Kaum war der Staat Guulin Kherem gegründet worden, entfalteten
die DiSMasters und ihre Schüler sofort die Betriebsamkeit eines Ameisenhaufens.
Tigris hatte gerade die Passage von Shangri-La in Aévons
kleines Reich durchschritten, da stieß sie mit drei Leuten zusammen,
die offenbar irgendwo auf der Welt einen Baumarkt geplündert hatten.
Scheppernd fielen Paletten voller Lackspray zu Boden, begleitet von einigen
Rollen grellbunter Tapetenrollen. Einer der Heimwerker in spe reagierte
geistesgegenwärtig und hinderte mit einem Split Slave drei Schachteln
voller Nieten gleichzeitig daran, sich beim Aufschlag großzügig
im Korridor der Tore zu verteilen. Dort herrschte ohnehin ein reger Verkehr,
sogar an diesem frühen Abend. Es waren vorübergehend Durchgänge
zu irgendwelchen Schrottplätzen, aber auch Fabriken und Geschäften
innerhalb der PAGAN-Doméns errichtet worden, aus deren Fundus man
sich anscheinend ungeniert bediente.
Tigris staunte nicht schlecht.
»Und was ist mit der Bezahlung?«, rief sie einem Mädchenpaar
zu, das gerade aus Shanghai eintraf und Vorhangstoff in seidig schimmerndem
Grau und Hellgrün zu seinem Zimmer in der Burg zu schleppen gedachte.
»Das war ein Schnäppchen, ein Restposten!«, antworteten
sie strahlend.
»Keine Sorge, Tig! Das geht auf Staatskosten.«
Sie wandte sich um und sah Hababai breit grinsend vor einem Tor
nach Kalkutta stehen. Im Arm trug er eine helle Holzskulptur, die selbst
ohne die geringste Fantasie als pikante Momentaufnahme einer ziemlich kompliziert
aussehenden Tantra-Stellung zu erkennen war.
»Wir haben gestern und vorgestern drei Städte von Daimons
befreit. Natürlich gegen Bezahlung, inklusive Mehrwertsteuer.«
»Mehrwertsteuer?« Sie hob befremdet die Braue.
»Ja, eigentlich war unsere Arbeit mehr wert. Aber wir sind
zunächst mit Dumpingpreisen angetreten, damit man uns weiter empfiehlt.«
»Ihr gebt gegenüber den Neutralen offen zu, so etwas
wie Hexer zu sein? Ihr spinnt«, lachte Tigris.
»Im Moment erstaunt sie das nicht mehr so sehr wie früher.
Seit die Daimons inkarniert sind, sind sie derart unglaublich offen für
alles. Wir wurden freudig empfangen und durften sogar in den besten Hotels
schlafen.«
»Und ich dachte, ihr macht das alles aus reiner Menschenliebe
...«
»Schon, aber von irgendwas müssen wir ja leben. Und PAGAN
wird uns garantiert früher oder später den Geldhahn zudrehen.
Aber jetzt, wo wir diese Alternative habe, juckt uns das zurzeit nicht
mehr so ganz.«
»Na, dann ...« Tigris wandte sich bereits halb zum Gehen
um. »Weißt du zufällig, wo ich Antigua und die anderen
finde? Ich wollte mal schauen, wie es ihnen geht.«
»Bei dem Durcheinander schwer zu sagen. Sieh doch einfach
mal in ihren Zimmern nach. Wenn sie nicht gerade Accessoires für ein
wohnliches Ambiente kaufen, sind sie bestimmt dabei, dieses Ambiente zu
erschaffen.«
Der schwarze, gutmütige Hüne begleitete sie auf dem Weg
in den Gemeinschaftssaal der Burg. Hababai hatte ihr irgendwann einmal
erzählt, dass er gerade ein Studium der Elektrotechnik in Johannisburg
angefangen hatte, als Aévon und Rosanjin ihm dort zufällig
über den Weg gelaufen waren und endlich Antworten auf fast alle seine
Fragen geben konnten, von denen zwei etwa lauteten: ›Warum sitzt in der
Uni der Geist meiner längst verstorbene Urgroßmutter neben mir
und weiß so gut über Schaltkreise, Solartechnik und dergleichen
Bescheid? Und wieso eigentlich geht hin und wieder bei meinen amourösen
Abenteuern das Bett in Flammen auf?‹
Seitdem er rasch einen Titel bei dem DiSMaster-Tournament vor drei
Jahren erworben hatte, gehörte er zur viel bewunderten und viel beschimpften
Entourage um Aévon und freute sich ansonsten seines Wandler-Daseins.
Gleich Volta schien er pfeifend und schlendernd durchs Leben zu gehen,
fest entschlossen, sich von nichts und niemandem seine gute Laune verderben
zu lassen, am allerwenigsten von irgendwelchen spinnerten Daimons.
»Mit wem wohnst du eigentlich, Habbi? Oh, ich vergaß,
ihr seid ja die politische Oberschicht.«
»So`n Quatsch. Ich wohne mit Volta und Didy zusammen. Nicht
mal Aévon wohnt alleine, sondern mit Rosanjin.«
»Mit wem auch sonst?«
»Tja, Bat Furan wollte ja nicht zusammen mit ihnen wohnen.«
»Wie konnte er nur ablehnen?« Tigris lachte laut los.
»Er zog es vor, mit Ras Algheti und diesem düsteren Hübschling
eine WG zu gründen.«
»Darius. Ich weiß, sie sprachen vor ein paar Tagen darüber.«
Tigris fühlte einen Schauer über ihren Rücken kriechen,
versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.
»Ja, er ist ein bisschen komisch, so undurchschaubar. Aber
er spielt wirklich gut Gitarre. Und er ist verdammt schlau, im Gegensatz
zu manchen anderen. Bat Furans Erdkundekenntnisse zum Beispiel sind nicht
die besten, und das, obwohl wir seit Tagen mit allen Neulingen für
die Schnitzeljagd pauken, welche Länder zu welchen Doméns von
PAGAN gehören, welche Zeitzonen sie haben und so. Hier, sie wohnen
im dritten Stock im Turm Mitte-Links.« Hababai tippte fast genau
in die Mitte eines großen Planes, der seit neuestem im Gemeinschaftssaal
hing und anzeigte, in welchen Teilen und Stockwerken der Burg sich wer
häuslich niedergelassen hatte und wo welche Örtlichkeit zu finden
war.
»Fuhrpark?« Tigris riss erstaunt die Augen auf, als
sie den Eintrag für ein Gebäude an der Außenseite der Burg
las.
»Ja, na klar«, erklärte Hababai stolz. »Wir
machen alle Rostlauben wieder flott, die mindestens zwei Räder besitzen.
Jeder kann sich nach Absprache ein Auto oder eins der vielen Motorräder
ausleihen und eine Spritztour irgendwohin unternehmen. In den Garagen hängt
auch eine Liste mit verschiedenen, noch aktiven illegalen Toren weltweit.
Tig, du musst unbedingt einmal eine Motorrad-Tour durch die Provence machen!
Diese Farben! Diese Gerüche. Und diese Käsesorten!« Hababai
seufzte verträumt.
»Ich kann kein Motorrad fahren. Und erst recht nicht Auto.«
Sie erinnerte sich an die haarsträubenden Spritztour mit den drei
schrillen Daimons, die im Schlossweiher von Düsseldorf-Benrath geendet
hatte.
Und nun befand sie sich tausende Kilometer weit weg, irgendwo in
der Mongolei. Und tausende Lichtjahre entfernt von ihrem alten Leben. Die
Vergangenheit erschien ihr mehr und mehr als Traum, den sie einmal gehabt
hatte und der nicht mehr zurückkehren würde. Merkwürdigerweise
verblasste das Bedauern über diese Tatsache von Tag zu Tag.
»Ach, Tig, es gibt genug Leute, die dir das beibringen können.
Mich zum Beispiel. Wir können gleich übermorgen Motorrad fahren
lernen. Es geht nichts über Mobilität. Du musst übrigens
den Durchgang da hinten nehmen, da geht es zum Turm Mitte-Links. Ich bringe
Didy jetzt seine komische Figur. Er sammelt sie nämlich. Ziemlich
unpraktisch, wenn du mich fragst. Immerhin kann er sie ja schlecht alle
zu seinen Dates mitschleppen und auf die Kommode stellen, um zu sehen,
wie er sich beim Sex verrenken muss.«
Tigris schüttelte lachend den Kopf und ging die Treppen hinauf,
wo ihr ein paar asiatisch und orientalisch aussehende Schüler aufgeregt
diskutierend entgegen kamen. Kein Zweifel: Guulin Kherem war eindeutig
international und multikulturell, und alle zogen an einem Strang. Zum ersten
Mal fragte sie sich, wie es wäre, inmitten dieses schrillen Bienenstocks
zu wohnen. Es hörte sich alles so aufregend und abenteuerlich an,
es klang nach Freiheit, Spaß und Selbstbestimmung.
›Mama hustet mir etwas, wenn ich mit diesem Vorschlag ankomme. Und
außerdem hätte ich dann keine Zeit mehr für Anjul‹, dachte
sie. Vor allem letzteres erschien vollkommen inakzeptabel, auch wenn sie
sich seit Anjuls Erwachen vor zwei Tagen nur einmal ins Krankenhaus gewagt
hatte und sich maßlos über ihre augenblickliche Feigheit ärgerte.
All ihren Mut hatte sie zusammengekratzt, nur um sein Bett leer vorzufinden.
Wahrscheinlich hatte man ihn wieder einmal einer der langwierigen Nachuntersuchungen
unterzogen, was natürlich durchaus verständlich erschien, nach
all dem.
Doch am nächsten Tag hatten sie die Zweifel wieder gepackt.
Denn es war schließlich eine Sache, jeden Tag bei jemandem
zu verbringen, der es vielleicht nicht einmal bemerkte. Und eine ganz andere,
so mir nichts dir nichts bei jemandem aufzutauchen, der nun mehr oder weniger
putzmunter war und sich vielleicht fragte, wer das fremde Mädchen
war, das in sein Zimmer schneite.
Im dritten Stock der Burg angekommen, fand sie Antigua bei den Jungs.
Ras Algheti, der die Seite mit zwei kleinen Fenstern gegenüber
der Eingangstür in Beschlag genommen hatte, malte an einem bunten
Graffiti mit seinem Namen und allerlei Verwünschungen und Beschimpfungen
gegen die Domén Arxes von Europa und America Borea.
»Hi Tigris!«, begrüßte er sie und wischte
sich den Schweiß von der Stirn. »Wie geht es Schneewittchen?«
»Er meint die Mumie, die du so geschockt hast, dass sie wieder
von den Toten auferstanden ist«, ließ sich Bat Furan vernehmen,
dessen Kreativität für seine Bettseite sich offenbar darin erschöpft
hatte, einige Poster mit den Playboy-Playmates der Monate Januar bis März
auf seine Wand zu kleben.
»Was wohl Shirooka dazu sagt?«, fragte Tigris süffisant,
ohne auf die Sticheleien der Jungs weiter einzugehen. So glücklich
Tigris über Anjuls Rückkehr in das Reich der Lebenden war, so
ärgerlich fand sie, dass diese Sache blitzschnell zu Dem Gesprächsstoff
in Shangri-La und darüber hinaus mutierte und manchen Leuten Anlass
zu dummen Sprüchen bot.
»Die Poster hat sie selber mit Bat Furan ausgesucht«,
erklärte Antigua schmunzelnd. »Er wollte nämlich zuerst
Paris Hilton aufhängen, aber da wurde Shirooka echt sauer.«
Tigris sah zur rechten Seite des Zimmers, wo Darius ein wahres Kunstwerk
in Blutrot auf die zuvor pechschwarz getünchte Wand gezaubert hatte.
Es sah auf den ersten Blick nach einem komplizierten Tribal-Muster aus,
doch durch eine optische Täuschung konnte es auch ein Gesicht mit
vollen Lippen, bluttriefenden Reißzähnen, Brüsten und langen
Haaren darstellen.
Der Schöpfer des Meisterwerks selber war nach Auskunft von
Ras Algheti seit dem frühen Morgen irgendwohin verschwunden, was des
Öfteren vorkam und allen außer Tigris wohl nicht merkwürdig
vorkam.
»Romantisch, nicht wahr?« Bat Furan seufzte. »Und
mich grinst das Ding nun jeden Abend an.«
»Mich wundert das gar nicht«, grummelte Tigris.
»Ich mag Darius«, sagte Antigua. »Er ist so ...
so schräg. Aber irgendwie tiefsinnig. Und er spielt wirklich toll
Gitarre.«
»Ich weiß. Er schreibt auch sehr erheiternde Lieder.
