Erschöpft kroch
das kleine Mädchen noch ein Stück weiter in die kühle Dunkelheit
der Höhle, bevor es sich in einem Winkel zwischen zwei großen
Felsblöcken niederkauerte. Die ganze Nacht durch war es gelaufen und
auch einen guten Teil des Morgens hindurch. Der Weg, sofern es einen gab,
war felsig und steil gewesen, sein kleiner Körper war voller Kratzer
und blauer Flecken. Doch es hatte sich keine Pause gegönnt. Es hatte
Angst gehabt anzuhalten, denn sobald es einen Moment innehieltl, um Atem
zu schöpfen, kehrten die Erinnerungen zurück. Und mit ihnen kamen
die Fragen und die Angst, die Verwirrung und die Hoffnungslosigkeit.
Aber da war noch etwas anderes, ein unbestimmtes
Gefühl, das es antrieb, immer wieder einen Fuß vor den anderen
zu setzen, selbst dann noch, als seine Kräfte schon lange erschöpft
waren. Dieses Gefühl war es auch gewesen, das es diesen schmalen,
kaum erkennbaren Pfad in die Berge hatte einschlagen lassen. So hatte es
sich weiter geschleppt, immer weiter.
Doch nun war es am Ende angelangt.
Am Ende des Pfades. Am Ende seiner Kräfte.
Am Ende seiner Hoffnung. Vielleicht am Ende seines Lebens. Der Gedanke
kam ganz automatisch und selbstverständlich, es wunderte sich ein
wenig, daß es dabei keine Angst verspürte. Es war viel zu jung,
um es in Worte fassen zu können, aber da war etwas in ihr, was sich
danach sehnte einfach die Augen zu schließen und alles zu vergessen,
sich dem Nichts zu überantworten.
In der Dunkelheit im hinteren Teil der
Höhle war plötzlich ein Geräusch zu vernehmen. Es klang
als würde etwas unglaublich großes über Fels gezogen. Dann
war es wieder ruhig. Das kleine Mädchen sah nicht mal auf. Es hatte
keine Kraft mehr, sich zu fürchten. In den letzten Stunden war so
viel passiert, doch es empfand nur noch Leere. Eine Leere, die alles, was
es war, was es hätte sein können, zu verschlingen drohte und
die vielleicht nie mehr weichen würde. Außerdem bestand auch
kein Grund zur Angst, denn das einzige, was es noch fürchten konnte,
war es selbst und seine Gedanken - und denen konnte es nicht entfliehen.
Wieder hörte es das Geräusch,
diesmal deutlich näher. Müde wand es nun doch den Kopf und spähte
in die Dunkelheit. Zuerst konnte es nichts erkennen, doch dann leuchteten
zwei große, grüne Augen in der Finsternis auf und ein Teil der
Felswand selbst schien sich auf das Mädchen zu zu bewegen. Dann jedoch
erkannte es die Gestalt eines riesigen, echsenähnlichen Wesens, dessen
Kopf sich nun unmittelbar vor ihm befand, so daß es die großen,
spitzen Zähne hinter den lederartigen Lippen des gewaltigen Maules
erkennen konnte.
Selbst jetzt spürte es keine Angst,
sondern nur ein sanftes Staunen und fast so etwas wie Erleichterung. So
würde es also enden. Was unten im Dorf nicht geschehen war, würde
nun dieses Monster erledigen. Es war ein seltsam passendes Ende, wie es
fand, und ein kleines, belustigtes Lächeln stahl sich auf seine Lippen,
als es die Augen schloß um den Tod zu erwarten. Doch nichts geschah.
