Die Zeit der Feuerstürme von Liriel
3. Monat

Lynn blickte verschlafen hinauf zum Himmel. Sie hatte sich in eine dicke Leinendecke gewickelt, die sie aus dem Haus von Gabrielle genommen hatte. Die Sterne standen blass am Firmament und der Mond wich langsam der Sonne, die hinter dem Horizont hervorlugte. Der Himmel färbte sich rot und spiegelte sich in dem frischen Tau wider, der auf den Gräsern lag. Cartago stand ein wenig abseits und graste. Auch er war mit Raureif überzogen.
Lynn erhob sich und fasste reflexartig nach der Matrix, die wie immer um ihren Hals gebunden war. Sie hatte die letzte Zeit wenig gesprochen, da sie allem Menschlichen ausgewichen war. Sie hatte Angst, die Matrix würde jemandem erneut Leid antun, doch es war unvermeidlich, denn ihre Vorräte waren zur Neige gegangen und irgendwo musste sie sich neue beschaffen. Sie hatte sich vorgenommen, dies legal und auf normalem Wege zu tun; mit dem Geld von Gabrielle.
Lynn sattelte Cartago und schwang sich mit einer behänden Leichtigkeit auf seinen Rücken. Sie war in den letzten Wochen und Tagen schnell voran gekommen, denn das neue, saftige Gras und das tägliche Zusatzfutter hatten ihn mit neuer Lebenskraft angereichert. Sein Fell war immer noch dicht und schützte ihn in den Nächten vor dem letzten Winterfrost. Sein Körper strotzte vor Muskeln und seine Ausdauer war unglaublich. Lynn war ihm immer wieder dankbar.
Sie hatte ein schlechtes Gefühl, als sie sich auf den Weg zum nächsten Dorf machte. Sie folgte den eindeutigen Signalen am Horizont, die wie Schwerter in den Himmel stachen. Lynn trieb Cartago mit den Schenkeln an, denn der Hunger nagte in ihr. Kurz legte sie eine Pause ein und nahm ein wenig Trockenfleisch und Früchte zu sich. Kurz bevor sie erneut aufstieg, um weiterzureiten, fiel ihr Cartago auf. Der Hengst stand in einiger Entfernung, hatte den Kopf hochgeworfen, spielte nervös mit den Ohren und blähte lautstark die Nüstern. Lynn trat zu ihm, fasste ihn am Zügel und streichelte ihn über das schwarze Fell unter dem sich die Halsmuskeln abzeichneten.

"Was ist los? Stimmt irgendetwas nicht?"

Genau in diesem Augenblick kam Bewegung in den Hügel vor ihnen. Wollene Schafe kamen Stück für Stück in ihr Blickfeld und rollten wie eine lebende Welle auf sie zu. Cartago scheute kurz, beruhigte sich aber sofort. Lynn blieb stehen und beobachtet, wie sich die Herde fortbewegte. Hunde trieben flüchtende Tiere immer wieder zurück und von weit hinten ertönte plötzlich ein Pfeifen. Erneut spitzte Cartago die Ohren und kurz darauf tauchte ein junger Mann hinter dem Hügel auf. Als dieser Lynn registrierte, führte er in einer fließenden Bewegung die Finger zum Mund und pfiff zweimal lautstark. Die Hunde verharrten einen Moment und kreisten die Herde systematisch ein. Die Schafe waren zum Halten gezwungen und fingen einige Sekunden später an zu grasen. Der junge Mann kam auf Lynn zu. Ein Hund immer an seiner Seite und ein Lächeln lag auf seinen Lippen unter denen weiße Zähne blitzen.
Als er bei Lynn ankam baute er sich vor ihr auf und stemmte die Hände in die Hüften.

"So allein, junge Dame?"

Sie schätzte ihn etwa auf zwei bis drei Jahre älter als sie selbst und wurde auf einmal wütend. Was fiel ihm ein, so mit ihr zu reden, wo er doch auch nicht viel älter als sie war?! Sie blitzte ihn an und wollte etwas erwidern, doch sein Lächeln faszinierte sie. Er war schäbig gekleidet, doch als Hirtenjunge verdiente man nicht viel. Als Lynn keine Antwort gab wurde sein Lächeln nur noch breiter.

"Wohin führt euer Weg?"

Lynn schüttelte kurz den Kopf und wandte den Blick kurz von dem Jungen ab, bevor sie antwortete.

"Ich möchte ins nächste Dorf, um meine Vorräte aufzufüllen."

Seine Augen weiteten sich und er blickte argwöhnisch auf Cartago und seine Satteltaschen.

