
›WER BIST DU, ZUR HÖLLE?‹, fauchte mit einem Mal eine Stimme
durch ihren Geist.
Sie erstarrte augenblicklich: Er war es! Sie erkannte seine Stimme
sofort! Ihr Herz überschlug sich vor Freude und Sehnsucht.
»Barujadiel?«, stammelte sie erstaunt.
›Das ist nicht mein Name!‹ grollte es wütend durch sie hindurch
und schien dabei all ihre Nerven gleichzeitig schmerzhaft in Brand zu setzen.
›Sag nie wieder diesen Namen!‹
»Tigris?«
Die blutunterlaufenen Augen wandten sich zum Festsaal um.
Ein Cherub, aus dem Volk der Basleyth, stand dort in der Tür.
»Tigris?«, wiederholte sie erstaunt. Tigris... Das Wort
bedeutete etwas. Tigris.
»Schatzerl, ich hoffe, das ist nur eine starke Bindehautentzündung.
Obwohl du mir wirklich Angst machst. Deine Schwingungen sind nicht besonders
positiv.«
Perplex starrten die roten Augen zu dem Cherub hinüber.
Irgendetwas stimmte nicht.
›...finde dich. Ich muss dich finden‹, klang es leise in ihrem Kopf.
Das Echo dieses Satzes erstarb mit jedem weiteren Widerhall.
Der rote Nebel vor ihren Augen stob auseinander und nahm die Wut
und den ätzenden Hass mit sich.
Was war eigentlich los in diesem Korridor?
Ihr Blick fiel auf die vermummten Leichen und die riesige Blutlache,
die schon ihre Schuhe erreicht hatte.
»Engelbert. Was ist hier passiert?«, hauchte Tigris
tonlos und trat fassungslos einige Schritte vor den Leichen zurück.
Die Angreifer! Sie erinnerte sich schlagartig an die brennende Siedlung,
an die Gefangenen auf der Wiese, an ihre Mutter!
Dann sah sie an sich selber herunter: Sie war förmlich durchtränkt
von Blut, konnte seinen Geruch derart deutlich wahrnehmen, dass ihr Magen
sich davon verknotete und sie würgen ließ. Es gab kein Halten
mehr: Sie erbrach sich und weinte zugleich.
»Man hat uns angegriffen. Es soll aussehen, als ob PAGAN uns
überfallen hätte«, erklärte Engelbert leise und ließ
geräuschlos die beiden Türflügel des Festsaales zugehen.
Tigris, zitternd gegen die Mauer zwischen zwei Toren gelehnt, wandte
den Kopf zu ihm.
»W-wer ist da drin?« Sie stieß sich von der Wand
ab und wollte zu Engelbert taumeln, doch dieser schüttelte energisch
den Kopf.
»Du solltest nicht dort hinein gehen. Tu dir selber den Gefallen
und erspar dir den Anblick.«
»Ich muss zur Wiese! Sie wollen sie töten!«
»Auf der Wiese ist niemand ... Lebendes. Ich war die ganze
Zeit in der Siedlung. Jemand hat ziemlich viele dieser Meuchelmörder
förmlich durch den Fleischwolf gedreht. Wer von eurer Sippe das Massaker
überlebt hat, ist in die Wälder geflohen.«
»Oh Gott.« Tigris fing zu zittern an und wandte sich
um, um aus dem Korridor zu laufen, doch ihre Beine sackten ein. Sie kroch
noch einige Meter auf allen vieren, dann brach sie zusammen und überließ
sich für einen langen Moment ihrem Schmerz und ihrer Trauer.
»Ilvyn! Wie konnte ich das vergessen«, rief der Cherub
auf einmal.
Unvermittelt hielt sie bei diesen Worten ein und kam langsam wieder
auf die Beine.
»Wo ist sie?«
»Ich habe sie vor diesen Bestien versteckt! Hoffentlich hat
keiner von ihnen die Truhe vor der Bibliothek aufgemacht!«
Ohne weiter zu überlegen, lief Tigris die Treppen hinauf.