Erstaunt öffnete es die Augen wieder, um sich zu vergewissern, daß
es sich nicht alles nur eingebildet hatte, doch nein, der Kopf des Untiers
befand sich immer noch so dicht vor seinem Gesicht, daß es ihn mit
ausgestrecktem Arm hätte erreichen können. Die grünen, weisen
Augen musterten es neugierig, aber überraschend freundlich. Zu ihrer
Verwunderung begann der Drache zu sprechen: "Ich grüße dich,
mein Kind. Wer bist du? Und wie kommst du in meine Höhle? Ich habe
hier seit Jahrhunderten kein anderes Wesen mehr angetroffen." In seiner
Stimme klang die selbe Sanftheit, die es vorhin in seinen Augen erblickt
hatte, und plötzlich war es sich sicher, es nicht mit einem Ungeheuer
zu tun zu haben. Im Gegenteil. "Mein Name ist Cayu. Ich komme aus dem Dorf,
unten im Tal", antwortete es scheu. Unter dem Blick des Drachens wich langsam
die Kälte aus seiner Seele und die kindliche Neugier begann sich wieder
zu regen. "Und wer bist du?" fragte es. Der Drache ließ ein belustigtes
Knurren hören. "Das fragen mich die Wenigsten! Ich bin Xadron von
Xaronis, der Drache der Rejaberge."
Die beiden musterten sich eine Weile schweigend.
"Was bedrückt dich, kleine Cayu?" fragte Xadron plötzlich ruhig.
Erst jetzt wurde dem Mädchen wieder bewußt, was geschehen war.
Und zum ersten Mal, seit all das passiert war, spürte es den Schmerz
in all seiner Größe.
Es ließ sich auf einen Stein sinken
und weinte bitterlich, bis es das Gefühl hatte, keine Tränen
mehr zu haben. "Na endlich!" murmelte der Drache beruhigt. "Weine ruhig,
mein Kleines. Laß alles raus. Weißt du, Cayu, Schmerz, den
man nicht zuläßt, kann sehr gefährlich werden." Schließlich
versiegten die Tränen und es begann stockend, und mit leiser Stimme
ihre Geschichte zu erzählen.
Der Tag begann für
Cayu wie jeder andere. Mit dem Morgengrauen stand sie auf und ging in die
Küche um Bessi, der Magd des Bauern Kordo zu helfen, das Frühstück
zu bereiten. Cayu hatte keine Familie im Dorf. Als Säugling hatte
eine Bäuerin sie am Waldrand gefunden. Eine andere Frau, die gerade
ein Kind geboren hatte, hatte sie gestillt und aufgezogen, doch war Cayu
mehr das Ziehkind des ganzen Dorfes, als das einer einzigen Familie. Seit
sie vier Jahre alt war, half sie wo es Arbeit gab und schlief oder aß
wo es sich ergab. Cayu war mit diesem Leben zufrieden, denn genaugenommen
war ja das ganze Dorf, so klein wie es war, eine große Familie und
alle waren freundlich zu ihr. Den letzten Tag über hatte sie auf Kordos
Feld geholfen, und so war es selbstverständlich, daß sie unter
seinem Dach nächtigte und an seinem Tische aß. Nach und nach
betrat auch das restliche Gesinde des Hofes die Küche und es wurde
gegessen. Es war ein Morgen wie jeder andere in Cayus einfachem Leben.
Bis Kordo die Küche betrat.
Er setzte sich an seinen gewohnten Platz am
Kopfe der Tafel und begann seinen Leuten Anweisungen zu geben, dann beschwerte
er sich bei Bessi über die schlechte Rübenernte, schimpfte auf
einen ausbleibenden Knecht und machte ein paar anzügliche Bemerkungen
über dessen nächtliche Gepflogenheiten. Cayu bekam von all dem
nichts mit. Entsetzt starrte sie ihn an. Etwas dunkles, mächtiges
schien hinter ihm in die Stube getreten zu sein. Etwas furchtbares würde
geschehen! Sie spürte es so deutlich, als wäre es als dunkle
Rauchwolke in der Stube sichtbar. Verzweifelt sah sie sich um, doch niemand
schien etwas zu bemerken. Alle sprachen seelenruhig weiter über das
anstehende Tagewerk, stritten sich oder scherzten. Sie mußte sie
warnen!
Es war nicht das erste Mal, daß sie
so etwas spürte: einmal hatte ein Rudel Wölfe das Dorf angegriffen,
ein andermal war der Sohn des Müllers im Dorfteich ertrunken. Oft
waren es auch nur Kleinigkeiten, etwa ein gebrochener Arm oder ein Verletzung
mit der Sense, doch immer war etwas geschehen. Aber nie, niemals war das
Gefühl der Bedrohung so stark gewesen. Nicht einmal annähernd.
