Zwergengold von Benedikt Julian Behnke
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Ich kann nicht sehen,
Kann nicht fühlen,
Nicht erkennen, woran es liegt.
Ich kann nur hoffen -
Nur immer hoffen! 
Dass - letztendlich - das Gute
Siegt.

Es ist meine Liebe,
Ist mein Geleit,
Meine unglaublich schwere Bürde,
Gefühle - zweigeteilt.

Und dennoch find ich -
Und so denk ich -,
Dass ein Wort -
Ob kurz, ob lang -
Diese Zwiste -
Für Immer! -
Lösen kann.

Ehe die Nacht vergeht,

Der letzte Wind verweht,

Dunkelheit sich senkt,

Und mir den Atem schenkt!
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Zu sagen,
Was ich sagen will...

Nichts; Benedikt J. Behnke
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Erstes Kapitel
Vertrauen

Der Mond stand hoch, weiß, und schattenhaft wie Gespenster zeichneten sich die Krater auf seiner Oberfläche ab. Er prangte inmitten eines weiten, dunklen Sternenhimmels, erhellte die Nacht und sandte sein geisterhaftes Licht auf das Tal der Dämmerung hinab.
Die Hallen von Arathel wurden von Fackeln erhellt, deren Flammen wie Feuergeister vor den bleichen Mauern tanzten. Zwerge hatten an langen Tafeln Platz genommen und genossen das ausschweifende Mahl, das König Hathorn festlich auftischen ließ. In großen Schüsseln wurde Obst, Brot und gut gewürztes Fleisch gereicht. Hühner und Gänse brutzelten auf Spießen und ihr betörender Duft erfüllte die Halle.
Devin leckte sich hungrig über die Lippen, und nahm schließlich einen tiefen Zug von seinem Bier. Das Lik - wie das Hausgebräu der Zwerge genannt wurde - schmeckte vorzüglich. Nicht ganz so bitter wie das Bier der Gnome, und auch nicht ganz so süß wie das Met der Menschen. Devin schmatzte, schmeckte und kostete erneut. Nein, fand er, es gab kein besseres Bier als Lik. Denn Lik schmeckte nach tiefen Minenschächten und Baumharz. Das kam daher, dass man es in Rauchfässern aus Kiefernholz lagerte und Geschmack annehmen ließ. Im ganzen Lande wurde es deswegen hoch geschätzt, auch wenn beinahe keiner den genauen Zubereitungsprozess kannte. Es war ein gut gehütetes Geheimnis, das Väter an ihre Söhne und Enkel weitergaben.
Fleisch und Gemüse mundeten Devin. Es war warm und gleichzeitig frisch, triefte vor Saft und war dennoch knackig. Erneut trank er einen Schluck Zwergenbier, rülpste und wischte sich mit einer Hand den Schaum vom Mund. Ein kleiner Rest hatte sich in seinem bis zum - mittlerweile geöffneten - Gürtel reichenden Bart verfangen, doch das störte ihn nicht. Er biss gerade herzhaft in einen Schenkel, als das Wiehern eines Pferdes erschallte. Alarmiert blickte er auf, sah sich im Raum um. Bis auf einige Wachen des Königs, deren Hände sich etwas fester um die Lanzen schlossen, ließ sich keiner stören. Devin senkte den Blick und aß weiter, blieb jedoch wachsam.
Schließlich klapperten Hufe, ein Gaul schnaubte und jemand sprang aus dem Sattel. Devin lauschte angestrengt. Dann pochte jemand starker Hand gegen die Tür. Zuerst rührte sich niemand, doch beim zweiten Klopfen kehrte Ruhe in die Halle ein, und König Hathorn rief mit tiefer Stimme: "Lasst ihn herein!"
Sofort sprangen die Wächter herbei und ergriffen die schmiedeeisernen Ringe, zogen an den Türgriffen. Knarrend schwang die Tür auf, und einen Augenblick war nichts als ein schwarzer Umriss vor dem sternübersäten Nachthimmel zu erkennen. Alles verstummte, während die Soldaten nach ihren Waffen griffen.
Doch bevor einer von ihnen sich auch nur von seinem Platz erhoben hatte, hob der Neuankömmling abwehrend die Hand. Zögernd trat er ins Fackellicht. Er war groß, überragte die Zwerge um mindestens zwei Köpfe und trug einen schweren Reitermantel, dessen Kapuze er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. "Ein Mensch! Einer vom großen Volk!", erklang es vereinzelt unter den Feiernden, und aufgeregtes Getuschel erhob sich.
Wütend winkte der König ab; auf seinem Gesicht zeigte sich Griesgrämigkeit. Er hatte den gesamten letzten Sommer in Thoronor - der südlichsten Bastion der Menschen - verbracht, um von dort aus die Verhandlungen zwischen den beiden Völkern zu führen. Schließlich hatten sie sich auf einen Nichtangriffspakt wie ein Handelsabkommen geeinigt. Hathorn war einigermaßen erbost darüber, jetzt noch durch Boten oder andere Mittelsmänner belästigt zu werden. Augenblicklich verfiel die Menge in Schweigen und der König winkte den Läufer zu sich heran.