Auf dem Weg zur Bibliothek kamen sie an Lux Livas Büro vorbei,
wo die Tür halb offen stand und einen Lichtspalt in den düsteren
Gang ließ.
Engelbert materialisierte sich im Bruchteil einer Sekunde in das
Zimmer und wieder hinaus.
»Dort solltest du auch nicht hinein gehen«, bemerkte
er traurig.
»Ich muss dort hineingehen. Ich will mir alles merken, damit
ich es nie wieder vergesse.« Tigris riss die Tür auf.
Quer über dem Schreibtisch lagen zwei tote Vermummte. Im ersten
Moment war Tigris erleichtert und voller Genugtuung über den Anblick.
Dann jedoch sah sie eine Hand auf dem Boden hinter dem Schreibtisch.
Lux Livas lag dort in seinem Blut, die Augen weit aufgerissen. Tigris
wandte den Blick ab, als sie Livas’ verbrannten Oberkörper wahrnahm.
Sie kniete sich neben ihn und strich ihm langsam durch das ergraute
Haar.
»Wieso nur? Wieso wir?«
»Vielleicht deswegen...« Engelbert ließ ein Blatt
Papier in die Höhe levitieren, das in Lux Livas Drucker neben seinem
alten Computer stand. Es war der Ausdruck einer E-Mail an ihn.
*************************************************************************
Anscheinend missglückter Putsch-Versuch innerhalb der Europäischen
Domén Arx!
Es ist noch nichts Genaueres bekannt, aber kurz nach Equinox Veris
fand ein Attentat auf Lux Mimas durch Mitglieder seiner Sippe statt, das
er anscheinend leicht verletzt überlebte. Wie ein gerade bei uns eingetroffener
Flüchtling von dort berichtete, wurden über fünfzig
Mitglieder von De Navarris inhaftiert. Es droht ihnen ein Standprozess
und wahrscheinlich Folter.
Der Rat von De Navarris droht ein hartes Vorgehen gegen alle Sympathisanten
der Putschisten und gegen alle an, die sich in irgendeiner Weise gegen
die ›Heiligen Gesetze der Weißen Bibel und gegen die Domén
Arxes‹ verschworen haben.
Außerdem gibt Umbriel bekannt, dass das Ende der Welt bevorsteht
und die Hohen Erzengel und ihre Heerscharen bald auf der Welt erscheinen
werden, um das Große Strafgericht Gottes einzuleiten. Deswegen kündigten
sowohl die Europäische als auch die Nordamerikanische Domén
Arx an, die Tore zum ›Jenseits‹ absofort freizugeben, um den ›Himmlischen
Heerscharen‹ ungehinderten Einlass zu gewähren.
Die Node von Orientalis will morgen darüber abstimmen, ob sie
mit den beiden Doméns gleichzieht. Balkan-Osmania hat Bedenken und
will sich mit anderen Sippen beraten, wohingegen Azteca eine solche Öffnung
von vorneherein ausschloss.
Mira Szelwyczinski, VP & CC Australia
***********************************************************************
»Verdammt! Was soll das? Was hatten wir damit zu tun?«,
schrie Tigris, zerknüllte das Papier und warf es zornig in die Ecke.
»Zumindest stellt sich die Frage, woher dieses RAM stammt«,
sagte Engelbert und ließ die leicht herausgezogene Schublade noch
weiter aufgehen.
Tigris nahm vorsichtig die silberne Scheibe heraus. »Vielleicht
haben die beiden DiSMaster sie hier vergessen, als sie hier die Passage
in die Mongolei aktiviert haben.«
»Schon alleine, dass man euch zu diesem Seminar geschickt
hat, beweist doch, dass Lux Livas in zu engerem Kontakt zu PAGAN stand
als vielleicht gut für Windwibbenburg war.«
»De Navarris hatte nicht das Recht, uns dafür zu töten!
Wer gibt ihnen überhaupt ein Recht, über andere zu bestimmen?
Gott?« Tigris schloss müde die Augen. »Natürlich.