Sie mußte irgend etwas tun! Aber – sie war nur ein Kind, wer würde
auf sie hören? Und vor allem: wovor sollte sie warnen?
In diesem Moment sprach Kordo sie direkt an:
"Cayu, dich brauche ich heute nicht, wir sind gestern gut voran gekommen.
Aber ich soll dich zu Sira schicken, ihr Mann ist krank und sie kann jedes
helfende Paar Hände gebrauchen. Ihr anderen: kommt so schnell als
möglich zum Südacker, ich werde schon mal vorgehen und mir die
Wildschäden ansehen, von denen Rukan gesprochen hat." Cayu fuhr zusammen,
der Löffel fiel ihr aus der Hand und sie begann zu zittern. Das einzige,
was sie hervorbrachte war: "Nein, nein. Nicht gehen! Nicht gehen!" Alle
im Raum sahen sie verwirrt an, doch sie sprang auf, stürmte auf Kordo
zu und versuchte ihn von der Tür wegzuziehen. "Nicht gehen!" stammelte
sie immer wieder. Kordo machte sich los. "Findet heraus was mit diesem
Kind los ist! Ich muß nun wirklich gehen." Damit verschwand er strammen
Schrittes über den Hof. Cayu wollte ihm nachstürzen, doch Bessi
hielt sie mit sanfter Gewalt zurück. "Was ist denn nur los, meine
Kleine?" fragte sie besorgt und versuchte, sie auf ihren Schoß zu
ziehen. Doch Cayu machte sich los und lief zum Fenster. Als sie Kordo in
Richtung Südacker verschwinden sah, fing sie an kläglich zu weinen.
Halblaut murmelte sie nur: "Wir werden ihn nie, nie wiedersehen." Die Umstehenden
tauschten verwirrte Blicke. In die aufkeimende Besorgnis mischte sich leise
und unmerklich Mißtrauen. Niemandem war es bewußt, doch es
war da.
So sehr sich Bessi bemühte: die kleine
Cayu war nicht zu beruhigen. Sie machte sich Sorgen, doch schließlich
war Erntezeit und auch auf sie wartete noch eine Menge Arbeit. Mit einem
unguten Gefühl schickte sie das immer noch verstört wirkende
Kind schließlich zu Sira. Vielleicht würde es sich beruhigen,
wenn es beschäftigt war. Dann ging sie wieder ihrer Arbeit nach, wie
jeder andere. Und wie jeder andere hatte auch sie das Ereignis bald vergessen.
Es gab zuviel zu tun, um sich mit den Launen eines Kindes aufzuhalten.
Doch Cayu sollte Recht behalten.
Es war Mittag, als sich die Nachricht wie
ein Lauffeuer im ganzen Dorf verbreitete: "Ein Unglück! Kordon! Am
Südacker!" Und mit gesenkter Stimme raunte man sich zu: "Ein Untier!"
"Ein Dämon!" "Gefressen." "Zerfetzt." "Zerhackt!" Und noch leiser
hieß es an manchen Ecken: "Cayu. Sie hat es gewußt!" So dauerte
es nicht lange, bis das ganze Dorf ausnahmslos am Südacker versammelt
war. Oder vielmehr am nahegelegenen Waldrand, denn dort hatte man Kordos
Überreste gefunden. Und viel war das wahrlich nicht. Man hatte ihn
nur erkannt, weil an einem blutbesudeltem Ast sein Schutzamulett hing,
für die Dorfbewohner eine Geste des Hohns. Die verängstigten
Knechte berichteten, daß sie ihn erst kurz zuvor entdeckt hätten.
Zwar war er nicht da gewesen, als sie am Morgen das Feld erreichten, doch
hatte das niemandem Anlaß zur Sorge gegeben. Zufällig war man
dann auf die besudelte Stelle am Waldrand gestoßen, zuerst hatten
sie nicht einmal erkannt, daß es sich um menschliche Überreste
handelte, so übel war die Leiche zugerichtet. Außerdem fehlten
einige Körperteile und waren nicht auffindbar.