›Die Nacht weint Blut‹ und dergleichen.«
»Oh, ja, das ist irgendwie cool«, fand Ras Algheti,
der einen Schritt zurück trat, um seine Kreation zu begutachten. »Düster,
aber cool. Vor allem diese bedrohliche Melodie. Er hat es uns vorgestern
nach der Abendmeeting vorgespielt.«
Tigris rollte entnervt die Augen. Anscheinend gefiel Bru’jaxxelon
seine menschliche Identität als Darius so gut, dass er nicht einmal
davor zurückschreckte, den Hofbarden der jungen Nation zu geben.
Bat Furan holte aus einem alten Kühlschrank eine Flasche Cola
und servierte den Mädchen und Ras Algheti eine kleine, eiskalte Erfrischung.
»Wie geht das denn, so ohne Elektrizität?«, wunderte
sich Tigris, denn so weit sie wusste, war Guulin Kherem an kein Stromnetz
angeschlossen.
»Ach, mit DiS geht doch alles. Und wenn es nur eine kleine,
immerwährende Eiszeit im Kühlschrank ist«, lachte Bat Furan.
Tigris sah sich weiter um. Der wohnzimmergroße Raum hatte
eine Nische links neben der Tür, in der die Jungs ihre Anziehsachen
untergebracht hatten. Von der Decke hing an Ketten ein schlichter, schnörkelloser
Kerzenlüster aus schwarzlackiertem Metall, der sanftes Licht verbreitete.
In der Mitte des Zimmers stand auf dem neu wirkenden, grauen Teppich mit
japanischen Symbolen ein Tisch mit dunkler Onyxplatte, dem die Beine kürzer
gesägt und silbern angestrichen worden waren. Und rund um ihn lagen
schwarze und rote Sitzkissen verteilt, auf denen es sich die Vier gemütlich
machten.
»Nett habt ihr’s hier. Und dann noch der staatseigene Fuhrpark
...« Tigris lächelte.
»Das ist das Beste!«, rief Ras Algheti begeistert. »Ich
war heute Morgen mit ein paar anderen in Sydney unterwegs. Der alte Porsche
läuft mit DiS noch schneller und ich dachte schon, mir fliegen die
Wimpern weg.«
»Du hast vorhin Ras’ Frage nicht beantwortet, Tigris: Wie
geht es deiner Märchenprinzessin?« fragte Bat Furan breit grinsend
an Tigris gewandt.
»Sehr gut, danke der Nachfrage. Und übrigens heißt
er Anjul, auch wenn du dir diesen schwierigen Namen anscheinend nicht merken
kannst«, entgegnete Tigris unwirsch.
»Du musst unbedingt was gegen deinen Mundgeruch machen, Tigris«,
riet ihr Ras Algheti mit ernster, besorgter Miene. »Oder wenigstens
Kapital daraus schlagen. Beim nächsten Koma-Patienten nimmst du eine
Wiederauferstehungsgebühr.«
»Ihr seid ziemlich blöd, wisst ihr«, sagte Tigris
eingeschnappt. »Anstatt euch zu freuen, dass wir bei PAGAN einen
Rufer-Wandler haben-«
»Echt? Er ist ein Rufer-Wandler?«, fragte Antigua höchst
interessiert. »Die sind doch ziemlich selten. Ilvyn meinte, von allen
Doppelt-Begabten überleben Babies mit diesem Xendium am seltensten.
So weit ich weiß, haben wir hier auf der Burg keinen einzigen Rufer-Wandler.«
»Und sobald Aévon und die anderem von dieser Tatsache
Wind kriegen, werden sie ihn garantiert anwerben wollen«, schloss
Bat Furan.
»Was ist, wenn er überhaupt keine Lust hat, sein Leben
beim Kampf gegen Daimons aufs Spiel zu setzen«, wandte Tigris leidenschaftlich
ein, »nach allem, was er erlebt hat? Er ist noch nicht gesund. Er
braucht jemanden, der für ihn da ist und ihm hilft, das alles zu verarbeiten.
Kein Kampftraining.«
»Gerade groß und stark wirkte er als Mumie echt nicht«,
pflichtete auch Ras Algheti bei. »Aber vielleicht hat er sich ja
nach dem Auspacken wieder etwas ausgedehnt.«
In diesem Moment hörten sie Schritte von der Treppe her und
wandten die Köpfe.
Darius.
Tigris murmelte ein halbherziges ›Hallo‹, das er jedoch nur mit
kalter, arroganter Miene quittierte. Er hatte frisch geduscht, seine kurzen
Haare glänzten feucht. Doch selbst ohne lange, schwarze Mähne
und Kajal wirkte sein Gesicht düster und undurchschaubar, schon alleine
durch die dunklen, wachsamen Augen.
Antigua musterte ihn amüsiert und blieb für einen kurzen
Moment an seinem Hals hängen, an dem unverkennbar ein Knutschfleck
prangte, was schließlich auch Tigris auffiel und ihr fast einen erschrockenen
Aufschrei entlockt hätte.
›Wieso wundert mich das? Hat dieses Monster nicht selbst zugegeben,
dass er Küssen so vermisst?‹, dachte sie grimmig und zwang sich, nicht
weiter darüber zu grübeln, wieso ein abartiges, verkommenes böses
Scheusal überhaupt das Bedürfnis nach Zärtlichkeit haben
sollte.
»Habt ihr schon vernommen, dass die Schnitzeljagd morgen früh
stattfinden wird? Nicht? Nun, dann kann ich euch die frohe Kunde überbringen:
Alle Teilnehmer versammeln sich um halb vier Uhr morgens im Gemeinschaftsraum.«
Er holte sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und setzte
sich neben Antigua. Tigris würdigte er kaum mehr eines Blickes.
»Wieso so früh? Was haben die vor?«, fragte sich
Bat Furan. »Uns durch sämtliche Doméns PAGANs zu hetzen?
Keiner von denen rückt mit der Sprache raus.«
»Ich fürchte, es wird tatsächlich auf eine halbe
Weltreise hinauslaufen, wenn wir seit Tagen die Atlanten anstarren müssen,
mein Freund. Außerdem sagte jemand etwas von ›Beweise mitbringen‹.
Ich lasse mich überraschen, was uns vier wohl erwarten mag.«
Seine schwarzen Augen sahen die anderen drei Windwibbs nacheinander an
- und funkelten dabei boshaft, wie Tigris fand. Es lief ihr eiskalt den
Rücken hinunter. Und dieses Monstrum sollte alleine mit ihren Freunden
losziehen?
Ohne zu überlegen, rief sie entschlossen: »Kann ich bei
dieser Schnitzeljagd mitmachen, obwohl ich kein Staatsbürger von Guulin
Kherem bin?«
»Gott bewahre«, murmelte Darius.
»Das hast du wohl nicht zu entscheiden, auch wenn du sonst
so überzeugt von deiner Überlegenheit bist«, giftete Tigris
ungerührt zurück, bereute aber im gleichen Augenblick ihr Temperament,
als Darius sie unverhohlen böse ansah. Anjul hatte dieser wahnsinnige
Daimon nichts anhaben können, aber vielleicht versuchte er es erneut
mit ihren Freunden. Sie biss sich auf die Lippen und schwor sich, nicht
noch einmal so leichtsinnig zu sein.
»Wenn ihr beide bei der Schnitzeljagd so rücksichtsvoll
miteinander umzugehen gedenkt, bleibe ich lieber zuhause«, meinte
Antigua kopfschüttelnd und sah Tigris missbilligend an.
»Schon gut, tut mir leid«, zischte diese, was nicht
im Geringsten überzeugend klang.
»Und mir erst«, säuselte Darius übertrieben
lieblich.
»Sicher. Was für ein hübsches Bild übrigens.
Sieht so ähnlich aus wie das in deinem Heft, das du mir einmal im
Unterricht gezeigt hattest. Ist das der Gott, von dem wir einmal gesprochen
hatten? Sieht eher nach ›Sie‹ aus.« Tigris sprach ruhig, doch die
Kälte in ihrer Stimme war unüberhörbar.
»Was ist daran so verwerflich?«, fragte Darius gelassen.
»Bärtige Greise finde ich nun einmal nicht so anziehend wie
hübsche Frauen. Auch wenn manche von ihnen im Moment unausstehlich
sind. Den Launen des schönen Geschlechts ist man als Mann zuweilen
hilflos ausgeliefert.« Er seufzte gespielt.
»Haben diese eingewebten Buchstaben irgendeine Bedeutung?
Sind das überhaupt Buchstaben?«, fragte Ras Algheti, weswegen
alle das blutrote Kunstwerk eingehend betrachteten.
»Um das heitere Rätselraten um das Bildnis über
meinem Bett zu beenden, verrate ich die schlichte und ergreifenden Wahrheit:
Ich habe es irgendwann und irgendwo einmal gesehen und es gefiel mir eben.
Falls es Buchstaben sein sollen, weiß ich nicht, was sie bedeuten
mögen.«
Tigris betrachtete die komplizierten Ornamente. Tatsächlich
konnte man bei genauer Betrachtung in einigen ineinander geflochtenen Linien
und Schnörkel durchaus M und D wieder erkennen. Bei dem dritten Letter
- wenn es denn einer war - blieb hingegen Spielraum für einige Interpretationen.
Es konnte ein F sein , oder ein E, oder ...
›MDL‹, durchfuhr es Tigris plötzlich. Sie riss den Kopf herum
und schaute Darius an, der ohne mit der Wimper zu zucken ihrem durchdringenden
Blick standhielt.
Wenn irgendwo noch ein Zweifel an der wahren Natur von Darius in
Tigris genagt hatte, so hatte ihn diese Eingebung in nur einer Sekunde
verbrannt.
MDL und Bru’jaxxelon. Das passte doch hervorragend zusammen.
Und nun wohnte der Feind der Menschen mitten in Guulin Kherem, um
die DiSMasters auszuspionieren und sie womöglich auszulöschen.
›Irgendwie muss ich es schaffen, dass er sich selbst verrät
und Aévon und die anderen misstrauisch werden‹, dachte sie. ›Und
ich lasse ihn keinesfalls mit meinen Freunden alleine. Verdammt. Hoffentlich
tut sich endlich etwas bei diesem verfluchten Amulett.‹
Sie konnte nicht ahnen, dass zumindest dieser Wunsch auf besondere
Weise in Erfüllung gehen sollte.
.
Es war eine illustre Zahl von hochstehenden Persönlichkeiten,
die sich da am 20. Mai in dem riesigen unterirdischen Konferenzsaal zu
einer geheimen Sitzung versammelt hatten.
Und sie alle hingen gebannt, furchterfüllt und still an den
Lippen des schönen Propheten, der ihnen die Worte Gottes mitteilte.
In jeder Ecke des holzvertäfelten Raumes standen riesige Engel
- vier Melegonin mit funkelnden Brustpanzern aus Metall und juwelenbesetzten
Schwertern, sowie einem fünfzackigen Sternen-Anhänger aus
purem Diamant; ein Schmuckstück, das es ihnen ermöglichte, zeitweilig
zu inkarnieren.
Was die Menschen für himmlische Strenge in ihren schönen
Gesichtern hielten, entsprang in Wahrheit dem Unmut darüber, die ganze
Zeit möglichst würdevoll herumzustehen und vor Langeweile zu
vergehen.
Doch ihr Oberbefehlshaber hatte nun einmal angeordnet, dass sie
Umbriels Treffen mit ranghohen politischen, militärischen und geistlichen
Oberhäuptern möglichst eindrucksvoll gestalten sollten. Dies
beinhaltete lästigerweise, sich die lächerliche, altmodische
Kriegsrüstung anzutun und auch die unvermeidlichen Engelsflügel
nicht zu vergessen. Allerdings wollten die vier Melegonin der Shinnn dann
doch nicht ganz auf eine standesgemäße Note verzichten und hatten
daher rasiermesserscharfe, sichelförmige Fortsätze an den Schwingenspitzen
und ließen je eine orangerote, fauchende Feuersäule vor sich
rotieren.
Dies sorgte für die respektvolle, angsterfüllte Atmosphäre,
die Umbriels Plänen sehr zugute kam. Nur er und Thanatos wussten überdies,
dass die vier überirdischen Gestalten nicht zu jener Seite zählten,
zu der sie alle anderen im Saal rechneten - Adhara und ihr indianischer
Kommandant Zephyr miteingeschlossen.
Das Oberhaupt von America Borea - wie immer in dunkler, hochgeschlossener
Kleidung gewandet und ihre grauen Haare zu einem strengen Dutt gezüchtigt
- hatte zuvor die Neutralen über die ganze Wahrheit aufgeklärt.