Gott, die beste Ausrede von allen. Nie zu sehen, nie zu hören, aber
wenn man seine Heiligen Schriften nur gut genug umgräbt, findet sich
für alles eine Begründung.« Sie wandte sich abrupt um und
ging in den Korridor zurück. »Lass uns Ilvyn holen und hinunter
in die Siedlung gehen. Oder was davon übrig ist.«
Ilvyn hingegen lag zusammengekringelt in der Kiste und schlief selig.
»Wie sollen wir ihr erklären, was passiert ist?«,
fragte Tigris tränenblind.
»Ich weiß es nicht, Schatzerl. Ich weiß gar nichts
mehr«, erklärte Engelbert mit brüchiger Stimme. »Soll
ich einen Whisper auf sie anwenden? Dann bekommt sie die nächsten
Stunden nicht mit.«
»Ja, tu das. Wenigstens einer von uns soll das Glück
haben, diese Nacht verschlafen zu haben.«
.
Inzwischen brannten alle Häuser lichterloh, bis auf Rosenhag
3, bei dem das Feuer noch nur im Dachstuhl wütete.
Tigris, die die schlaftrunkene, intonierte Ilvyn im Arm hielt, blieb
vor der halboffenen Tür stehen und starrte diese an.
Wollte sie wirklich dort hinein gehen und womöglich Dinge sehen,
die sie nie wieder vergessen würde?
Schluchzen und leises Stimmen, die aus dem Inneren des Hauses zu
ihr nach draußen drangen, nahmen ihr die Entscheidung ab.
Als sie vorsichtig den Kopf in die Eingangshalle steckte, schnellte
sie augenblicklich wieder zurück.
»Oh mein Gott ...« Sie hatte die Augen fest zusammengekniffen
und versuchte gar nicht erst, ihre Tränen über den Anblick Sekunden
zuvor zurückzuhalten. Zu grausam, zu unaussprechlich war das Verbrechen,
das dort wie in den anderen Häusern stattgefunden hatte.
Dennoch ließ sie Ilvyn bei Engelbert draußen und ging
mit butterweichen Beinen ins Innere, das vom Feuerschein, der schon den
ersten Stock erreicht hatte, gespenstisch erleuchtet wurde.
Gleich in der Nähe des Eingangs lagen Lux Joel und zwei blutjunge
Seherschüler in einer riesigen Blutlache. Auf der Treppe sah sie vier
weitere junge Windwibbs, zum Teil halb verbrannt, zusammen mit fünf
toten Vermummten.
Vor den Stufen aber kauerte Bat Furan, an Ras Algheti gelehnt und
weinte kaum hörbar, nur zu erkennen an seinem bebenden Körper.
In seinen Armen hielt er eine kleine, schmächtige Gestalt mit rotbraunen
Haaren.
Alles verschwamm vor Tränen, als sich Tigris vorsichtig dem
zusammengebrochenen Wandler näherte.
»Bat Furan ...?«, stammelte sie, weil sie nicht wusste,
was sie sonst sagen sollte.
Ohne sich umzuwenden, murmelte der Wandler mit rauer, brüchiger
Stimme. »Es ist meine Schuld. Er wollte mit uns gehen, aber ich habe
ihn nicht mitgenommen. Er könnte noch leben.«
»Wir konnten nicht ahnen, was passieren würde«,
erklärte Ras Algheti ihm geduldig. Um seinen linken Arm trug er einen
Verband, den er aus seinem Pulloverärmel gemacht hatte und der sich
schon voller Blut gesogen hatte.
»Nein, es ist meine Schuld«, beharrte Bat Furan mit
steinerner Miene.
Wortlos sah Tigris hinab auf den toten Jungen in seinem Arm und
fühlte ihr Herz sich verkrampfen.
Arktur lag mit den Augen starr zur Decke in den Armen des Wandlers,
der seine Jacke über seinen Oberkörper gezogen hatte.