"Du scheinst schon lange unterwegs zu sein... Komm mit! Ich werde dir den Weg zum Dorf zeigen."

Lynn wollte gerade etwas erwidern, als der Junge sich schon umdrehte und seinen Hunden zupfiff. Etwas verdutzt folgte sie ihm, Cartago am Zügel.

Lynn hatte die Hunde beobachtet und merkte nicht, dass das Dorf immer näher rückte. Die lüsternen Blicke des Jungen aber sehr wohl. Sie fühlte sich unwohl in ihrer Haut, folgte aber in einigem Abstand. Plötzlich hielt der Junge an, pfiff seinen Hunden und deutete auf eine kleine Hütte am Wegrand. Dahinter war ein großer Stall angebaut und eingezäunte Pferche.

"Mein bescheidenes Zuhause..."

Seine Hand beschrieb einen Halbkreis, um seine Worte noch einmal zu unterstreichen. Lynn ließ ihren Blick schweifen und schwieg. Der Junge lächelte breit und fasste Lynn am Arm, um sie ins Haus zu führen. Von plötzlicher Angst befallen entwand sie sich dem lockeren Griff des Jungen und blieb stehen. Der Hirtenjunge wandte sich ihr zu, die Augenbrauen hoch in die Stirn gezogen.

"Oh... Entschuldigt. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Ich bin Gregor! Darf ich euren werten Namen erfahren?!"

Seine Stimme strotze vor Ironie und Lynn verengte die Augen.

"Lynn."

Mehr sagte sie nicht, denn mehr befand sie nicht für nötig. Gregor trieb die Schafe in einen Pferch und geleitete Lynn ins Haus.
Er wartete ab bis sie die Schwelle übertreten hatte und schloss leise die Tür hinter ihr. Automatisch griff Lynn nach ihrer Matrix, als sie hörte, wie Gregor den eisernen Riegel vor die massive Holztür schob. Er wandte sich sofort wieder ihr zu und in seinen Augen lag ein begieriges Glitzern.

"Was brauchst du für deine weitere Reise, Lynn? Du kannst gerne deine Vorräte auffüllen..."

Seine Stimme wurde plötzlich verräterisch leise und er ging einen Schritt auf Lynn zu.

"...Und wenn du ein bisschen nett zu mir bist, dann musst du dafür noch nicht einmal etwas bezahlen."

Gregor hatte den Satz noch nicht einmal beendet, als er Lynn an den Schultern packte und in ein anderes Zimmer schob. Sie wand sich unter seinem Griff, der sich tief in ihre Schultern bohrte. Ihre Hände hatten sich um seine Oberarme geklammert und ihre Handknöchel begannen weiß hervor zu treten.  Sie schrie aus Leibeskräften, doch wer sollte sie hier oben schon hören?
Gregor drückte sie mit roher Gewalt auf ein hartes Holzbett, das allein mit einem löchrigen Stoff bezogen war. Er war mit Stroh ausgestopft. Seine Hand umklammerte Lynns Handgelenke, so dass sie nicht nach ihm schlagen konnte. Die andere glitt unter ihrem Reitrock den Oberschenkel entlang. Gregor hatte sich rittlings auf sie gesetzt, so dass Lynns Tritte ihn nicht erreichen konnten. Ihre Augen waren schockgeweitet und ihre Kehle war zum Schrei geöffnet, als Gregor seinen verlangenden Mund auf den ihren presste. Lynn presste die Lippen krampfhaft zusammen und versuchte den Kopf zur Seite zu drehen, doch Gregor nahm die Hand von ihrem Oberschenkel und schlug ihr brutal ins Gesicht. Ein höllischer Schmerz durchflutete ihre rechte Wange und Lynn merkte, wie sie das Bewusstsein verlor.

Als sie erwachte lag sie an Händen und Füßen gefesselt auf dem Holzbett. Ihr war kalt und ihre Zähne schlugen zitternd aufeinander. Ihre zerrissene Kleidung lag auf dem Fußboden verteilt und Lynn lag allein mit einer Unterhose auf dem Bett. Nur ihre Matrix hing ihr um den Hals. Sie begann sich beschämt zu winden, um sich auf den Bauch zu drehen, doch ein bestialischer Schmerz durchzuckte Lynn und ließ sie verharren. Ihre Wange schien blau und geschwollen. Ihr Unterleib schmerzte dumpf und auf dem Laken waren Flecken von Blut. Lynn wollte sich erst gar nicht vorstellen, was Gregor mit ihr angestellt hatte. Sie hatte Angst, er könnte wiederkommen und sie noch einmal bei vollem Bewusstsein nehmen. Lynn war fast glücklich, dass er sie bewusstlos geschlagen hatte.
Plötzlich öffnete sich die Holztür mit einem dumpfen Knarren und Gregor betrat den Raum. Er war nur mit einer Hose bekleidet und auf seinem Oberkörper zeichneten sich die Muskeln ab, die ihm die harte Arbeit beschert hatte. Er ließ sich neben Lynn auf dem Bett nieder und fuhr mit den Fingern kleine Kreise um ihren Bauchnabel. Lynn zog sich vor Abscheu zusammen und versuchte den Schmerz zu ignorieren, der nun ihren gesamten Körper durchflutete.

