Lynn klammerte sich verbissen an den ledernen
Sattel und ihre Augen tränten vom kühlen Wind, der ihr um die
Ohren wehte.
Unter ihr streckte sich der nachtschwarze
Rappe Cartago im Galopp. Hinter ihnen hörte Lynn das Schreien und
Kreischen der Dorfbewohner. Sie kniff die Augen zusammen, lehnte sich noch
weiter über den Hals des Hengstes und gab Cartago die Zügel.
Das Pferd hatte gehetzt die Ohren angelegt
und seine eisenbeschlagenen Hufe klangen dumpf auf dem Kopfsteinpflaster
der Straßen.
Lynn spürte den angenehmen Druck ihrer
Matrix, die sie um den Hals trug. Ein seidenes Lederbeutelchen umschloss
den blauen Stein, der sich darin befand.
Lynn unterdrückte den Reflex, sie schützend
zu umfassen, und dachte kurz an ihren toten Vater, der sie ihr geschenkt
hatte. Es war an ihrem dreizehnten Geburtstag gewesen und Lynn hatte nichts
von seiner tödlichen Krankheit gewusst!
"Oh Vater...!"
Trauer überwältigte Lynn, die sie
aber verdrängte. So etwas hatte jetzt keinen Wert. Der Scheiterhaufen
drohte ihr und dies war es nicht wert, jetzt auch noch ihr Leben aufs Spiel
zu setzten.
Lynn spürte das zitternde Atmen des Hengstes.
Lynn stöhnte auf und blickte sich um. Die Dorfbewohner waren weit
zurückgefallen, doch bald würden die Gesetzeshüter zu Pferd
sie verfolgen! Lynn wandte den Blick wieder nach vorne und trieb Cartago
voran. Sie musste soviel Abstand wie möglich zwischen sich und die
Dorfbewohnern bringen.
Das Atmen des Hengstes war nun nicht mehr
als ein Keuchen und seine Muskeln zitterten von der Überanstrengung.
Hufe klapperten hohl auf hölzernem Untergrund,
als Lynn mit ihrem Hengst über die Dorfbrücke davon galoppierte.
Die Dorfbewohner blieben stehen und keuchten
wie das Pferd unter Lynn. Sie hatten erreicht was sie wollten. Sie hatten
die Brut des Teufels aus dem Dorf vertrieben. Um den Rest würden sich
die Gesetzeshüter kümmern.
Begleitet von dem Klang knackender Äste
brachen Pferd und Reiter in den Wald ein. Jetzt, nach Sonnenuntergang,
war es dort noch dunkler als Lynn es in Erinnerung gehabt hatte. Nur der
Mond spendete spärlich Licht durch das dichte Blätterdach.
Lynn ritt weiter, ohne das Tempo zu veringern.
Noch war es zu riskant, stehen zu bleiben oder auch nur langsamer zu werden!
Der Mond hatte schon seinen Höchststand
überschritten, als Lynn endlich das schwankende Pferd durchparierte.
Sie sprang ab, um Cartago das Stehen zu erleichtern,
und für ein paar Sekunden wurde ihr schwarz vor den Augen.
Das Pferd schwitzte und dampfte in der kalten
Januarnacht. Lynn legte ihren langen Mantel aus Wolfsfell ab und warf ihn
dem Pferd über die Nieren. Cartago schnaufte und hustete vor Überanstrengung,
doch Lynn zwang ihn am Zügel unbarmherzig weiter. Eine Pause würde
sie teuer zu stehen kommen!
Lynn selbst war von dem langen Stehen im Sattel
beansprucht und quälte sich mit nachgezogenen Schritten weiter. Sie
überlegte im Gehen, wie es jetzt mit ihr weitergehen sollte... Verstoßen
und gehetzt wie ein Hund. Kein wünschenswertes Leben.
Lynn schüttelte mit einer abwinkenden
Geste den Kopf und schlürfte weiter, Cartago hinter sich her ziehend.