Und so erfuhren einige Staatsoberhäupter der beiden Amerikas und von
Europa und Asien, außerdem Papst Gregor XVII., verschiedene
Generäle sowie die zehn einflussreichsten Wirtschaftsgrößen
alles über die herangebrochene Gottesdämmerung, als auch über
die mutigen Xendii Nordamerikas und Europas, die seit einem Jahrhundert
schon im Verborgenen und zum Wohle aller Menschen gegen die machtvolle
Vereinigung von Teufelsanbetern namens PAGAN ankämpfte.
Doch deren Stunde war gezählt - Gott rief die Gläubigen
zum letzten Sturm gegen die Höllenbrut des Jenseits und Diesseits.
»Die Zeichen konnte jeder sehen, dem sein Herz noch nicht
verhärtet worden ist von den Sünden und Widerlichkeiten allüberall«,
rief Umbriel leidenschaftlich. »Nun ist Seine Geduld zu Ende, denn
das Flehen und die Tränen der Gläubigen dieser Welt hat sein
Herz gerührt. Und so sprach der Herr: Vereinigen will Ich die Rechtgläubigen
unter einem Banner und starke Engel will Ich ihnen zu Seite stellen, auf
dass Meine Feinde erblassen und zu jammern anfangen. Aber all ihr späte
Reue wird ihnen nichts nützen, denn gelästert haben sie Meinen
Namen und die Rechtgläubigen verspottet. Doch nun werden Wir über
sie spotten und ein strenges Gericht über sie halten.«
Umbriel sah in die bleichen, angespannten Gesichter ringsum und
atmete tief durch.
Es war soweit.
Der Augenblick war gekommen.
Er schloss die Augen und senkte demütig den Kopf.
»Mein Herr, Unser aller Gott, hat zu mir gesprochen.
Aus der Mitte des Sündenpfuhls des Großen Reiches heraus
werde ich Mein Reich errichten, das Reich der letzten Dämmerung.
Ein strahlendes Reich für die Gottergebenen, darin sollen sie
keine Angst mehr kennen und nach Meinem Willen und Meinem Gesetz leben,
bis ich sie zu Mir erhebe als Belohnung für ihren unerschütterlichen
Glauben und ihrer eherne Treue.
Doch für jene, die Meinen Namen lästerten und die Namen
der Propheten, all jene, die absichtlich von Meinem Weg abgingen, um abscheuliche
Sünden zu begehen, für sie ist kein Platz darin und sie werden
anheim fallen Meiner schrecklichen Rache, von der sie glaubten, sie würde
nie kommen.
Darum sollen fortan in Meinem Reich nur noch die Gesetze gelten,
wie sie euch durch die Propheten in der Weißen Bibel geschenkt worden
sind, damit ihr ablasst von dem Schlechten und errettet werdet, wenn bald
das Ende über diese Welt hereinbricht.«
Die Gesichter waren totenblass geworden - außer das des gebrechlichen
Greises am Kopfende des langen Tisches.
Papst Gregor XVII hatte die ganze Zeit mit geschlossenen Augen den
Worten des Propheten gelauscht und fortwährend zustimmend genickt,
auch wenn das Erscheinen des Propheten und seiner machtvollen Engel das
Ende aller widerstreitenden Religionen bedeutete. Denn der einzig wahre
Glaube, der Glaube der Xendii, kannte keinen Gottessohn und kein Wiedererscheinen
Christi - nur eine schreckliche Apokalypse, zu deren Anfang sich die gottergebenen
Nachfahren der Nefaílim der Menschheit zu erkennen geben würden,
um mit ihnen gemeinsam gegen die Heere der Finsternis anzukämpfen.
Doch vieles aus dem Alten und Neuen Testament, der Thora, dem Koran
und den Veden fand sich in der Weißen Bibel wieder - und somit hatte
keine der großen Religionen völlig das Falsche geglaubt.
»Dies bedeutet also, dass ab sofort jedes menschengemachtes
Gesetzeswerk außer Kraft treten muss, wenn es dem Göttlichen
widerspricht«, sagte Adhara mit fester Stimme, nachdem sich Umbriel
gesetzt hatte. Sie warf einen besorgten Blick auf den Propheten, der alles
daran setzte, sich seine schlechte Verfassung nicht anmerken zu lassen.
»Wir sollen die amerikanische Verfassung für ungültig
erklären?«, fragte James Warner, der amerikanische Präsident,
mit zitternder Stimme.
»Halten Sie es für einen schlechten Handel, menschengemachtes
Werk für göttliche Weisheit einzutauschen?« Umbriel sah
den hageren Mann mit den schütteren, dunklen Haaren erstaunt an.
Dieser warf einen kurzen Seitenblick auf die vier grimmigen Engel
und murmelte: »Nein. Nein, natürlich nicht. Wir sind ein gläubiges
Volk und-«
»So ist es«, warf Adhara energisch ein. »Die Menschen
dort draußen haben genug von dem Durcheinander, das atheistische,
unmoralische Personen mit der so genannten ›Aufklärung‹ verbrochen
haben. Und was ist das Resultat? WAS ist das Resultat?« Ihre Stimme
wurde durch die leidenschaftliche Empörung lauter und ließ selbst
die Engel überrascht zusammenzucken, was jedoch glücklicherweise
niemand bemerkte.
»Grenzenloser Egoismus! Materielle Gier! Zersetzung der Familien!
Der Körper und der Geist unserer unschuldigen Kinder werden durch
Drogen, wahllosen Geschlechtsverkehr, gotteslästerliche Musik, Krankheiten
wie AIDS zerstört. Und stolz tanzen dazu diejenigen, die es auch noch
für ihr natürliches Recht halten, mit Kranken ihres eigenen Geschlechts
in aller Öffentlichkeit Unzucht zu begehen. Soweit ist es schon gekommen:
Das Kranke, das Verderbte, das Schlechte wird als das einzig Erstrebenswerte
gefeiert.
Aber dies ist nun vorbei. Das Reich Gottes wird sich all des Schmutzes
entledigen, das die Seelen der Menschen zersetzt und auffrisst. Und niemand
kann sich Seinem Willen und seiner Macht entgegen stellen.
Niemand.«
»SEIN WILLE WIRD GESCHEHEN!«, dröhnten die Engel
mit einer schockierend lauten Stimme, die den langen Konferenztisch samt
Tassen und Kekstellern wie bei einem Erdbeben erzittern ließen.
»Ich denke nicht, dass der Senat sich dem göttlichen
Willen widersetzen wird«, beeilte sich der Präsident zu sagen
und wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
Das war alles zuviel.
Seitdem Umbriel mit den Heerscharen von Kriegern und Engeln das
Land von den Dämonen befreite, gegen die nicht einmal das Militär
etwas hatte ausrichten können, herrschte ohnehin religiöser Ausnahmezustand
in God’s own Country. Und dass nun Sein Reich eben hier gegründet
worden war, erfüllte ihn mit einer Mischung aus Ehrfurcht und nackter
Angst. Aber ja, sein Gewissen war eigentlich rein, er war stets in die
Kirche gegangen, schon alleine, um die finanzkräftige Massen der religiösen
Rechten auf seiner Seite zu behalten.
Und diese unterstützten Umbriel absolut, in vollkommener Ergebenheit
und mit ekstatischer Euphorie.
Nein, wie konnte ein vernünftiger Mensch dagegen sein, sich
der offenkundigen, göttlichen Allmacht zu widersetzen?
Niemand an dem Tisch würde das tun, das war klar und deutlich
zu sehen. Sie alle zitterten vor Furcht, wie er selber.
Und doch gab es einen Mann in der Runde, der trotz der überwältigenden
Anwesenheit der Engel und des unglaublichen Erfolgs Umbriels noch nicht
ganz überzeugt war:
John Zelazin Jr., der reichste Mann Amerikas, einer der Grauen Eminenzen,
die im Hintergrund die Politik der USA mitbestimmten.
Sicher, er fühlte sich unbehaglich und bedroht und vermied
es, die überirdischen Gestalten anzusehen.
Allerdings hatte er die ganze Zeit während Umbriels und Adharas
Reden an jene e-mail denken müssen, die ihm vor einigen Tagen geschickt
worden war. Der Absender hatte nicht zurückverfolgt werden können,
und zehn Minuten nach dem Öffnen hatte sie sich auch noch selber gelöscht.
Unglaublich genug.
Und was darin gestanden hatte, war die haargenaue Schilderung dessen,
was sich in diesem Raum gerade abspielte: Umbriel war im Begriff, einen
Gottesstaat zu errichten - und in einer Zeit, in der der Mensch im Begriff
war, zum Mars zu fliegen, würde es einen blutigen Rückfall ins
finsterste Mittelalter geben.
Nicht, dass Zelazin ein Samariter war - seine Milliarden gewann
er hauptsächlich durch seine unüberschaubare Anzahl an Firmen
und Beteiligungen im Bereich der Rüstungsindustrie und des Ölgeschäfts,
und um diesen Geldstrom niemals versiegen zu lassen, inszenierten er und
jene einflussreichen Eminenzen mitleidlose Kriege und Putsche in aller
Welt.
Aber es gab etwas, das Zelazin überhaupt nicht leiden konnte,
und das war, verarscht zu werden.
Was hatte unter anderem noch in der Nachricht gestanden?
›Die heldenhafte Kämpfe von Umbriels Gotteskriegern ist nichts
als eine grandiose Show. In Wahrheit entstammen die Engelswesen als auch
die so genannten Dämonen derselben Art von immateriellen Lebewesen,
die wie wir denken und fühlen können. Wir warnen eindringlich
davor, Umbriel und Adhara Whitechurch Glauben zu schenken. Die beiden sorgen
- ungewollt vielleicht - nur dafür, dass die Bedingungen geschaffen
werden, in der eine noch viel schlagkräftigere Sorte von Überirdischen
über unsere Welt herfallen kann.
Dann wird nichts mehr von ihr übrig sein - und von Ihrem Reichtum
natürlich auch nicht. Wir melden uns wieder. P.A.G.A.N‹
Vor PAGAN hatten die beiden Hexer oder Zauberer, oder was auch immer
sie waren, doch eben so eindringlich gewarnt.
Nun gut.
Der Feind meines Feindes muss nicht mein Freund sein.
Aber es lohnte doch durchaus, sich eingehender mit dieser Materie
zu beschäftigen.
Vielleicht war etwas dran.
Denn es gab noch etwas, das John Zelazin neben Verarschen überhaupt
nicht vertragen konnte: Jemand, der ihm befehlen wollte, was er zu tun
oder zu lassen hatte oder sich womöglich noch in seine Geschäfte
einmischte.
›Weder Gott noch Teufel ist über mir.‹
Das war sein Wahlspruch.
Und trotz dieser riesigen Engel, trotz der Wundertaten der ›Himmlischen
Heerscharen‹ hatte er nicht vor, ihn zu ändern.
.
Am nächsten Morgen, gegen viertel nach vier, saßen acht
Gruppen mit je fünf Leuten im Gemeinschaftssaal, von denen die meisten
versuchten, nicht gleich wieder einzuschlafen und dabei auf den Tabletts
mit dem Frühstück zu landen. Besonders Darius sah aus wie die
fleischgewordene stille Miesepetrigkeit, die besser noch zehn Stunden im
Bett verbracht hätte. Die Anwesenheit von Tigris schien dabei seine
Stimmung nicht gerade aufzuhellen. Beide warfen sich heimliche, giftige
Blicke zu, wenn sie nicht gerade gähnten.
Es galt, das erste Rätsel zu lösen und die Node herauszufinden,
die sie als erstes anzusteuern hatten. Eine halbe Stunde vorher hatte jede
Gruppe ein Start-Rätsel gezogen sowie einen Zettel mit dem Namen des
DiSMasters, der sie begleiten würde.
Im Falle der Windwibbs und Darius war das Celestine Saint-Thalisse,
die Französin, die mit einundvierzig Jahren die Älteste im ganzen
Staat war, aber immer noch umwerfend gut aussah. Sie trug eigens für
die Schnitzeljagd eine eng anliegende Kunstlederhose und eine kurze, wattierte
Jacke, ausnahmsweise aber keine hohen Stiefel, sondern schwarze Baseballschuhe
aus seidig schimmerndem Stoff. Tigris fragte sich, ob sie sogar die Einsätze
gegen Daimons in Pumps mitmachte. Man kannte sie schließlich nicht
anders als elegant-sexy.
Die Regeln der Schnitzeljagd waren denkbar einfach: An jedem Zielpunkt
wartete das nächste Rätsel sowie der ›Beweis‹, den sie in ihre
bereitstehenden Rucksäcke zu packen und mitzubringen hatten. Wenn
man den Ort anhand der Rätsel herausgefunden hatte, musste als erstes
die Node angesteuert werden, über die man dorthin gelangte. Aber jede
Node durfte nur maximal zweimal betreten werden und Direktverbindungen
waren nicht erlaubt. Über die Einhaltung der Regeln wachte der zugeteilte
DiSMaster. Er war es auch, der bei Verstößen oder aus besonderen
Anlässen das Spiel abbrechen konnte, in dem er mit dem Passwort ›Loser‹
seinen RAM aktivierte und seine Schützlinge wieder direkt nach Guulin
Kherem zurückbrachte.