"Na, meine Schöne! Endlich zu den Lebenden zurückgekehrt?!"

Seine Stimme war gehässig und machte Lynn erneut Angst. Sie kniff die Augen zusammen und verharrte zitternd der Dinge, die da kommen mochten.

"Du hast Angst vor mir? Warum nur?"

Symbolisch umfasste Gregor ihren Knöchel und schob seine Hand mit leichtem Druck immer weiter hinauf.
Lynn wusste sich nicht zu helfen. Ihre Gedanken machten einen Sprung zurück in die Vergangenheit. Hatte ihre Matrix nicht schon so oft gerettet? Warum tat sie jetzt nichts gegen den Schmerz, den man ihr zufügte? Lynn schloss Gregor völlig aus und fokussierte ihre Gedanken auf die Matrix. Es war ein letzter verzweifelter Versuch. Sie spürte eine zaghafte Berührung in ihrer Seele und es überlief sie heiß und kalt. Unbeirrbar zwang sie sich zur Ruhe und stellte sich vor, wie sich in der Matrix die blauen Linien zu einer Kugel formten...

~ In der Matrix formten sich die schwingenden Linien zu einer Kugel, bis sie die gesamte Matrix ausfüllte. Ein blaues Flämmchen züngelte aus der Wölbung des Glases und wuchs stetig an ~

Gregor hielt inne, als er merkte, wie sich Lynn gegen ihn abschottete. Gelangweilt seufzte er auf und blickte fragend auf ihre stark glühende Matrix nieder.

~ Wie durch eine wässrige Schicht sah Lynn Gregor über sich und ihre Wut und Angst schleuste sie unaufhörlich in die Kugel der Matrix ein. Mit einem letzten, verzweifelten Stoß ihrer Gedanken löste sich die Kugel aus der Matrix ~

Lynn erwachte erneut. Das grelle Licht, das durch das einzige Fenster fiel, steigerte ihre Kopfschmerzen und sofort schloss sie die Lider wieder. Ihr gesamter Körper schmerzte und Lynn stöhnte auf, als sie ihre Lage ein Stück veränderte. In Gedanken konnte sie sich vorstellen, wie es um sie herum aussah. Sie hatte die Matrix dazu gebracht, ihre Macht zu entfesseln und hatte absichtlich einen Menschen umgebracht. Langsam hob Lynn die Lider und blickte sich um. Der gesamte Raum war übersät von verkohlten Trümmern und nur das Bett, auf dem sie lag, war verschont geblieben. Mitten in dem Chaos lag Gregor. Unnatürlich verkrümmt und in seiner Brust klaffte ein großes Loch. Die Haut war an den Rändern verschmort und geronnenes Blut war über seinen Körper verteilt.
Lynn seufzte halblaut und versuchte die Fesseln zu lockern, die immer noch um ihre Knöcheln und Handgelenke gebunden waren. Kurz überfiel sie Panik, doch als sie merkte, dass die Knoten langsam nachgaben, fuhr sie energischer fort.
Lynn erhob sich unter Schmerzen vom Bett und ihre Glieder waren steif von der unnatürlichen Lage, in die sie die Fesseln gezwungen hatten. Sie musste fort von hier! Lynn suchte sich Kleidung aus, die ihr einigermaßen passte, denn Gregor würde sie nie wieder anziehen können. Auch ihren Vorrat füllte sie so eilig auf, wie ihre steifen Muskeln es ihr gestatteten. Cartago stand grasend in einem der Pferche und wieherte kurz, als er Lynn erblickte. Diese brachte nur ein gequältes Lächeln zustande und öffnete das Gatter. Der Rappe ging ein paar Schritte auf sie zu und das Mädchen fasste ihn am Zügel und mit langsamen Schritten verließ Lynn den Ort, der sie noch lange in ihren Träumen verfolgte.
 

© Liriel
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Und schon geht's hier weiter zum 4. Monat... :-)

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