Ein lautes Gemurmel erhob sich, Ansichten
wurden ausgetauscht, Mutmaßungen angestellt. Trauer und hilflose
Wut, aber vor allem Angst machte sich unter den Menschen breit. Cayu stand
ein wenig abseits. Apathisch, wie sie es schon den ganzen Tag gewesen war,
starrte sie vor sich hin. Von den Blicken, die ihr immer wieder zugeworfen
wurden, merkte sie nichts. Sie wußte: es war noch nicht vorbei.
In der darauffolgenden Nacht schlief niemand
gut. Am nächsten Morgen wurde offensichtlich, daß sich die schlimmsten
Befürchtungen bewahrheitet hatten: in der Nacht war ein weiterer Mann
verschwunden. Seine Frau berichtete unter Tränen, er habe nur nach
dem Hofhund sehen wollen, der nicht aufhören wollte zu bellen. Dann
war er nicht wiedergekommen. Am Nachmittag schließlich gab es ein
drittes Opfer. Ein Junge war einer verirrten Ziege in den Wald gefolgt.
Wenig später fand man seine Leiche in der Nähe der ersten Fundstelle.
Bald darauf sammelten sich alle Bewohner des
Dorfes, wie auf einen stummen Befehl hin, auf dem Marktplatz. Die Panik,
die bereits den ganzen Tag lang in der Luft gelegen hatte, wurde nun offensichtlich.
Kinder weinten, eine alte Frau warf sich zu Boden und schrie, dies sei
das Ende der Welt. Viele meinten, man müsse schleunigst fliehen, sollten
nicht alle samt und sonder umkommen. Schließlich trat Boschak, der
Schmied, vor und sorgte für Aufmerksamkeit. Er war ein großer,
kräftiger Mann mit buschigen Augenbrauen, unter denen seine kleinen
Augen wild funkelten. Sein aufbrausendes Temperament war berüchtigt.
Das zweite Opfer war sein Bruder gewesen.
Nun sprang er auf den Rand des gemauerten
Brunnens und rief mit erhobener Stimme: "Sollen wir tatenlos zusehen, wie
eine Bestie (denn das es sich um eine solche handelte, davon waren inzwischen
alle überzeugt) unsere Freunde, unsere Verwandten - ja sogar unsere
Kinder! - zerfleischt und tötet, um sich an ihrem Fleische gütlich
zu tun? Sind wir Männer, oder sind wir alte Weiber, die nur klagen
und unken anstatt zu handelnd?" Er legte eine kurze Pause ein, um seine
Worte wirken zu lassen. "Ich sage:", fuhr er grimmig fort, "Ich sage: Wir
bewaffnen uns und dann werden wir dieses Untier schon finden! Wir werden
seine Opfer bitterlich rächen!" Aus der Menge erklang zustimmendes
Gemurmel.
"Kämpft mit mir!" schrie er. Das Gemurmel
wurde lauter.
"Laßt uns die Bestie TÖTEN!" Wild
johlte ihm die Menge ihre Zustimmung entgegen.
Die Versammlung löste sich auf. Doch
die Angst war verflogen. Sie hatte sich bei Boschaks Worten in blanken
Zorn gewandelt. Cayu blieb allein zurück. "Nein, nein! Ihr macht einen
furchtbaren Fehler", flüsterte sie verstört. Doch niemand war
mehr da, der sie hätte hören können.
Wenig später, die Sonne stand bereits
tief über dem westlichen Horizont, sammelten sich die Männer
außerhalb des Dorfes. Jeder hatte sich bewaffnet. Einige trugen rostige
Schwerter, die einst auf unerklärliche Weise ihren Weg in das Dorf
gefunden hatten, die meisten jedoch waren nur mit Mistgabeln, Äxten
oder grob behauenen Holzkeulen ausgerüstet, in die Nägel getrieben
worden waren. Boschak voran, marschierten sie auf den Waldrand zu. Cayu
stand immer noch verloren auf dem Marktplatz. Sie wollte hinterher laufen,
die Männer warnen, doch sie war wie gelähmt. Schließlich
öffnete sich eine Tür und eine der Dorffrauen zog sie ins Haus.
"Keine Angst, Kleine. Hier drinnen sind wir sicher", versuchte sie das
Kind zu trösten.