Aévon hatte ihnen noch verraten, dass sie an jedem Zielort
auf Leute treffen würden, die von ihnen als Gegenleistung für
die Herausgabe des nächsten Rätsels und des ›Beweises‹ eine Gefälligkeit
verlangen würden.
Für jede Aufgabe samt Rätsellösung hatten sie maximal
zweieinhalb Stunden Zeit.
Und nun brütete jeder über den Starträtsel, welches
für Tigris und ihre Gruppe lautete:
»In dieser Node befindet sich ein Land, in dem es einen Ozean
des Wissens gibt, doch der ist zurzeit nicht dort, sondern woanders. Ein
Ticket ist nützlich, wenn ihr mittendrin zwei Harte gegen einen Weichen
tauscht. Zuletzt sucht den Stern 3 / 6«
Ratlosigkeit hatte sich seitdem auf die Gesichter gezaubert.
»Ozean des Wissens? Ich kenne nur den Pazifischen und den
Atlantischen Ozean«, murmelte Bat Furan.
»In der Mitte etwas Hartes gegen etwas Weiches austauschen?«,
fragte sich auch Ras Algheti.
»Vielleicht eine riesige Bibliothek? Wo gibt es die größte
Bibliothek der Welt? Weiß das jemand von euch?« Antigua schaute
hilfesuchend in die Runde und schielte dann auf die anderen Gruppen, die
ebenfalls fieberhaft damit beschäftigt waren, ihre Rätsel zu
lösen.
»Ja, aber was heißt zurzeit nicht dort, sondern woanders?«,
fragte sich Tigris. »Ist es eine Art Wander-Ausstellung? Eine Büchermesse?
Wo ist zurzeit eine riesige Büchermesse, verdammt?«
»Irgendeine Idee, Darius? Du siehst im Moment so unglaublich
intellektuell aus«, meinte Antigua.
Tatsächlich schien Darius über irgendetwas nachzubrüten.
»Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Ozean des Wissens. Wo habe
ich das schon einmal gehört?«, sagte er leise zu sich selber.
»Mann, denk schneller nach!«, forderte Bat Furan, als
eine Gruppe leise aufjubelte und aufstand, um mit Shirooka los zu ziehen.
Alle waren mit einem Mal hellwach und aufgeregt.
»Kann es mal sein, dass wir das Rätsel XE abbekommen
haben, so ein Scherzding, bei dem es sich dann herausstellt, dass es unlösbar
ist oder so? Ticket, mit dem man irgendwas tauscht? Ich verstehe überhaupt
nichts«, regte sich Ras Algheti auf. Dann forderte er schon leicht
genervt: »Los, einen Tipp dürfen wir kriegen, lasst uns Cely
fragen.«
Das stieß allerdings auf ungeteilte Ablehnung.
Eine Viertelstunde verging, in der drei weitere Gruppen den Raum
verließen, und noch immer war für Tigris’ Gruppe keine Lösung
in Sicht.
»Das kann nicht sein. Gibt es einen See, der übersetzt
›Ozean des Wissens‹ heißt? Oder ein Dorf, ein Land?« Bat Furans
schüttelte verzweifelt den Kopf. Dabei hatte er sich vorgenommen,
die Schnitzeljagd auf jeden Fall zu gewinnen.
»Selbst wenn. Außer Englisch kann ich keine andere Sprache«,
meinte Tigris zerknirscht. »Braucht man etwa Kisuaheli für die
Lösung? Japanisch? Vielleicht Tibetisch?«
»Natürlich!«, rief Darius, kaum dass sie zu Ende
geredet hatte und schlug sich vor die Stirn. »Wie konnte ich das
vergessen? Tigris, waren unsere intensiven Diskussionsrunden bei Frau Rautenberg
denn völlig umsonst? Thema Buddhismus, Dalai Lama. Dalai Lama bedeutet
›Ozean des Wissen‹! Und das Ticket ist nützlich, wenn man die harten
Konsonanten ›ck‹ gegen den weichen ›b‹-Laut austauscht. Das ergibt nämlich
Tibet.«
Die Erinnerung an alte Zeiten irritierte Tigris etwas, während
alle anderen freudig aufkreischten und gegenseitig abklatschten.
›Er hat sogar alle Erinnerungen von Darius angenommen‹, dachte sie
empört.
»Also müssen wir zu welcher Node?«, fragte Bat
Furan. »Fällt Tibet unter die Asiatischen Domänen oder
unter die von Altai-Siberia?«
»Asia. Los, kommt endlich.« Kurzentschlossen sprang
Antigua auf die Beine und zog Tigris auf die Beine. Alle schulterten ihre
Rucksäcke, während sie Celestine heranwinkte. »Wir wären
dann soweit.«
»Quelle mirage! Isch könnte vor Glück weinen«,
meinte die Französin unschuldig lächelnd.
Sie flogen regelrecht in die Korridore der Tore, nahmen gleich die
Passage in die Asiatische Node und kamen ganz außer Atem in dem riesigen,
unterirdischen Komplex an.
»Und jetzt?«, fragte Ras Algheti. »Wir sollen
doch einen Stern suchen, oder so. Gibt es hier einen Stern? Außer
dem Pentagramm von PAGAN dort oben in der Kuppel?«
Sie blieben inmitten der gut besuchten Node stehen und sahen empor
zu dem metallisch glänzenden Symbol im Scheitelpunkt.
»Sucht den Stern 3 / 6. Den dritten von Sechs?« Antigua
sah von dem Papier auf.
»Hm.« Bat Furan stemmte die Händen in die Hüften
und besah sich die unzähligen Eingänge der Korridore auf dem
Aufgang, der sich spiralförmig weit nach oben zog.
»Lasst uns mal den dritten Stock und den sechsten Flur ausprobieren,
die sind ja durchnummeriert.
Gesagt, getan.
»Soll das diese riesige sternförmige Lampe am anderen
Ende sein? Aber da ist doch keine Passage mehr«, wunderte sich Tigris,
während sie auf das leuchtende Kunstwerk aus Tiffany-Glas zueilten.
Bat Furan und Ras Algheti untersuchten die Lampe eingehend.
»Wie? Acht Packungen Party-Strohhalme?« Bat Furan staunte
nicht schlecht über das, was er hinter dem Glas hervorzog.
»Hier ist noch etwas«, meinte Ras Algheti und förderte
drei eingerollte Zettel mit jeweils einem Kreuzwort-Rätsel sowie drei
Stiften zutage.
Sie kauerten sich unter die prachtvolle Lampe und brüteten
wieder einmal über einem Rätsel, während hin und wieder
chinesische Xendii aus den Passagen ihrer Gemeinschaften kamen und sie
erstaunt ansahen.
Die Sache wurde durch merkwürdige Fragen erschwert, in denen
der eigenartige Humor der DiSMaster durchschien. Nach mehr als einer halben
Stunde saßen sie immer noch über den Rätseln, während
Celestine Yoga machte und im Lotus-Sitz meditierte.
»Blauer Katermacher?«, fragte Antigua mit erhobener
Braue.
»Oh, es kann nur das höchst ekelhafte Gebräu namens
Blue Curacao sein«, meinte Darius angewidert.
»Und was sie wohl mit ›Abstellfläche für vier Buchstaben‹
meinen?«, wunderte sich Tigris.
»Keine Ahnung. Aber ich habe das erste Lösungswort bald
heraus, glaube ich«, verkündete Antigua. »Zumindest YURT
. N«
»Yurten? Die gibt’s in der Mongolei, denke ich«, überlegte
Ras Algheti.
»Dann ist Dzavchan vielleicht eine Stadt dort«, meinte
Darius. »Das habe ich jedenfalls bei diesem Rätsel heraus.«
»Ha, Dzavchan«, rief Bat Furan stolz. »Das ist
ein Fluss in der Mongolei. Aévon hat doch letztens erwähnt,
dass seine Lieblingssippe dort ihr Lager aufgeschlagen hat. Wir müssen
also wieder zurück in die Mongolei.«
»So langsam kommen wir also in Fahrt«, meinte Tigris
und sah auf ihre Uhr. »Mein Gott, erst kurz nach fünf Uhr Morgens.
Weiß jemand, was ALTANSAR sein könnte?
»Noch nicht«, antwortete Darius. »Aber ich schlage
vor, wir gehen schon einmal in die Node.«
Augenblicklich sprangen sie hoch und machten sich schleunigst
wieder auf den Weg hinunter ins Erdgeschoss zu den elf riesigen Toren zu
den anderen Noden.
»Das ist au’ noch nie in der Geschischte der Noden vorgekommen«,
meinte Celestine nachdenklich und betrachtete die Ebenholz-Portale. »Alle
Tore in die Doméns der e’maligen RSA sind geschlossen.«
»Was ja auch besser ist. Die spinnen doch«, grollte
Antigua.
»Einige spinnen«, korrigierte Celestine ernst. »Die
anderen müssen diese Spinnereien ertragen. Es ist sehr schwer geworden,
denjenigen zu ’elfen, die gerne von dort weg möschten. Oder wegen
ihrer Meinung sogar von dort unbedingt weg müssen. Auch das fällt
in den Aufgabenbereisch von eusch zukünftigen DiSMasters.«
»Mit Vergnügen!«, knurrte Bat Furan entschlossen
und schritt als erster in die Node von Altai-Siberia.
Tigris und die anderen Windwibbs sahen sich in der Höhle um.
Im Vergleich zur monumentalen asiatischen Node, aus der sie gerade gekommen
waren, sah diese überraschend schlicht und fast winzig aus. Der Boden
war aus glitzerndem Sand, die Felswände wirkten auf den ersten Blick
unbearbeitet und roh. Die Durchgänge zu den anderen sechs Noden PAGANs
machten den Eindruck von finsteren Höhlen, während die
Passagen zu jenen auf den Gebieten der ehemaligen RSA vom nackten Fels
nicht unterscheidbar waren, hätten nicht ihre Namen in Augenhöhe
auf dem Felsgestein gestanden, eingefräst mit schwach glühenden
Lettern in Königsblau. Auf diese Weise waren stilisierte Bildnisse
von Menschen und Tieren überall in das Felsgestein graviert worden,
gleich Höhlenzeichnungen. Der serpentinenartige Weg, der sich zum
Scheitelpunkt empor wand, war mit bunt bemalten Holzgeländern gesichert.
In regelmäßigen Abständen hing ein Bären- oder Hirschfell
an der Wand, das nur selten zurückgeschlagen wurde, wenn ein Xendi
dann und wann aus einer Passage heraustrat und in die nächste ging.
Es herrschte geradezu andächtige Stille in Altai-Siberia, untermalt
von den manchmal knackenden Feuern der Fackeln überall an den Wänden.
Ras Algheti wagte daher gar nicht laut zu sprechen, obwohl er eine
erfreuliche Entdeckung machte. »Hier sind die Tore anscheinend nach
Flüssen und Gebirgen benannt, guckt doch auf die silbernen Tafeln
über den Fellen.«
Tatsächlich, neben Kyrillisch standen auch in lateinischen
Lettern Namen auf den Tafeln und verrieten ihnen, dass eine Passage zum
Fluss Dzavchan sich im zweiten Stock befand.
Ohne weiter Zeit zu verlieren, beschritten sie die Serpentine und
verschwanden hinter einem Fell.
In den nächsten Augenblicken fanden sie sich in einer großen,
länglichen Blockhütte wieder und schauten nicht weniger neugierig
drein als einige Karten spielende Kinder, die augenblicklich innehielten
und mit glänzenden, schwarzen Augen zu ihnen herübersahen.
Im Raum war es dank eines zylinderförmigen Ofens kuschelig
warm, und breite, freundliche Gesichter lächelten sie an, ohne sich
jedoch beim Teetrinken an den acht niedrigen Tischchen weiter stören
zu lassen.
»Ögl nij mend churgeje«, sagte Cely zur Begrüßung,
was mit gelassenem Murmeln beantwortet wurde.
Eine ältere Mongolin in bunter Filzjacke hieß eines der
Kinder aus dem Zelt zu eilen, während zwei andere, jüngere Frauen
mit einladender Geste auf eines der Tischchen wiesen, an dem die Männer
enger zusammenrückten, um den Gästen Platz zu machen.
Da Cely sich ohne zu zögern dazusetzte, taten es ihr die Jugendlichen
nach.
Nur zwei Minuten später tauchte ein Junge ihres Alters auf,
der sich ohne Umschweife zu ihnen gesellte und sie auf Englisch ansprach.