Die Sonne ging bereits auf und Lynn hielt endlich
an, in dem Rhythmus, den Pferd und Reiter nach einer Zeit innehatten.
Cartago trat dem Mädchen in die Fersen,
als sie so abrupt stehen blieb. Er hatte schon fast im Gehen die Augen
geschlossen und geschlafen!
Lynn fluchte gedrungen und ließ sich
mit einem erschöpften Seufzer zu Boden gleiten. Ihr Rücken war
gegen eine große Eiche gelehnt und die Hände bargen nur noch
schlaff die Zügel des schwarzen Hengstes in ihrer Hand. Dieser war
trocken und sein Atem hatte sich beruhigt.
Lynn schlief auf der Stelle ein und Cartago
zupfte abwesend an ein paar Grashalmen, die aus dem dichten Herbstlaub
lugten. Dann döste auch der Rappe ein wenig.
Lynn erwachte. Sie stöhnte vor Schmerz
auf und streckte ihre kalten und verknoteten Muskeln. Es begann leicht
zu regnen und graue Wolken bedeckten den Himmel.
Cartago stand ein wenig abseits und reckte
versuchsweise den Hals, um an einen verkrüppelten Apfel zu kommen,
der noch am Baum hing.
"Du hast Hunger, nicht wahr?!"
Lynn stand vorsichtig auf, streckte sich erneut
und schritt zu Cartago. Der Hengst hatte immer noch den Sattel auf dem
Rücken und das Mädchen durchsuchte die am Sattel befestigten
Satteltaschen.
Die Ausbeute war spärlich. Ein kleiner
Vorrat an Trockenfleisch, Trockenobst, eine lederne Bota mit Wasser und
ein paar Kupfermünzen. Lynn schlug die Hände über dem Kopf
zusammen... Wie sollte sie davon leben?! Ihre Gedanken schwirrten verwirrt
durcheinander und sie versuchte das Chaos zu ordnen. Der Bestand war festgelegt,
doch sie hatte sich in der Verfolgungsjagd heillos im Wald verirrt.
Lynn hatte viel von ihrer Mutter gelernt.
Unter anderem auch, wie und wo man Essbares in einem Wald fand...
Sie ergriff die Zügel und machte sich
auf den Weg. Ihre Augen suchten den Wald ab.
Die Suche verlief ausreichend gut, so dass
sie sich ein Abendessen davon zubereiten konnte. Die Sonne war untergegangen
und der Mond lugte neugierig hinter dem Horizont hervor.
Sie hockte sich auf feuchtes Moos und holte
die Matrix in ihrem Beutelchen hervor. Der Stein in seiner goldenen Fassung
glühte blau und die sich darin bewegenden Linien.
Es war Lynn als versinke sie mit ihrer Seele,
als sie in den Stein hineinblickte. Schon oft hatte sie es gespürt,
doch noch nie so intensiv.
Lynn ließ erschrocken den Stein fallen
und die aufgebaute Verbindung zerbrach. Was sie zurückbehielt waren
Kopfschmerzen.
Ihre Hände zitterten ein wenig als Lynn
den Stein aufhob und wieder unter ihrem Umhang verschwinden ließ.
Kurz darauf schlief sie fröstelnd ein.
Lynn erwachte schon in der Frühe. Ihre
Kleidung war klamm und durchgeweicht, ihre Füße waren einzige
Eisblöcke und in ihren Haaren verfingen sich Moos und Kletten.
Sie schlang die Hände wärmend um
sich. Ihr Aufbruch war so überstürzt gekommen, so dass sie sich
keine Kleidung ersatzweise hatte einstecken können! Fluchend schritt
sie zu Cartago, der grasend an einer Tanne stand.
Sie ritt den gesamten hellen Tag hindurch.
Am Abend suchte sie sich einen trockenen Platz
unter Tannen. Das Wasser, das ihr über den Tag noch geblieben war,
war brackig und musste weggeschüttet werden. Lynn fing den Regen mit
Blättern auf und musste dem Pferd davon noch einen Teil geben!