Cayu wußte nicht, wie lange sie schon
in der Stube saß und ins Feuer starrte, als draußen Rufe laut
wurden. Ein Mann stürzte ins Haus, aus einer Wunde am Kopf lief ihm
Blut über das angstverzerrte Gesicht. "Es kommt! Es kommt ins Dorf!",
rief er panisch, "Sieben von uns hat es schon getötet und jetzt kommt
es hierher, um uns alle zu vernichten! Mögen die Götter uns schützen,
es kommt hierher!" Dann flüchtete er die Treppe hoch, um sich irgendwo
zu verkriechen. Die Frau, die Cayu vorhin ins Haus gezerrt hatte, brach
weinend zusammen. Cayu warf ihr einen letzten, bekümmerten Blick zu,
dann verließ sie das Haus.
Die Sonne war bereits untergegangen und die
Dämmerung tauchte das Land in ein unwirkliches, schattenloses Zwielicht.
Auf den Straßen herrschte Tumult. Menschen liefen durcheinander,
riefen sich widersprüchliche Befehle zu oder schrien in wilder Panik.
Sie sah zahllose Verletzte. Unter Boschaks Befehl – auch er selbst schien
verletzt zu sein – sammelte sich noch einmal ein knappes Dutzend Wagemutiger
auf dem Marktplatz. Ein Großteil der Dörfler hatte seine Häuser
trotz der Warnungen verlassen und war nun, hinter Fässern oder Hauseingängen
verschanzt, um den Platz versammelt. Einer von Boschaks Mannen deutete
nun gen Himmel und als ihm die anderen mit den Blicken folgten, klang der
Schreckensschrei der Menge wie aus einer einzigen Kehle: ein riesiger Vogel
flog auf das Dorf zu. Er hatte die doppelte Größe eines ausgewachsenen
Mannes und sein Körper war, bis auf Kopf und Flügel, der eines
riesigen Löwen. Er hatte einen unglaublich großen Schnabel,
in dem zwei Reihen spitzer Zähne zu erkennen waren und seine Pranken
waren mit Krallen besetzt, die geschärften Sicheln glichen.
Er flog direkt auf den Marktplatz zu. Einige
der tapferen Männer, die sich noch einmal um den Schmied versammelt
hatten, warfen bei seinem Anblick ihre Ausrüstung fort und suchten
das Weite, doch die standhaft Gebliebenen reckten ihre Waffen nur um so
entschlossener dem Untier entgegen. Cayu spürte einen dumpfen Schmerz
in ihrem Inneren explodieren. Sie wußte plötzlich, mit was sie
es zu tun hatten, auch wenn sie ihr Wissen nicht erklären konnte.
"Nicht!" schrie sie aus Leibeskräften. "Tut es nicht! Ihr dürft
nicht gegen ihn kämpfen, der Greif ist unsterblich!" Viele der Umstehenden
sahen zu ihr herüber, doch die bewaffneten Männer beachteten
sie nicht.
Der Vogel stieß hinab und wieder durchlief
ein Schrei des Entsetzens die Menge. Seine Krallen bohrten sich direkt
in Boschaks Brust, der Schmied starb, ohne auch nur einen Schrei ausstoßen
zu können. Dann landete der Greif wenige Meter vor den Bewaffneten.
Diese wichen zurück, hielten die Waffen jedoch weiterhin drohen gegen
ihn gerichtet. Cayu ertrug es nicht länger! Es mußte endlich
aufhören, all dieses Leid, dieses sinnlose Blutvergießen. Bevor
es jemand verhindern konnte sprang Cayu vor und stellte sich zwischen den
Männern und dem Untier auf. Sie war kaum größer als ein
Bein des Wesens. Tückisch musterte es sie aus seinen kalten, gelben
Augen. "Ei, ei, kleines Menschenkind, kannst es wohl gar nicht erwarten
zu sterben, was?" fragte es. Dann klickte es voll hämischer Freude
mit dem mächtigen Schnabel. "Es ist genug, Greif, glaub mir", erklärte
sie voll kindlicher Überzeugung. Der Vogel schien regelrecht verblüfft.
Erst jetzt wurde ihr klar, daß er nicht die Sprache der Dorfbewohner
gesprochen hatte. Und sie hatte ihm auch nicht in dieser geantwortet! "Es
scheint, ich hätte mich in dir geirrt", stellte der Greif ruhig fest.