»Guten Morgen. Ich bin Ganbold, euer Reiseführer. Wie
geht es euch?« Er lachte sie mit blendenweißen Zähnen
an, die wie alles an ihm robust und durch und durch gesund aussahen. Seine
schwarzen, kurzen Haare steckten unter einer dunkelblauen Schirmmütze,
dazu trug er eine alte, abgewetzte Lederjacke und eine braune, weite Wollhose.
»Na ja, wir sind etwas müde, aber da müssen wir
durch«, erklärte Ras Algheti. »Aber vor allem müssen
wir nach Alt- äh, wie hieß das noch einmal?« Er wandte
sich mit fragendem Blick an Tigris, doch Ganbolds Strahlen wurde durch
das Erwähnen der mongolischen Silbe noch größer, als es
schon war. »Doch nicht etwa zur Sippe Altinsar? Na, die werden sich
freuen. Können jede Hand gebrauchen. Sind erst gestern an ihrem Weideplatz
angekommen. Hier, Kumys.« Er nahm einer Frau, die zu ihrem Tisch
getreten war, einen ledernen Schlauch ab, der in seinen Händen gluckste
und goss ungefragt eine milchige Flüssigkeit in die Gläser, die
im Nullkommanichts von flinken Händen bereitgestellt wurden.
»Ähm, ja. Kumys.« Bat Furan beäugte misstrauisch
das fremde Getränk, dessen Schaumkrone nur langsam niederging.
Cely, die anscheinend schon öfters zu Gast in mongolischen
Sippen gewesen war, leerte ihr Glas in einem Zug und leckte sich genießerisch
über die Lippen. Dies schien den Jugendlichen ein gutes Zeichen zu
sein, und so probierten sie vorsichtig davon.
Tigris erschauerte wegen des salzigen Geschmacks, ließ sich
aber nichts anmerken.
»Ja, nicht schlecht. Erinnert mich entfernt an Buttermilch«,
sagte Antigua lässig, schüttelte jedoch heftig den Kopf, als
Ganbold nachschenken wollte.
»Ich mag kein Kumys. Komisch, warum Touristen das immer unbedingt
trinken müssen«, meinte er nachdenklich, doch dann erhellte
sich sein gutmütiges Gesicht wieder durch das schelmische Grinsen
und er beugte sich etwas zu ihnen vor, obwohl sonst niemand im Raum Englisch
zu sprechen schien. »Wann findet denn endlich das Motorrad-Rennen
statt? Andauernd fragen mich meine Freunde, ob ich etwas weiß.«
»Wenn nix schief geht, an Medyastas, da fällt es nischt
so auf, wenn ’underte Leute nach Sibirien ge’en«, antwortete Cely
amüsiert. »Aber Aévon wird es noch bekannt geben, Ganbold.
Du ma’st wieder mit, oder?«
»Dsa! Natürlich. An Mittsommer also. Gut. Wollt ihr noch
mehr Kumys? Oder Frühstücken?«
Doch die Windwibbs und Darius schüttelten entschieden die Köpfe.
Besonders Bat Furan wollte keine Zeit verlieren und so schnell wie möglich
den ›Beweis‹ und das nächste Rätsel in die Finger kriegen.
Sie verließen die Blockhütte, die an einem großen
Fluss stand, der sich behäbig durch hügeliges Grasland wälzte.
Es war früher Morgen und Nebelschwaden zogen mit dem Wasser flussabwärts.
In einiger Entfernung von der Holzbehausung standen mehrere der typischen
Mongolen-Jurten, von denen sich die größte als ›Bahnhof‹ erwies,
von wo aus man alle Gemeinschaften erreichen konnte, die irgendwo am Fluss
Dzavchan lagerten.
»Was für ein Xendium hast du eigentlich?«, erkundigte
sich Bat Furan bei Ganbold, bevor er in die Finsternis trat, die hinter
einem bunten Stoffvorhang an der leinenen Jurtenwand auf sie wartete.
»Tengri geruhte, mich mit dem Wandler-Xendium zu beschenken«,
lachte er. »Und dann geruhte Er, mich beim letzten illegalen Motorrad-Rennen
mit dem Sieg zu beschenken. Vielleicht tut er es diesmal wieder. Fährst
du auch?«
»Hm. Das wäre eigentlich genau das Richtige für
mich«, überlegte Bat Furan, der niemals eine Herausforderung
scheute.
»Wenn du gebrochene Arme und Beine und vor allem das Fliegen
magst, dann bestimmt. Es ist wie dieses Ritterturnier in euren Geschichtsbüchern.
Nur mit Motorrad.«
Auf der anderen Seite kamen sie erneut in einer Jurte heraus, die
sie gleich verließen.
Die Sippe Altinsar hatte sich für ein Lager an einem
See entschieden und alle - ob alt oder jung, waren dabei, die Jurten zu
errichten und vor allem in die bereits fertigen Behausungen Kisten, Decken,
Tischchen und Kartons zu schleppen.
Offenbar hatte man die Gäste schon erwartet, denn kaum waren
sie aus dem Zelt getreten, kamen freudig lachend ein Schwarm Frauen und
Mädchen auf sie zu und führten sie sogleich zu verschiedenen
Holzwägen und Jeeps, die noch vollbeladen dastanden und sehr nach
viel Arbeit aussahen.
Doch wie hatte Aévon gemeint: Die ›Beweise und das nächste
Rätsel‹ gab es nur, wenn man den Leuten, bei denen man aufschlug,
einen Gefallen erwies.
Und daher packten sie ohne Murren tüchtig mit an. Bat Furan
und Ras Algheti ließen sich sogar in die Kunst des Jurtenbauens einweihen,
in der es unter anderem darum ging, scherenförmige Gitter zu einem
Kreis zusammenzufügen und sie mit Tierhäuten, Filz und Leinenbahnen
zu bespannen.
Man verständigte sich mit Händen und Füßen,
und die Stimmung war prächtig.
Nach eineinhalb Stunden kam Ganbold mit einem alten Mann und sammelte
sie reihum ein, um sie in eine der ofenbeheizten, fertig errichteten Jurten
einzuladen.
Dort gab es neben dem unvermeidlichen Kumys und Tee noch Brotfladen
mit gebratenem Fleisch - und ein wenig Konversation, die vor allem von
Cely bestritten wurde.
Das Sippenoberhaupt der Altinsar wollte vor allem alles über
den Stand der Dinge in Sachen Rosenstern-Allianz und Umbriel wissen, und
Cely gab ihm ausführliche Antworten, die Ganbold übersetzte.
Doch immer wieder kehrten die dunklen Augen, kaum mehr als enge
Schlitze, zu Tigris zurück und studierten sie eingehend.
Dann richtete er unvermittelt mit Hilfe Ganbolds das Wort an sie.
»Guaj Chuluun möchte gerne mit dir sprechen. Alleine.«
.
Umbriels Höhenflug endete mit dem ersten Zittern, das sich in
seinen Knien bemerkbar machte, und innerlich schmolz sein rauschartiges
Triumphgefühl in Sekunden zusammen, hinterließ nichts als nackte
Furcht und Besorgnis.
Und während Adhara begann, mehr über die Teufelsanbeter
PAGANs zu erzählen, verlor sich der Seher und Prophet in seinen geheimen
Gedanken, die ausschließlich um seinen Meister kreisten, der seit
langen Wochen wie von dieser Welt verschwunden zu sein schien - sooft hatte
Umbriel ihn mithilfe des Teppichs herbeizurufen versucht, doch ohne Erfolg.
Hatte er einen schwerwiegenden Fehler begangen, für den er
bald bezahlen musste? Er war sich keiner Schuld bewusst, hatte sogar wie
befohlen kein Wort über seinen machtvollen Helfer gegenüber den
höheren Dämonen verlauten lassen, die mit der Öffnung der
Tore zu ihrer Welt auf die Erde gekommen waren.
Wieso ließ ihn sein Meister plötzlich im Stich, und das
ausgerechnet jetzt, wo er ihn so dringend benötigte?
Nur er konnte ihm schließlich jenes Elixier zukommen lassen,
das dem Verhängnis des Verstärkten Xendiums Einhalt zu gebieten
vermochte.
Nur Seelenfresser war in der Lage, einem Dämonen die Lebenskraft
auszusaugen und sie einem Menschen mit verstärktem Xendium wie Umbriel
einzuflößen, um ihm damit mehr Zeit zu verschaffen. Doch die
Gabe musste regelmäßig erneuert werden und seit dem letzten
Mal waren vier Monate verstrichen.
Seit einigen Tagen war die innerliche Unruhe und das Brennen in
seiner Seele wiedergekehrt; erneut meldete sich in immer kürzer werdenden
Abständen das Zittern in Händen und Beinen, und schon wieder
griff Todesfurcht nach Umbriels Herzen und seinem Geist.
Aber wieso hatte ihn Bru’jaxxelon verlassen, jetzt, so kurz vor dem
gemeinsamen Ziel?
›Meister, bald wirst du diese Welt in einem Meer von Blut und Hass
versinken sehen, so wie wir es herbeigesehnt hatten. Lass mich nicht sterben!
Nicht bevor die Blutige Mutter mich für würdig befunden hat,
zu ihren Getreuen hinaufzusteigen. Nicht bevor sie mich erlösen wird...‹,
dachte er.
Dann ließ ihn etwas aus seinen Gedanken auftauchen.
Stille.
Kein Geräusch war mehr zu vernehmen, nichts.
Niemand redete, niemand bewegte sich.
Sämtliche Teilnehmer der Versammlung saßen wie eingefroren
da und starrten regelrecht hypnotisiert vor sich hin.
Umbriels Herzschlag beschleunigte sich sofort.
Mit angehaltenem Atem betrachtete er nacheinander die vier Melegonin.
Doch auch sie verharrten regungslos und apathisch stierend in den
Ecken des Raumes.
Das konnte nur die Anwesenheit eines Dämons bedeuten, der mächtiger
war als sie.
»Meister?«, rief Umbriel und erhob sich ängstlich.
Wo war die Kälte, wo die absolute Schwärze, mit der sein
Herr über ihn zu kommen pflegte?
Oder war etwa ein anderer Shinn gekommen?
Umbriel traten Schweißperlen auf die Stirn. Wie sollte er
vor einem machtvollen Kind der Blutigen Mutter sein Bündnis mit Bru’jaxxelon
verheimlichen? Aber Bru’jaxxelon hatte ihm stets eingeschärft, weder
Mensch noch Dämon von ihrer Verbindung zu erzählen. Welch furchtbares
Dilemma!
Dann ertönte eine Stimme direkt hinter seinem Rücken.
Sie klang diesmal seltsam nah - so als ob ein Mensch zu ihm spräche.
»Wie schlecht geht es dir, Umbriel, verrottet und wahnsinnig
wie kein anderes Geschöpf an diesem Tisch und auf der ganzen Welt?«
Umbriel zuckte erschrocken zusammen, als die Stimme seines Meisters
zusammen mit warmem Atem wispernd in sein Ohr drang.
Doch die Erleichterung und die Freude überwogen schließlich.
»Ich bin dein unterwürfiger Diener, Meister. Aber du
scheinst mich zu meiden. Habe ich etwas falsch gemacht, dass du mich verstoßen
hast?«, wagte Umbriel zitternd zu fragen.
»Ich weiß nicht. Hast du?« Bru’jaxxelon klang
spöttisch. »Den Melegonin etwa von deinem über alle Maße
starken Herrn erzählt - entgegen seinen Befehlen? Nicht, dass die
Shinnn und Zerrafin von mir erfahren. Es soll doch eine Überraschung
werden, wenn sie bald diesen Planeten heimsuchen. Ein Familienfest der
besonderen Art.«
»Nein, Meister. Kein Sterbenswort habe ich gesagt, weder zu
einem Menschen noch zu einem Dämon«, stieß Umbriel hervor.
Immer sprach Bru’jaxxelon in diesen Rätseln. Was hatte er denn nur
mit den Zerrafin zu tun, den feindlichen Erzengeln?
»Nun, dann hast du nichts zu befürchten. Und? Gibt es
Neuigkeiten?«
»Die Heerscharen der Kinder der Blutigen Mutter suchen bereits
nach dem Mädchen und dem Amulett.«
»Wie unartig von den Melegonin der Shinnn«, sagte Bru’jaxxelon.
Als er dann fortfuhr zu sprechen, veränderte sich seine Stimme, klang
höher - wie die einer Frau.
Und mit einem Mal trat tatsächlich eine Frau hinter ihm hervor
und stützte sich lässig auf die Schultern der erstarrten Adhara
rechts neben ihm.
Umbriel starrte die Inkarnation seines Herrn verwirrt an. Er hatte
die Gestalt von Phoebe De Navarris angenommen, jener Seherin, die Umbriel
eigenhändig in geheimen Verliesen gefoltert und schließlich
mit über hundert Messerstichen förmlich ausgeweidet hatte.