»Es war nicht deine Schuld. Keiner von uns konnte wissen,
dass wir auf der Abschussliste der Allianz standen.«
Bat Furans gerötete helle Augen sahen sie verwirrt an. »Aber
wieso? Wir haben nichts getan? Wieso?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Tigris leise. »Ich
weiß nur eins: Wir müssen hier weg. Jeder, der noch lebt, muss
hier weg. Wir sollten jetzt die Überlebenden suchen und dann fort
von hier und nie wieder zurückkehren.«
»Was ist mit all unseren Freunden? Wir können sie nicht
einfach so liegen lassen«, krächzte Bat Furan heiser und schluchzte
laut auf.
»Das überlegen wir, wenn wir alle gefunden haben, die
noch leben. Komm jetzt.«
Bat Furan schloss gequält die Augen und rührte sich zunächst
nicht von der Stelle. Dann jedoch legte er Arktur behutsam auf den Boden
zurück, zog die Jacke über sein Gesicht und erhob sich mit ausdrucksloser
Miene.
»Hier gibt es wohl keine Überlebenden«, stellte
Tigris mutlos fest. Wie es in ihrem Herzen zog! Der Schmerz nahm ihr beinahe
dem Atem und verlockte dazu, sich auf den Boden zu werfen und nie wieder
aufzustehen. Doch das ging nicht, nicht jetzt. Jetzt musste sie stark sein.
Jeder, der diese Nacht überlebt hatte, musste alles daran setzen,
sich zusammen zu nehmen und weiterzuleben, und sei es nur, um sich für
diese ungeheuerliche, unmenschliche Tat zu rächen.
Und sie würden sich rächen. Für jeden einzelnen ihrer
Sippe, der brutal und sinnlos ermordet worden war.
»Dafür werden diejenigen bezahlen, die es befohlen und
ausgeführt haben«, erklärte sie knapp und zog Bat Furan
mit sich aus dem Haus, der sich nicht von dem Anblick der toten Freunde
und Sippenmitglieder losreißen wollte. Sie stellte sich vor ihn und
sah ihn und Ras Algheti eindringlich an. »Schwört es, beide:
Wir rächen uns an der Allianz! Und deswegen werden wir erst recht
weiterleben und alles daran setzen, die Schuldigen zu bestrafen. Schwört
es endlich!« Sie schüttelte Bat Furan unsanft und mit wutverzerrtem
Gesicht.
Bat Furan schloss die Augen, während Tränen seine Wangen
hinunter glitten. Dann atmete er tief durch und erklärte tonlos: »Ich
schwöre.«
»Ich schwöre es auch, verdammt. Und wie ich es schwöre!«,
zischte Ras Algheti hasserfüllt.
Zusammen mit Ilvyn und Engelbert gingen sie durch die Siedlung und
begannen nach Überlebenden zu rufen.
»Antigua muss doch noch irgendwo hier sein. Ich habe sie zuletzt
hier gesehen.« Bat Furan spähte in die Dunkelheit der Wälder.
Sie erreichten die Spielwiese, auf der eine halbe Stunde zuvor noch
etliche Windwibbs lebend gestanden hatten, darunter Tigris’ Mutter.
Nun jedoch war es schwer, zwischen verstümmelten Vermummten
und ermordeten Sippenmitgliedern zu unterscheiden, denn es waren zu viele
tote Leiber, die auf dem kalten, klammen Gras lagen. Dennoch ging Tigris
mit wild klopfendem Herzen zwischen den Leichen umher, in der schmerzhaften
Erwartung, eine zierliche Gestalt mit schwarzen Haaren zu finden. Die Erleichterung,
die sie bei jedem toten Windwibb verspürte, der nicht ihre Mutter
war, beschämte sie zutiefst und kehrte doch jedes Mal wieder.
»Die meisten sind Seher-Schüler«, hörte sie
Bat Furan tonlos hinter sich murmeln.
»Wenigstens hast du es diesen Allianz-Hunden gezeigt und sie
reihenweise umgenietet.« Grimmig sah Bat Furan sie an, doch sie runzelte
die Stirn. Sie sollte unter den Angreifern gewütet haben? Angestrengt
dachte sie nach und lauschte in sich hinein.