Cayu verstand nicht was er meinte, aber sie ließ sich nicht beirren.
"Ich bitte dich, fliege weiter. Diese Menschen wollen doch nur in Frieden
leben, wie alle Geschöpfe. Suche dir andere Nahrung. Es ist genug,
Greif." Sie wußte nicht woher diese Worte kamen, sie sprudelten einfach
aus ihr hervor, aber sie wußte, daß sie richtig waren. "So.
Ist es das?" fragte das Vogelwesen gereizt. "Nun gut, ich werde mich fügen.
Aus Achtung vor Eurem Blute. Aber warnt diese Menschen. Sollten sie abermals
versuchen mich anzugreifen, so werde ich anders mit ihnen verfahren." In
seinen Augen glitzerte es boshaft als er hinzufügte: "Man wird sich
doch noch in Ruhe eine Mahlzeit gönnen dürfen!" Wieder klickte
er tückisch mit dem Schnabel, dann breitete er seine mächtigen
Schwingen aus und flog ohne ein weiteres Wort davon.
Der Sturmwind, den sein Abflug erzeugte, fegte
Cayu von den Füßen. Erleichterung machte sich in ihr breit,
als sie sich wieder aufrappelte. Sie hatte nicht erwartet, daß es
funktionieren würde, auch wenn sie gewußt hatte, daß ihr
von dem großen Vogel keine Gefahr drohte. Als sie sich den Dorfbewohnern
zuwandte erkannte sie jedoch nichts von diesem Gefühl auf ihren Gesichtern.
Sie erschrak. Aus ihren Blicken sprach immer noch Angst, doch irgend etwas
war anders. Es lag eine Spannung in der Luft, wie vor einem heftigen Sommergewitter.
Sie wollte ihnen zurufen, daß sie sich nicht mehr zu fürchten
brauchten, daß sie in Sicherheit waren und der Greif nicht zurück
kehren würde, doch etwas hielt sie davon ab. Die übrigen Dörfler
waren nun aus ihren Verstecken gekommen und hatten sich zu den anderen
gesellt. In einem lockeren Halbkreis standen sie um das kleine Mädchen
herum. Jetzt bemerkte sie in den Blicken nicht nur Angst, sondern auch
Mißtrauen und aus einigen funkelte ihr blanker Haß entgegen.
Plötzlich begann sie zu verstehen, daß die Angst und all das
längst nicht mehr dem Greif galten. Es galt ihr.
Ein bedrohliches Geraune erhob sich in der
Menge: Sie hat es gewußt - Sie hat das mit Kordo gewußt
- Warum spricht sie diese Sprache?- Ich habe ihr noch nie getraut - Sie
wußte was es war - Sie war schon immer ein sonderbares Kind - Sie
hat seine Sprache gesprochen - Sie war nie eine von uns - Wie konnte sie
es fortschicken?- Warum konnte sie es fortschicken?- Wir wissen gar nichts
über sie - Sie hat es gewußt - Woher wußte sie es?
Dann setzte eine drückende Stille ein.
Alle starrten sie an. "Hexenkind!" schrie plötzlich eine haßerfüllte
Stimme. "Sie ist verflucht!" kreischte eine andere auf. "Hexenkind, Hexenkind!"
Andere griffen den Ruf auf. "Dämonenbrut!" "Sie ist ein Wechselbalg!"
"Kleine Teufelshure!" Cayu verstand überhaupt nicht mehr was geschah.
Die Gesichter, die sie kannte, unter denen sie aufgewachsen war, schienen
sich plötzlich in Fratzen des Hasses zu verwandeln. Die Leute drangen
auf sie ein, sie spürte Schläge auf sich niederprasseln, man
trat nach ihr. Eine Frau – sie erkannte in ihr die gemütliche Müllersfrau,
die ihr immer Kuchen zugesteckt hatte – spuckte ihr ins Gesicht, sie spürte
eine Hand, die ihr durchs Gesicht kratzte, sie gehörte dem alten Gudek,
der so wunderschöne Geschichten erzählen konnte. Aus den Augen
der Menschen, die immer so gut zu ihr gewesen waren, blitzte jetzt schiere
Mordlust. Sie hielt es nicht mehr aus, schlug die Hände über
den Kopf und schloß die Augen. Dann fühlte sie sich an den Haaren
gepackt und hoch gerissen. Eine Stimme brüllte: "Sie soll brennen!