»Aber keine Sorge. Das Mädchen ist in meiner Nähe,
ebenso wie das Amulett.«
»Dann wirst du es ihr bald abnehmen und endlich alle Tore
öffnen, Meister?«, rief Umbriel freudig aus.
»Ich nehme es ihr dann ab, sobald ich es brauche. Und daher
vernichte ich jeden Daimon, der darauf aus ist, es ihr zu stehlen. Ich
kann diese Einmischung in meine Pläne nicht dulden. PAGAN ist meine
Sache. Das Amulett ist meine Sache. Und ...« Bru’jaxxelon ging weiter
zu Zephyr und ließ seinen langen, schwarzen Zopf langsam durch seine
Hand gleiten. »Ganz besondern das Mädchen ist meine Sache. Ich
kümmere mich höchstpersönlich um dieses ahnungslose, interessante
Geschöpf.«
Umbriel verfolgte jeden Schritt seines Meisters mit großen
Augen.
»Natürlich. Du wirst PAGAN von innen heraus zerstören«,
meinte er begeistert.
»Vielleicht«, erklärte der Dämon und klang
verwirrend nachdenklich. »Wenn es mir beliebt. Darüber befinde
ich später. Zunächst einmal aber genieße ich noch ein wenig
meine menschliche Gestalt, die ich dort angenommen habe. Ja, von Tag zu
Tag gefällt es mir besser, Umbriel!« Die schwarzen Augen erfassten
den Seher und verhehlten ihre Begeisterung nicht. »Ich hätte
nicht gedacht, dass mich überhaupt noch einmal etwas begeistern kann,
aber so ist es. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Anfall von Nostalgie,
ich weiß. Trotzdem werde ich es auskosten, alles. Wie damals.«
»Damals?«, wiederholte Umbriel erstaunt.
»Damals, ja.« Die Erscheinung ging weiter zu Thanatos,
zog
ihn samt Stuhl ein Stück vom Tisch zurück und setzte sich dann
rittlings auf seinen Schoß. »Damals wachte ich über diese
Welt und ihre Geschöpfe. Und es gefiel mir hier. Ich wandelte unerkannt
unter den Menschen, ich lachte mit ihnen, feierte mit ihnen. Ich spürte,
fühlte, atmete, genoss all jenes, was auch sie genossen. Und eines
Tages sogar liebte ich jemanden aus ganzer Seele.« Bru’jaxxelon schmiegte
sich gegen Thanatos’ Brust. »Aber das sind Dinge, die du niemals
verstehen wirst, Umbriel. Er hier schon.« Die Gestalt Phoebes richtete
sich wieder auf und sah Thanatos interessiert ins Gesicht. »Wer hätte
das gedacht, nicht wahr? Obwohl ihr beide der gleichen, grausamen, blutgierigen
Sekte angehört, leuchtet in seinem Herzen doch noch eine winzige,
wärmende Flamme. Und ihr Schein erhellt das Gesicht eines Mädchens
mit silberblonden Haaren. Wie er sich insgeheim nach ihr verzehrt!«
Umbriel lauschte begierig den Geheimnissen, die ihm sein Meister
verriet.
»Thanatos ist also verliebt?«, kicherte er spöttisch.
»Ja, vollkommen und rettungslos.
Sehr interessant, was man nicht alles findet, wenn man ein wenig
in den Seelen stöbert.
Als ich vorhin in seinen Gedanken las, erkannte ich noch jemanden,
der in meiner Nähe bei PAGAN weilt. Ich hatte mich schon gewundert,
wieso auch Thanatos in den Gedanken dieses jungen Mannes zugegen ist -
bewundernde, dankbare Erinnerungen übrigens. Anscheinend kennen sie
sich von früher. Meine Entscheidung, diesen jungen Mann am Leben zu
lassen, erweist sich nun erst recht als goldrichtig. Er kann mir vielleicht
noch nützlicher sein, als er schon ist.
Und was würde Thanatos wohl sagen, wenn er wüßte,
dass ich seine Flamme ebenfalls in den Gefilden PAGANs gesehen habe, nicht
fern von mir? Ich könnte sie ihm sofort bringen, wenn ich wollte und
er würde sehr bald nicht mehr wissen, wo ihm der Kopf steht oder wem
seine Loyalität gelten sollte. Liebe ist so mächtig. Machtvoller
als alles andere.« Die Frauenhand strich sanft über das kantige,
hart wirkende Gesicht. »Die Liebe war sogar in der Lage, einen Shinn
vollkommen zu ändern.«
Langsam fiel die Hand herab und die Miene des Dämons verdüsterte
sich schlagartig. »Ist es nicht erstaunlich? Da wird einem von einem
gütigen, allbarmherzigen Gott gepredigt, von Liebe unter den Geschöpfen
und Mitleid - und im gleichen Atemzug befiehlt er uns, zu töten und
die grausamsten Dinge in Seinem Namen zu begehen. Wie könnte man da
nicht wahnsinnig werden? Um diese Doppelzüngigkeit auszuhalten, muss
man seine Seele und seinen Verstand abtöten, denn sie rebellieren
dagegen. Glücklich hingegen sind die Seelenlosen und Dummen, denn
sie denken niemals nach und werden niemals von Zweifeln geplagt.«
Der Dämon schwang sich von Thanatos’ Schoß und ging weiter
an den mächtigen Menschen der Welt vorbei. »Nichts als verbitterte
Seelen, gierige Herzen, verdunkelte Gemüter, und Erinnerungen an Demütigungen,
Schläge, an Einsamkeit inmitten goldener Paläste. Aber ich weiß
schon lange, dass Bosheit nicht in den Wiegen liegt, sondern erlernt und
erfahren wird. All dieses Gerede von den Ewigverdammten und den Heiligen
Erzengeln: Nichts als Aberglaube. Alleine die Erfahrung und was man uns
beibrachte, macht uns zu sympathischen Geschöpfen. Oder zu verrotteten
Gestalten, wie etwa dich und mich.«
Die Erscheinung seufzte und legte den Kopf schief, um Umbriel eingehend
zu betrachten.
»Aber schau mich doch nicht so verwirrt an, Umbriel. Du magst
weiterhin deiner Mission nachgehen, während ich mich um PAGAN kümmere.
Merkwürdige Dinge gehen dort vor, denen ich auf den Grund gehen muss,
denn sie beschwören die Geister der Vergangenheit hinauf. Wozu nur?
Und wer steckt dahinter?« Gedankenverloren war Bru’jaxxelon bis zu
einem der niedrigen Aktenschränke an der Wand gegangen, auf denen
in regelmäßigen Abständen schlichte silberne Vasen mit
frischen Rosen standen. Der Dämon strich geradezu zärtlich über
die Blütenköpfe - und kaum hatte er sie berührt, gingen
sie nacheinander in Flammen auf. Als hätte er sich an dem Feuer verbrannt,
schnellte seine Hand zurück. Seine Lippen pressten sich vor Verbitterung
zusammen, während er zusah, wie die Rosen von den gierigen, roten
Zungen verschlungen wurden und als Ascheflöckchen ringsum die Vase
niederschwebten.
»Ich erinnere mich an Zeiten, da sie unter meiner Berührung
nicht vor Furcht und Ekel vergingen«, murmelte er mit trauriger,
heiserer Stimme. »Aber nun klebt Ihr Blut an meinen Händen,
und ich kann diesen Hass auf mich und die anderen Schuldigen nicht besiegen,
der sich über mein ganzes Denken und Fühlen gelegt hat wie Schimmel
über eine Frucht.« Dann wandte er sich abrupt von den verbrannten
Blumen ab und kam langsam zu Umbriel zurück, während er nicht
den Blick von ihm nahm und sagte: »In unserem Hass sind wir uns ähnlich,
mein verrotteter Prinz. Er gibt uns Kraft für unsere Rache. Und das
ist es, was wir beide wollen. Rache für ein zerstörtes Leben
und an jenen, die uns so maßlos enttäuscht und verraten haben.«
»Ich will nichts weiter als dass die Blutige Mutter erscheine
und mich segne!«, krächzte Umbriel, überzeugt, dass Bru’jaxxelon
ihn absichtlich verspottete und verwirrte, um seine Glaubensfestigkeit
auf die Probe zu stellen.
»Oh, ich fühle an dir, dass der Fluch der Verstärkten
Xendiums sich wieder an dich herangeschlichen hat. Wäre es nicht schrecklich,
gerade jetzt zu sterben, da du die Menschen im Namen Gottes so vortrefflich
aufeinander hetzen wirst?«
Umbriel schloss getroffen die Augen.
»Das wäre es«, hauchte er. »Lass mich nicht
sterben, Meister. Nur du kannst mich erretten.«
»Für eine gewisse Zeit sicher. Und du bist immer noch
bereit, den Preis von immer mehr Wahnsinn zu bezahlen, der langsam, aber
sicher deinen Verstand verdunkeln wird?«
Umbriel nickte entschlossen. »Mein Leben opfere ich, nur um
der Blutigen Mutter diese Welt vor die Füße zu legen. Drei Jenseits-Tore
stehen offen, du wirst bald alle anderen öffnen und dann zerstören
deine Brüder und Schwestern diese Welt, so wie sie es verdient. Und
wenn Sie herabsteigt, wird Sie ihre treuen Diener erkennen und belohnen.«
»Nun, ich sehe, du bist auch ohne mein Elixier schon wahnsinnig
genug, da spielt es wahrlich keine Rolle mehr.«
Schlagartig verschwand die Frauengestalt, doch alle an dem Tisch
verharrten immer noch in ihrer Starre.
Bestürzt sah Umbriel sich um. Was sollte das bedeuten?
Gerade wollte er sich wieder erheben, da tauchte die Frauengestalt
erneut aus dem Nichts auf. Vor sich her trieb sie einen jungen, blassen
Mann, der mit rotglühenden Seilen aus Aethron gefesselt war.
Freudig überrascht und über alle Maße erleichtert
sank Umbriel zurück auf seinen Sitz, hatte er doch anhand der Aura
erkannt, dass Bru’jaxxelon einen inkarnierten Cherub mitgebracht hatte.
Seine Lebenskraft würde das vernichtende Feuer des Verstärkten
Xendiums für eine weitere Zeitspanne zähmen.
»Was wollt ihr von mir?«, stammelte der Cherub furchterfüllt.
»Ich habe nichts getan. Ich verhalte mich ganz unauffällig und
habe keinem Menschen jemals geschadet, so wie PAGAN es von den Daimons
verlangt. Sie haben mir eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre
gegeben!«
»Schweig!«, gebot Bru’jaxxelon harsch, woraufhin sich
ein weiteres glühendes Band um den Kiefer des Daimons wand und seinen
Mund knebelte. Er schob den Cherub gegen die Wand, und presste sich
eng an ihn, nahm dabei seinen Kopf zwischen die Hände und drückte
seine Stirn gegen die des Daimons. Dieser zitterte zunächst wie Espenlaub,
erschlaffte jedoch bald und starrte die Frauengestalt wie hypnotisiert
an. Die glühenden Schlingen ließen ab von ihm und lösten
sich zu Nichts auf.
Dann begann Bru’jaxxelon plötzlich, den Cherub leidenschaftlich
zu küssen und umarmte ihn dabei fest.
Umbriel beobachtete die Szene mit großen Augen. Das letzte
Mal hatte sein Meister nicht diese unpassende Zärtlichkeit an den
Tag gelegt, sondern seinem Opfer ohne Umschweife die Lebenskraft genommen.
Doch endlich quoll dieses weißblaue Licht zwischen den aneinander
gepressten Leibern der beiden Dämonen hervor, das von der Macht Bru’jaxxelons
kündete: Er vereinigte seine Seele mit der seines Opfers, während
dieses vor Lust stöhnte und offensichtlich die Verschmelzung genoss,
ebenso wie der machtvolle Dämon.
Noch.
Dann begann sich Widerstand in dem Cherub zu regen; sein eben noch
wollüstiges Keuchen geriet zu gequältem Ächzen, das in leises
Wimmern und Jammern überging, während das gleißende Licht
ihn und Bru’jaxxelon einhüllte.
Dies war das Zeichen für Umbriel, sich zu den beiden Dämonen
zu gesellen. Kaum war er an sie herangetreten, da packte ihn Bru’jaxxelon
und zog ihn ebenfalls in seine Arme.
Umbriel schloss die Augen und fühlte es in seiner Brust prickeln
und vibrieren. Endlich jagten die ersten Hitzewellen durch ihn hindurch,
die ihn gleichzeitig vor Schwäche in die Knie sacken und vor ungeduldiger
Erwartung aufseufzen ließen. Neben ihm begann der inkarnierte Cherub
unkontrolliert zu zucken und vor Qual durchdringend zu kreischen, doch
dies steigerte Umbriels Glücksgefühl noch mehr. Sein Tod bedeutete
schließlich eine weitere Spanne an Leben und Stärke für
ihn selber.