›Sie haben es verdient‹, ertönte ein schwacher Gedanke und
beschwor voller Genugtuung Szenen herauf, in denen die Vermummten auf sie
zustürmten und von ihr einer nach dem anderen geköpft, verbrannt
oder niedergetrampelt wurden.
Entsetzt riss sie die Augen auf.
Ja, sie war es gewesen, wie schon einmal, beseelt von einer unheimlichen
Kraft, ohne Furcht, schrecklich und faszinierend zugleich.
»Oh, Gott sei Dank! Tigris!«
Tigris riss den Kopf in Richtung der Wälder herum. Eine kleine
Gestalt im Nachthemd kam aus der Finsternis auf sie zugeschossen und lag
gleich darauf in ihren Armen.
»Mama!«, schrie sie voller Erleichterung und Schmerz
auf und drückte sich fest gegen ihre Mutter.
Nun kamen auch weitere Überlebende weinend und mit schmerzverzerrten
Gesichtern zu ihnen gelaufen und fielen ihnen zitternd in die Arme.
Viele waren es nicht: Neben Danubia hatten es nur noch vier junge
Seher-Schülerinnen geschafft.
»Meine Güte! Ilvyn steht unter Schock«, sagte Danubia
und strich dem ausdruckslos zu Boden starrenden Mädchen über
die Wange.
»Nein, Engelbert hat sie hypnotisiert, damit sie das alles
hier nicht mit ansehen muss.« Tigris wischte sich über die Augen.
»Aber es müssen doch noch mehr am Leben sein -«
Danubia schlug sich plötzlich die Hände vor den Mund. »Die
Ältesten! Wir müssen in die Burg und -«
»Sie sind alle tot«, erklärte Engelbert düster.
»Sie waren die ersten, die getötet worden sind. Ilvyn hat nur
überlebt, weil sie oben in der Bibliothek war und ich sie noch rechtzeitig
verstecken konnte.«
»Alle?« Danubia starrte ihn entsetzt und ungläubig
zugleich an. »Livas? Montana?«
»Tot. Ich habe versucht, bei ihnen in der Burg die Stellung
zu halten, aber es waren zu viele. Es waren sehr gut trainierte Xendii.
Ungewöhnlich für die Allianz.«
»Vielleicht war es doch PAGAN«, murmelte Bat Furan tonlos.
»Nein. Es war die Allianz«, beharrte Danubia. »Wir
sind nicht die ersten, die überfallen wurden. Und wir werden nicht
die letzten sein. Wir suchen noch weiter nach Überlebenden. Vielleicht
finden wir noch Schwerverletzte in den Wäldern weiter vorn.«
Entschlossen fuhr sich Danubia über ihr verschmutztes Gesicht. »Und
dann gehen wir nach Shangri-La. Ich habe etwas von dort mitgebracht, das
-«
»Ich nehme an, du meinst dies hier?« Tigris zog das
silberne RAM aus der Tasche ihrer Jeansjacke.
Danubia nickte wortlos.
Dann begann sie als erste, nach weiteren Überlebenden zu rufen
und auf Spuren aus Aethron Ausschau zu halten, die auch das Blut von Xendii
abgab.
.
Doch in der Siedlung schien niemand mehr überlebt zu haben,
wie sie nach mehr als zwei Stunden ernüchtert und traurig feststellen
mussten, in denen sie die Wälder ringsum durchkämmt hatten und
schließlich entkräftet und deprimiert hoch zur Burg trotteten.
»Antigua muss noch irgendwo hier sein!«, sagte Bat Furan
mit zusammengebissenen Zähnen.
»Wir durchsuchen auch noch die Burg. Vielleicht konnten sich
einige hierher flüchten«, entgegnete Danubia müde.
Und tatsächlich wurden sie gleich in der Kapelle fündig.
Als sie vorsichtig das Tor aufschwangen und in die Dunkelheit hineinriefen,
antwortete ihnen ein leises Wimmern.