Brennen soll die Hexe!" War diese haßerfüllte Stimme nicht die
von Bessi? Die Menge nahm den Ruf gierig auf und warf ihn wie rasend zurück.
Cayu verstand nicht mehr was vorging. Brutale Hände griffen nach ihr
und zerrten sie in einen angrenzenden, leerstehenden Schafstall. Sie wurde
hineingestoßen, die Tür zu geworfen und sie hörte, wie
der schwere Riegel vorgelegt wurde. Eine hämische Stimme rief: " Du
entkommst uns nicht, du Brut der Hölle! Du wirst brennen!" Zustimmendes
Gejohle ertönte, dann hörte sie, wie man nach Holz schickte.
Cayu sah sich in ihrem kleinen, stinkenden Gefängnis um. Alles tat
ihr weh und die Verwirrung über das Geschehene wuchs von Minute zu
Minute. Vielleicht war alles nur ein Alptraum und sie würde gleich
erwachen. Doch tief in sich wußte sie, daß es bittere Wirklichkeit
war. Irgend etwas schreckliches, unerklärliches war mit den Menschen,
die sie kannte, passiert. Doch was war es nur? Verzweifelt und verängstigt
hockte sie sich in eine Ecke, schlang die Arme um ihre Knie und wartete
ängstlich, was weiter passieren würde. Daß es etwas schreckliches
sein würde, daran zweifelte sie nicht.
Es dauerte lange, bis die Tür wieder
geöffnet wurde. Inzwischen hatte die Nacht ihr dunkles Tuch über
die Welt gebreitet. Das Gesicht einer Frau erschien in der Türöffnung.
Angst sprach aus ihrem Blick und nervös blickte sie immer wieder von
Cayu in die Dunkelheit hinter ihr. Es war die Frau, die Cayu gestillt hatte
und bei der sie den größten Teil ihrer ersten vier Lebensjahre
verbracht hatte. "Ich weiß nicht wer oder was du bist", flüsterte
sie, "aber ich will dich nicht brennen sehen. Verschwinde, aber komm nie
wieder hierher." Cayu verstand noch immer nichts, aber ihr Instinkt sagte
ihr, daß es wohl besser sei, auf den Rat zu hören. Die Frau
wich zurück, als sie an ihr vorbei trat, als hätte sie Angst,
ihr zu nahe zu kommen.
Cayu rannte los, in die Nacht hinein.
Als das Mädchen
fertig erzählt hatte sah es den Drachen aus großen Kinderaugen,
in denen immer noch Tränen schimmerten, fragend an. "Warum? Warum
haben sie das gemacht?" Seufzend legte Xadron seinen mächtigen Kopf
neben es. Selbstvergessen streckte Cayu ihre Hand aus und begann sein Kinn
zu kraulen. "Weißt du, Cayu, die Menschen sind nicht wirklich böse.
Nicht böse, wie der Greif es zum Beispiel war. Aber – nun, sie sind
unwissend. Angst und Unverständnis können sehr, sehr gefährlich
sein, wenn man nicht damit umzugehen weiß. Das kann schlimmer sein
als wahrhaftige Bosheit." Cayu verstand zwar nicht die Worte, doch spürte
sei die tiefere Wahrheit, die in ihnen lag und so entgegnete sie nichts.
Vertrauensvoll lehnte sie sich an den Drachen und war bald vor Erschöpfung
eingeschlafen.
"Du gehörst einfach nicht in diese
Welt, Cayu. Du bist zu anderem bestimmt. Aber keine Angst. Ich werde mich
um dich kümmern. Ich werde mich um dich kümmern, kleine Cayu."
Bei Sonnenuntergang flog Xadron von Xaronis,
der Drache der Rejaberge, los. Er hatte einen weiten Weg vor sich. Warm
eingepackt schlummerte zwischen seinen mächtigen Schwingen friedlich
das letzte Elfenkind.
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