Die Wärme wurde intensiver und ließ ihn schwitzen. Brennende
Küsse bedeckten sein Gesicht und seinen Hals, weiche Hände glitten
sanft unter sein Hemd und fuhren forschend und kundig über seine glatte,
makellose Haut.
»So wahnsinnig du auch bist«, wisperte die Frauenstimme,
in der Bru’jaxxelon sprach, erregt. »So wundervoll ist dein Körper.
Wie geschaffen dafür, gestreichelt zu werden.«
Mit einem Mal packte ihn der Dämon am Hemd, drängte
ihn zu dem langen Konferenztisch, an der noch immer starr die Menschen
saßen und leer vor sich hin stierten und warf ihn mühelos mitten
auf den Tisch, um ihn schließlich mit lüsternem Blick zu besteigen.
Umbriel ließ alles passiv und schockiert über sich ergehen.
Was sollte das merkwürdige Verhalten seines Meisters nur bedeuten?
»Was ist mit dir, mein hübscher, verrotteter Prinz?«,
gurrte der Dämon und knöpfte Umbriels Hemd bis zu seinem Bauchnabel
frei. »Oder soll ich lieber die Gestalt dafür wechseln? Ist
es dir so lieber?«
Umbriel fuhr erschrocken zusammen, als mit einem Mal die Gestalt
eines gutaussehenden, bärtigen Mannes mit goldenen Augen schwer auf
ihm lag und sich wollüstig gegen sein Geschlecht rieb.
»Oh, ich weiß, du bewunderst ihn«, erklang eine
Stimme, die haargenau derjenigen von Procyon Zimberdale glich. »Wie
heldenhaft und unerschrocken er kam, um seinen kleinen Sohn den Klauen
eurer Sekte zu entreißen. Einem Tornado gleich. Wie sehr hat sich
der verzweifelte Junge, der du einst gewesen bist, damals gewünscht,
jemand möge ihn ebenfalls auf diese Weise erretten.«
Die Mannesgestalt hielt inne und betrachtete Umbriel aufmerksam.
»Aber nein, diese Gestalt passt dir auch nicht. Ach, Umbriel.
In dir ist nichts, weniger noch als in mir. Nichts als vollkommene Dunkelheit.
In mir sind zumindest noch Erinnerungen an das Licht. Und du liebst niemanden,
nichts und niemanden«, flüsterte die Stimme ihm ins Ohr, so
nah und mit derart warmen, menschlichen Atem, dass sich sämtliche
seiner Nackenhaare aufrichteten. Wie mächtig sein Meister war! Sogar
seine Aura konnte er nach belieben ändern - nachdem sich Bru’jaxxelon
zuvor in Phoebes Gestalt mit jener einer Seherin umgeben hatte, besaß
er nun die Aura eines männlichen Wandlers.
»Ich ...«, stammelte Umbriel, doch der Dämon
verwandelte sich blitzschnell in Phoebe zurück und legte ihm den Zeigefinger
auf den Mund.
»Schscht, ich weiß. Es macht dir nur ein wenig Spaß,
wenn du dabei eine Frau mit dem Messer ausweiden kannst. Dem kann ich leider
nichts Lustvolles abgewinnen. Dann eben wie letztes Mal.«
Die Frauengestalt fiel in sich zusammen und verschwand.
Dafür kroch etwas Pechschwarzes an seinen Beinen entlang, einer
samtigen Flüssigkeit gleich, die bald Umbriels gesamten Körper
bis zum Hals einhüllte.
Es gab einen blendenden Blitz, und der Prediger bäumte sich
mit einem Aufschrei unter der Energie auf, die ihn plötzlich durchfuhr
und ihn in Brand zu setzen schien.
So schnell der Dämon sich mit seinem Innersten verbunden hatte,
so schnell war alles wieder vorbei und Umbriel lag zu guter Letzt schwer
atmend auf dem Tisch, während sich die absolute dämonische Finsternis
in die Ecken des Raumes zurückzog.
»Du solltest dich lieber wieder schleunigst auf deinen Stuhl
setzen, Umbriel«, ermahnte ihn Bru’jaxxelons körperlose raue
Stimme noch amüsiert. »Gleich wachen sie alle auf. Und ich weiß
nicht, was sie dazu sagen würden, wenn du vor ihrer Nase neben den
Tellern mit den Keksen liegst.«
Eiligst kletterte Umbriel vom Tisch, nahm Platz, schloss eiligst
seine Knöpfe wieder und entfernte einige Kleckse Sahne, die zuvor
bei dem Aufprall auf die Edelholzplatte auf seinem Hemd gelandet waren.
Er fühlte sich einerseits vollkommen frisch und gestärkt
- und war doch wieder einmal heillos verwirrt über das rätselhafte
Verhalten seines Meisters.
»Wo war ich stehen geblieben?«, vernahm er mit einem
Mal Adharas Stimme, als sei nichts gewesen. »Ja, der Mensch ist von
Natur aus schlecht und bedarf strenger Regeln, um seine Schlechtigkeit
zu zügeln.«
»Welch eine Heuchlerin«, hörte Umbriel Bru’jaxxelon
verächtlich sagen, doch niemand außer ihm schenkte der körperlosen
Stimme Beachtung, weder die Menschen noch die vier Melegonin in den Ecken
des Saales.
»Ich verrate dir nun ein Geheimnis, das sie vor aller Welt
hütet, Umbriel«, fuhr der unsichtbare Dämon fort. »Sie
hat eine uneheliche Tochter. Ein Wunder, wie so eine freudlose Gestalt
ein so lebensfrohes Geschöpf hervorbringen konnte.«
Unauffällig musterte Umbriel Adhara.
Eine uneheliche Tochter?
Welch ein unerwarteter, interessanter Aspekt.
Und wie auch John Zelazin Jr. beschloss Umbriel, Nachforschungen
anzustellen.
›Ich könnte sie damit erpressen, wenn es erforderlich sein
sollte. Oder aber... falls sie noch Kontakt zu ihr haben sollte ...‹
Umbriel lächelte bei dem lustvollen Gedanken daran, mit einem
Messer voller Ekstase in einen nackten, weiblichen Körper einzustechen
und sich von dem warmen Blut beregnen zu lassen; das zuckende, angstvolle
Herz aus ihm herauszureißen und es lauthals lachend der Blutigen
Mutter zu opfern.
Und alles unter den Augen einer verhärmten, grauhaarigen, dummen
Frau, die dann erkennen würde, wem sie in Wahrheit die ganze Zeit
gedient hatte.
»... der Tag ist nun nah. Gottes Reich ist nah!«, hörte
er Adhara sagen und murmelte mit verzückt geschlossenen Augen: »Ja,
der Tag ist nah. So nah ...«
.
Verwundert räumten die anderen rasch das Feld, bis nur sie,
Ganbold und der alte Mongole beieinander saßen.
»Aévon hat ihm von deinem Anhänger erzählt.
Er würde ihn gerne sehen.«
Tigris war zwar nicht sehr wohl dabei, Fremden das Schmuckstück
zu zeigen, doch da Aévon offenbar großes Vertrauen zu dem
Oberhaupt seiner Adoptivsippe hegte, öffnete sie die Jacke und fischte
das Amulett aus ihrem Sweatshirt hervor.
Die engen Augenschlitze verbreiteten sich für einen kurzen
Moment, dann redete der Alte zu Ganbold und schien gar nicht mehr aufhören
zu wollen.
Sie seufzte unhörbar, betrachtete den Bernstein-Anhänger
- und stieß mit einem Mal ein überraschtes »Verdammt!«
aus.
Ungläubig starrte sie auf die zwölfblättrige kleine
Blüte.
Es leuchteten nun zwei der Blätter tiefgrün.
Und wieder schien sich der Schmetterling bewegt zu haben, das letzte
Mal hatte er sich auf gleicher Höhe mit einem kleinen, eingeschlossenen
Luftbläschen befunden, nun jedoch genau darüber.
»Guaj Chuluun sagt, dieser Anhänger sieht nach einem
Nodenschlüssel aus, obwohl er nicht die Aura eines solchen Schlüssels
hat.«
»Er soll vielleicht eine Art Dreizehnte Node öffnen,
von wo aus man alle anderen kontrollieren kann«, erklärte Tigris
ratlos. »Aber niemand weiß, wo diese Node sein soll. Und ich
weiß nicht, wieso jetzt auf einmal noch ein Blütenblatt leuchtet
und der kleine Schmetterling sich bewegt. Das tut er nämlich hin und
wieder.«
Der Alte beugte sich zu ihr und betrachtete den Bernstein eingehend,
wobei er etwas murmelte.
»Guaj Chuluun findet es bemerkenswert, dass die Blüte
zwölf Blätter hat. Zwölf Noden, zwölf Blätter.
Hast du bisher nur zwei Noden besucht?«
»Nein, wir kommen ursprünglich aus Deutschland und mussten
vor der RSA fliehen. Zu Equinox Veris war ich in den Noden von Europa,
America Borea und Balkan-Osmania. Aber da hat noch keines der Blütenblätter
geglüht.«
»Wann hast du das erste Mal gemerkt, dass sie glühen?«
Tigris überlegte.
»Das erste Mal ist mir die Veränderung in Shangri-La
aufgefallen.«
Der Alte schloss die Augen, wohl um besser nachdenken zu können.
Dann sprach er wieder Ganbold an, der seine Frage an Tigris ohne zu Stocken
übersetzte.
»Als ihr fliehen musstet, hast du da die Node von Asia betreten?«
»Ja, natürlich. Shangri-La liegt ja in der gleichen Gebirgskette
wie die Node von Asia.«
»Und hast du seitdem weitere Noden besucht?«
»Hm. Nein. Außer heute die Node von Altai-Siberia.«
Plötzlich riss sie die Augen auf. Ihr Blick schoss zwischen
dem Alten und dem Schmuckstück hin und her.
Guaj Chuluun blinzelte sie verschmitzt an.
»Soll das heißen, dass mit jeder Node, die ich betrete,
ein weiteres Blatt zu glühen anfängt?«
»Er meint, das ist gut möglich. Und vielleicht noch mehr.
Schließlich sieht er ja nicht umsonst wie ein Nodenschlüssel
aus. Er bittet dich, diese Erkenntnisse Mira mitzuteilen. Er wird ihr noch
eine Botschaft zukommen lassen, in der er ein Experiment vorschlägt.«
»Was denn für ein Experiment?«, wunderte sich Tigris.
»Eines, bei dem derjenige dabei sein sollte, der den Nodenschlüssel
von Asia bereithalten wird sowie eine große Anzahl Kämpfer in
Bereitschaft. Mehr möchte er dazu nicht sagen.«
Der Alte langte in die Tasche seines alten, karierten Sakkos und
übergab Tigris einen gefalteten Zettel.
»Das ist euer nächstes Rätsel. Er wünscht euch
viel Glück. Und ihr sollt bitte Aévon ganz herzlich grüßen.
Und ihr seid herzlich eingeladen zum Naadam-Fest in der zweiten Juli-Woche.«
Ganbold erhob sich und verabschiedete sich von Guaj Chuluun, während
Tigris sich nachdenklich lächelnd verbeugte.
Draußen standen schon die anderen und warteten.
»Rate mal, was der ›Beweis‹ für die Mongolei ist, Tigris«,
sagte Ras Algheti augenrollend, während sie in das Zelt traten, durch
das sie wieder in den Reiseknotenpunkt am Dzavchan gelangten. »Drei
fette Schläuche Kumys für Aévon und alle, die süchtig
nach dem Zeug sind! Und wir dürfen das für die Herrschaften anschleppen!«
Über die Blockhütte ging es zurück in die Node von
Altai-Siberia, wo sie schnell die Serpentine herunter eilten und sich am
Fuß der Node, etwas abseits von ihrer Mitte, in den Sand setzten,
um das nächste Rätsel zu beraten, das Guaj Chuluun Tigris überreicht
hatte.
»Hm«, brummte Bat Furan und las vor. » Oh Darling,
Oh Victoria, du weilst im Land, wo Mel seine eigene Wüste hat. Wo
die Bounty noch heute ankert. Und dort kriegst du auch einen Brainstorm
im Humperdinck Inn.«
»Und ich dachte, ich hätte endlich diese Rätselscheiße
kapiert!«, stöhnte Ras Algheti frustriert, als niemand eine
spontane Erleuchtung zu haben schien.
»Victoria Darling. Mel. Mel Gibson?«, sinnierte Antigua.
»Gibson-Wüste. Kommt mir bekannt vor, aber ich habe vergessen,
wo die liegt. Irgendeine Idee, jemand? Tig?« Bat Furan stubbste die
Geistesabwesende an, die zerstreut mit dem Kopf nickte.