Eines Morgens erwachte Lynn und bemerkte sofort,
dass etwas nicht stimmte! Cartago schnaubte unruhig und schlug nervös
mit dem Schweif.
Sie stand auf und trat zu ihrem Rappen. Er
prustete aufgebracht durch die Nüstern.
"Was ist los?"
Ihre Stimme klang besorgt. Lynn band Cartago
los und führte ihn ein Stück. Das Pferd beruhigte sich nicht!
Jetzt wurde auch ihr unwohl und Lynn sattelte auf und ritt los.
Nervös flohen ihre Blicke umher. Ihre
Knie klammerten sich fest an das Sattelpolster. Das Pferd unter Lynn trippelte
beunruhigt.
Plötzlich; knacken von Ästen; rascheln
von Laub; schnelle Schrittfolge auf gedämpftem Boden. Cartago scheute
und stieg, als fünf Männer aus dem Wald brachen. Mützen
waren tief in die Stirn gezogen und sie umkreisten Lynn ohne Entkommen.
Es ging alles sehr schnell. Ein Mann umfasste
blitzschnell den Zaum Cartagos und ließ ihm nur noch im hinteren
Teil Spielraum. Zwei weitere Männer drückten das Pferd am Rumpf
von zwei Seiten zusammen und die restlichen 2 rissen Lynn mit voller Wucht
vom Pferd. Ihr Schrei ging im ängstlich Wiehern Cartagos und dem Brüllen
der Männer unter.
Plötzlich spürte Lynn wie sie von
etwas vollkommen eingenommen wurde und es überwog ihre Angst. Wie
von einer fremden Kraft geleitet befreite sie ihren rechten Arm problemlos
und zog die brennende Matrix aus ihrem Ausschnitt. Der blaue Stein schrie
nach Macht, nach Schmerz, nach Vergeltung.
Lynn konnte ihn nicht kontrollieren und sie
stemmte sich mit großer Verzweifelung gegen die Welle der Kraft,
die die Matrix benutzte, um sich ihrer zu bemächtigen.
Um sie herum entfachte ein reißendes
Inferno aus eisigen Flammen, die an Kleidungen, bloßer Haut und Haaren
leckten. Sie züngelten um die Männer, die mit lauten, schmerzvollen
Schreien von Lynn abließen und in Panik die Flucht ergriffen. Es
roch nach versengter Haut und verbrannten Pferdehaaren. Lynn merkte, wie
sie den realen Halt verlor und in eine dunkle Tiefe fiel.
Als sie erwachte, schien es ihr, als wäre
nicht eine Minute vergangen. Lynn schrie erschrocken auf, als sie sich
umblickte und die verkohlten Leichen der Männer sah. Cartago stand
ein wenig abseits und leckte sich das offene Fleisch, dass in einem Rahmen
aus versengten Haaren und Haut lag.
Lynn lief ein kalter Schauer über den
Rücken, als sie die gewohnte Schwere an ihrem Hals spürte; ihre
Matrix. Sie war unbeschädigt und immer noch spielten darin die verwobenen
Linien. Auch Lynn hatte keine Verletzungen davongetragen. Der Feuersturm
hatte ein unsagbares Chaos angerichtet. Kleine Bäume waren entwurzelt,
verkohlt und lagen verstreut in der Gegend herum. Der Humusboden war bis
zum letzten Rest abgebrannt, doch nur wo Lynn und Cartago gestanden hatten
bildete sich eine unbefleckte Insel.
Sie stand auf und verpackte die Matrix in
ihrem Beutelchen. Dann schlich Lynn ein wenig ängstlich zu ihrem Rappen,
der mit weit aufgerissenen Augen vor ihr scheute.
Es dauerte einen Tag, bis Lynn wieder weiterreiten
konnte. Immer mit dem Gedanken bei ihrer tödlichen Matrix um den Hals.
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© Liriel
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