»Es ist Antigua«, flüsterte Tigris erleichtert,
als sie vor dem Altar die wellenförmige Aura schwach leuchten sah.
»Ich hole sie.«
Langsam ging Tigris zu der Ruferin, die sich vor Lux Livas Pult
gekniet, den Kopf darauf gelegt hatte und leise weinte.
»Es ist vorbei, Antigua. Wir müssen fort von hier.«
Tigris streichelte sanft die glatten Haare der Ruferin.
»Vorbei?«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. »Vorbei...
Nein, es ist gar nichts vorbei. Es fängt erst an. Ich erinnere mich
wieder. An alles. Sie haben etwas mit meinem Geist gemacht, damit ich mich
nicht mehr erinnere. Aber ich weiß es wieder. Alles. Deswegen wurde
ich nicht in ihre Elite-Truppe gesteckt: Damit ich ihn nicht sehe und mich
erinnere. An das erinnere, was er mit meiner Sippe getan hat. Was er mir
angetan hat.«
»Wer?«, hauchte Tigris fassungslos.
»Kaitain. Aber ich habe ihn getötet. Ich habe ihn bezahlen
lassen für alles. Sie lügen immerfort, Tigris. Und sie haben
mich gezwungen, ihren Lügen zu glauben.« Antigua brach ab und
schluchzte laut auf, sodass Tigris sie in ihre Arme nahm.
»Es werden noch mehr Leute bezahlen, Antigua. Aber das geht
nur, wenn wir von hier fort gehen.«
»M-meine Mutter! Ich muss sie finden. Hilfst du mir, Tigris?
Bitte! Ich muss ihr doch sagen, dass ich mich geirrt habe. Die ganzen Jahre!«
»Wir finden sie. Und du kannst alles in Ordnung bringen, Antigua.
Ich verspreche es.«
Widerstandslos ließ sich die Ruferin von Tigris aus der Kapelle
bringen, hörte jedoch nicht auf, zu weinen.
Sie gingen gemeinsam in den Korridor der Tore, krampfhaft bemüht,
nicht zu der geschlossenen Tür des Festsaales zu sehen und die vier
Leichen, die noch dort lagen, zu ignorieren.
Tigris holte das RAM heraus und hielt es ihrer Mutter hin.
Doch diese schüttelte nur sanft den Kopf. »Nur Wandler
können es aktivieren. Leg es an die Wand, etwa so hoch, dass wir alle
hindurchpassen.«
Tigris tat wie geheißen. Erstaunt sahen sie, dass das RAM
von alleine an der Wand haften blieb, während die Buchstaben an seinen
Rändern grün zu erstrahlen begannen.
»Das Passwort ist ›Eloyah‹ und du musst...« Danubia
blieb vor Überraschung die Luft weg.
Mit einem roten, feinen Strahl hatte Tigris jeden Buchstaben des
Wortes schneller verbunden, als sie registrieren konnten und noch bevor
Danubia zu Ende gesprochen hatte.
Unter der Scheibe des RAM wuchs ein dunkler Schatten hervor, der
sich zunächst gleichmäßig zu allen Seiten ausdehnte, sich
dann jedoch nur noch in Richtung Fußboden weiter verlängerte
und dabei immer schwärzer wurde. Das RAM seinerseits verblasste zusehends
in dem Maße, in dem die Finsternis um es herum dichter wurde, bis
es schließlich vollkommen mit der Dunkelheit verschmolz.
Ohne zu zögern, schob Danubia sie nacheinander in das Tor.
Bevor sie selber hindurch ging, schaute sie noch einmal den Korridor
entlang und verweilte an der geschlossenen Tür des Festsaales.
Nur weil sie sich dagegen entschieden hatte, an der Sitzung dieses
Abends teilzunehmen, lebte sie noch. Wie bloße Zufälle über
Leben oder Tod entscheiden konnten, das hatten die wenigen unter ihnen,
die diese grauenhafte Nacht überlebt hatten, bitter am eigenen Leib
erfahren müssen.
© I.S.
Alaxa
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
|