»Meine Damen und Herren, so viele Noden sind doch nicht mehr
übrig. Überlegen wir doch einmal logisch. Asia und Altai-Siberia
fallen weg«, sagte Darius. »Es bleiben Pazifica, Africa, Australia
und Atlantika. Pazifica besteht größtenteils aus Wassern und
Inseln, genau wie Atlantika. Bleiben nur Africa und Australia. Dort gibt
es Wüsten. Und von Afrika weiß ich, dass es dort den Victoria-See
gibt. Vielleicht sollen wir nach Südafrika, Kap Horn oder so.«
»Ich bin für Australien. Mel Gibson ist Australier«,
widersprach Antigua.
»Woher weißt du das denn?«, fragte Bat Furan erstaunt.
»Weil ich damals beim Einkaufen unten im Dorf immer heimlich
die Jugendzeitschriften durchgelesen habe. Deshalb weiß ich ja auch
alles über Sex.«
»Theoretisch zumindest«, schloss Darius amüsiert.
»Richtig. Ich wollte bestens gerüstet sein, um wie du
halb Guulin Kherem zu beglücken«, schoss Antigua seelenruhig
zurück.
»Ich leugne es nicht, Milady. Und ich kann und will mich nicht
vor den Angeboten retten, die man mir zuträgt. Außerdem ist
ein gesundes Sexualleben eine Wohltat für Geist und Seele.«
Seine dunklen Augen blitzten Antigua an, die ihn daraufhin undeutbar
anlächelte.
Irgendetwas ging zwischen den beiden vor, merkte Tigris. Und Antigua
gab schließlich auch unumwunden zu, Darius zu mögen.
Tigris erschauderte und erinnerte sich an die unsichtbaren Hände
von Bru’jaxxelon, die ihren Rücken hinaufgewandert waren, und über
ihre Lippen.
Er genoss also erneut sämtliche Aspekte seines menschlichen
Körpers. Sogar intimsten Körperkontakt scheute er nicht, um seine
Pläne zu verwirklichen.
Dann fielen ihr die Worte des alten Mongolenoberhauptes ein, die
vielleicht ein wenig Licht in das Mysterium des Amuletts gebracht hatten.
›Ein Experiment, bei dem derjenige dabei sein soll, der den Nodenschlüssel
von Asia bereithält und eine Xendii-Armee?‹ Sie überlegte, während
die anderen diskutierten, ob sie die Node von Africa oder von Australia
als nächstes betreten sollten.
Und dann hatte sie die Lösung.
›Aber na klar! Das Amulett sieht nicht nur aus wie die anderen Nodenschlüssel
- es funktioniert vielleicht sogar wie sie! Vielleicht ...‹ Sie musste
tief durchatmen, als sie den Gedanken weiterspann.
»Also, ich wäre für Australien«, verkündete
Antigua. »Das mit Mel haben unsere Schlaumeier von DiSMasters nicht
umsonst mit hineingebaut.«
»Ja, sehe ich genau so«, stimmten Bat Furan und Ras
Algheti zu.
»Tigris? Africa oder Australien?«, fragte Antigua und
störte Tigris aus ihren Überlegungen auf.
»Ich beuge mich der Mehrheit.«
»Sprach der Opportunist und prüfte die Windrichtung«,
spottete Darius, doch Tigris schwirrte immer noch der Kopf von der ungeheuerlichen
Idee, die sich in ihr festgesetzt hatte.
Als Cely, Darius und Ras Algheti schon durch die Node von Australia
gegangen waren, meinte sie plötzlich zu Bat Furan und Antigua: »Wartet
drüben auf mich. Ich habe, äh, mein Armband verloren. Ich komme
gleich nach. Ihr wisst, wir dürfen eine Node nur zweimal betreten
und ich möchte nicht, dass wir wegen mir das Spiel verlieren.«
»Mann, Weiber!«, stöhnte Bat Furan. »Beeil
dich aber. Nur weil wir in der Node sind, heißt das ja nicht, dass
wir wissen, zu welchem Ort in Australien wir gehen müssen.«
»Ich helfe dir suchen«, sagte Antigua und ließ
sich nicht davon abbringen.
Tigris seufzte resigniert. Dann, als sie nahezu alleine in der Node
standen, offenbarte sie der Ruferin die Idee, die ihr durch die Worte des
alten Mongolen gekommen war.
»Bist du sicher?« Antigua sah empor zu dem Serpentinenweg,
wo sich in der dritten Windung vier Wachleute PAGANs mit dem Rücken
zu ihnen standen und sich leise und gestenreich unterhielten.
Antigua schritt zur Mitte des kreisförmig angelegten Bodens
und suchte ihn ab, wobei sie so vorsichtig wie möglich mit dem Fuß
den Sand beiseite schob. Währenddessen ließ Tigris die Wachleute
nicht aus den Augen.
»Hier ist es«, flüsterte die Ruferin und Tigris
wandte den Blick nach unten.
Antigua hatte eine helle Steinplatte freigelegt, in die ein Pentagramm
eingraviert war, wobei das Fünfeck in der Mitte noch tiefer als die
Seiten eingefräst schien.
Etwas regte sich in dem Amulett.
Tigris nahm es als Ziehen daran wahr, während der Anhänger
sich spürbar erwärmte.
Mit angehaltenem Atem ging sie vor der Steinplatte in die Hocke
und wog das Amulett in ihrer rechten Hand.
Ja, es konnte möglich sein!
Die Größe stimmte.
»Du hast doch hoffentlich nicht das vor, wovon ich glaube,
dass du es vorhast?«, wisperte Antigua mit nervösen Blicken
zu den Wachleuten.
»Nein, bin ich denn verrückt? Ich wollte nur sehen, ob
es theoretisch überhaupt ginge und-«
Sie verstummte erschrocken.
Das Amulett war ihr aus der Hand gesprungen und schoss in Richtung
der Markierung, zerrte wie ein jagdlustiger Hund an der Kette.
Und wie damals bei Spika gelang es Tigris selbst mit der größten
Kraftanstrengung nicht, es zu bändigen, im Gegenteil.
Als hätte sie jemand von hinten geschubst, riss es sie aus
den Hockstellung nach vorne, so dass sie bäuchlings auf dem Sand landete.
Und immer noch unterhielten sich die Wachleute prächtig und
nahmen keinerlei Notiz von dem Gewisper und den ungeheuerlichen Vorgängen,
die sich unten in der Node abspielten.
»Verdammt, Antigua! Das Ding will unbedingt in die Markierung!
Zieh mich hoch! Zieh!«, wisperte Tigris voller Panik.
»Meine Güte, haben wir Glück, dass diese Wachleute
Plaudertaschen sind! Mann, Tigris, wenn sie sehen, wie wir uns an dem Nodenschloss
zu schaffen machen!«, zischte Antigua furchterfüllt und versuchte
Tigris, von der Platte fortzuziehen.
Doch anscheinend konnte keine Kraft der Welt mehr das Amulett davon
abhalten, sich auf die Markierung zu legen.
»Oh nein! Nein!«, hauchte Tigris, als es vor ihrer Nase
geradezu provozierend langsam zu Boden schwebte, genau über dem Pentagramm
des Nodenschlosses.
Tigris legte im letzten Moment die Hand auf die Markierung, in der
Hoffnung, das Schlimmste verhindern zu können, doch sie hatte die
Rechnung ohne das Amulett gemacht.
Es war inzwischen so heiß, dass Tigris sofort die Hand wegziehen
musste.
Alles spielte sich in nur wenigen Momenten ab.
Ohne ein Geräusch fügte sich der Anhänger in das
vorgeformte Bett.
Jenes Blatt, das als zweites grün zu glühen angefangen
hatte, wurde erst tiefblau und dann glühend rot.
Antigua schlug sich entsetzt die Hände vor den Mund und schaute
verzweifelt umher.
Die schwach blauen ›Höhlenzeichnungen‹ begannen ebenfalls rot
zu glühen, während die Luft im Bereich der Kuppel wie wild
zu flirren begann, begleitet von einem sehr leisen, bedrohlichen Grollen
aus den Tiefen der Erde.
Zum ersten Mal sahen Tigris und Antigua einen der Wachleute einen
Blick zu den Seiten werfen, die Augenbrauen befremdet gerunzelt.
›Und schon wieder eigenmächtig gehandelt und nicht auf Leute
gehört, die es besser wissen‹, raunte Bru’jaxxelons Stimme durch Tigris’
Geist.
Auch das noch! Das hatte ja noch gefehlt. Ihr traten die Tränen
in die Augen, während sie verrückt versuchte, an der Kette zu
ziehen und das Amulett dadurch aus dem Nodenschloss zu reißen.
›Ja, das kleine Ding war auch nicht für sterbliche Hände
gedacht wie die anderen Nodenschlüssel. Ich fürchte, ein Kenner
muss ans Werk.‹
Kaum hatte er geendet, flog der Bernstein-Anhänger in die Höhe,
und Tigris rollte sich geistesgegenwärtig vom Nodenschloss fort.
»Was macht ihr da unten?«, brüllten die Wachleute
plötzlich und schossen auch schon den Serpentinenweg entlang.
Noch zitternd vom Schock, rappelte sich Tigris langsam hoch.
Als wäre nichts vorgefallen, baumelte das Amulett wieder auf
ihrem Sweatshirt. Lediglich das zweite Blütenblatt glühte blau,
im Gegensatz zu dem ersten, das schwach grün leuchtete wie seit dem
Tag, als Tigris die Veränderung bemerkt hatte.
Der Spuk war vorbei.
Die beiden Mädchen sahen sich um.
Das Glühen der Symbole an den Felswänden war schon erstorben,
als die Wachleute endlich bei ihnen ankamen, und auch das unheimliche Grollen
hatte schlagartig geendet.
Antigua fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht,
unendlich erleichtert, aber auch immer noch verdattert über die Vorgänge,
deren Zeuge sie vor wenigen Momente gewesen war.
»Wir wollten nur sehen, wie ein Nodenschloss aussieht. In
Natura, nicht nur auf den Bildern unserer Lehrbücher«, erklärte
sie hastig.
»Und wieso hast du dich in der Nähe des Nodenschlosses
im Sand gewälzt?«, verlangte der russische Xendii von Tigris
zu wissen. Misstrauisch sahen die vier Männer die beiden Mädchen
an.
»Ich ... ich hatte einen Migräneanfall. Das kommt manchmal
vor. Doppeltes Xendium, na ja«. Sie zuckte hilflos mit den Schultern.
»Oh ... das tut mir leid. Ich meine ...« Der grimmig
aussehende, bullige Mann sah betreten drein. Dann räusperte er sich,
klopfte Tigris mit einem hilflosen Lächeln auf die Schulter und schritt
mit seinen Kollegen wieder davon.
Tigris fing noch einen mitleidigen, über die Schulter geworfenen
Blick von ihm auf, dann stupste sie Antigua an und stürmte so schnell
es ging in die Node von Australia.
»Bin ich froh, dass das noch einmal gut gegangen ist«,
stöhnte Antigua, kaum dass sie auf der anderen Seite waren.
»Bestimmt nicht so froh wie ich«, knurrte Tigris kurzangebunden
und war froh darüber, dass die Ruferin nicht weiter nachhakte. Es
war schon schwer genug, sich selber eingestehen zu müssen, dass -
warum auch immer - Bru’jaxxelon die Öffnung der Noden verhindert hatte.
Drüben in Australia warteten die anderen.
»Wo ist eigentlich Darius?«, fragte Tigris sofort.
»Auf der Toilette, wo soll er sonst hin sein?«, brummte
Ras Algheti.
»Ha!«, entfuhr es Tigris ungewollt. Natürlich,
wie sonst auch hätte er sich unbemerkt zurück in die Node von
Altai-Siberia schleichen sollen?
»Wir wissen übrigens, in welche Stadt wir müssen«,
sagte Bat Furan triumphierend grinsend und wies mit dem Kinn auf die weißen
Wände der modern aussehenden Node. Dort hingen Bilder von den Sehenswürdigkeiten
und Besonderheiten Australiens: Neben dem Ayers Rock, einem Aborigene mit
Didjeridoo und einer Känguru-Horde gab es da unter anderem auch die
Abbildung eines Segelschiffes.
Und darunter stand: Nachbildung der ›Bounty‹ im Hafen von Sydney.
»Wir müssen also in den Hafen von Sydney«, überlegte
Antigua. »Und das ›Humperdinck Inn‹ finden, was sich nach einer Kneipe
anhört.«
»Wobei ich hoffe, dass ein Brainstorm etwas Leckeres zu trinken
ist«, seufzte Bat Furan. »Und nicht wieder so etwas komisches
wie Kumys.«
© I.S.
Alaxa
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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