Nun schlug der Fremde die Kapuze zurück, enthüllte ein braungebranntes Gesicht, goldblondes Haar und zahlreiche Lachfalten. Seine Augen waren von einem warmherzigen Haselnussbraun. Unter dem dunkelgrünen Mantel trug er einen leichten Kettenpanzer, hohe Stiefel und eine eng anliegende Hose. Als er sich verbeugte und dabei seine Hand auf die Brust bettete, während die andere hinter seinem Rücken verschwand, konnte man einen großen Siegelring mit dem Wappen von Thoronor erkennen - ein goldener, sich aufbäumender Löwe.
"Was wollt Ihr?", fragte Hathorn und schien dabei ein wenig gereizt.
Der Fremde enthüllte ein schelmisches Lächeln. "Mein Name ist Darn Corna, ich komme aus der Stadt der Menschen und bringe Euch Kunde von Eurer westlichsten Garnison!"
"Irion?" Hathorn schien etwas verwirrt. Seine schwarzen, buschigen Brauen zogen sich zusammen. Er unterzog Darn einer raschen Musterung. Irion gehörte zu jenen gemeinen Städten, die ihren Reichtum aus dem Handel mit Erzen verdienten. Dort gab es zahlreiche kleinere Diamantenminen, an denen die Menschen oftmals ihr Interesse gezeigt hatten, denn ihre Frauen und Herrscher schmückten sich nur allzu gerne mit diesen kostbaren Steinen. Kein Volk verstand es so die edlen Kristalle zu schleifen wie die Zwerge. Und das hatte seinen Preis. Zwar war Irion unbefestigt und bestand größtenteils aus Holz- und Lehmhütten, dennoch war die Arbeit seiner Bewohner nicht zu unterschätzen.
"Mylord?"
Hathorn schreckte abrupt aus seinen Gedanken hoch, blinzelte. "Was sind das für Nachrichten?", fuhr er sogleich umso barscher fort.
"Glymrithil, Herr", erläuterte Corna und das spöttische Grinsen kehrte auf seine Züge zurück. "Man ist auf Zaubergold gestoßen!"
Hathorn fuhr von seinem Thron hoch. Ohne zu zögern kreuzten die Ritter ihre Lanzen vor Darn. Jener lächelte nur. Verärgert winkte der König sie beiseite. Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. "Wie ist das möglich?" Seine Blicke verloren sich im Nichts und seine Hand glitt an seine Stirn, während Gedanken des Schreckens und des Glückes dahinter einen Freudentanz veranstalteten. "Was ist..." Seine Augen suchten wieder den Boten. "Wie ist das geschehen?"
Corna zuckte die Achseln. "Ein Erdbeben hat einen Gang zum Goldgräberfluss in den Felsen des Plateaus gerissen und die Zwerge wollten ihre Stollen stützen. Dabei sind sie auf Höhlen voller antiker Schätze gestoßen, unter ihnen auch jenes Gold, das womöglich aus Corath stammt!"
"Corath?" Erneut schlich sich Verwirrung in sein Antlitz. Er schüttelte den Kopf, bis er wieder klar denken konnte. "Wir müssen sofort handeln", erklärte er. "Ich schicke zwanzig meiner besten Pioniere, die sich in den Kammern umsehen sollen! Wenn wir tatsächlich auf das verloren geglaubte Corath stoßen..." Er sprach nicht weiter. Alle Anwesenden wussten seit ihrer Kindheit, was dies für das Volk der Zwerge bedeutete. Denn mehr noch als Reichtum bedeutete es Macht. Und Wissen. Es bedeutete schier unendliches Wissen über die vergangenen Zeitalter und ihre Vorfahren. Dieser Schatz war unbezahlbar, denn er war magischer Natur.
 
Es war bereits so dunkel, dass Murak nicht einmal sah, wie sich die Elfen durch den Wald näherten. Ihre Schritte waren ein Flüstern im Wind, ihre Bewegungen verschwommen und verhüllt von ihrer eigenen Magie. Plötzlich materialisierten sie sich, nahmen die Gestalten von schlanken, hoch gewachsenen Wesen mit menschlichen Zügen an. Doch wirkten sie feiner und kindlicher als die Hochländer, reiner und schneller. Ihr Anführer warf die Kapuze seines grauen Mantels zurück, enthüllte ein scharf geschnittenes Gesicht, das von langem, schwarzem Haar umrahmt war.
Murak zögerte nur einen Augenblick, während sich seine fleischigen Hände fester um das rostige Breitschwert schlossen. In seinen Augen loderte ein Feuer des Hasses, und als er die Stimme erhob, klang sie harsch und brutal: "Ihr seid gekommen! Warum?"
Über die Züge des Elfen huschte ein Lächeln. "Das Angebot Eures Meisters war einfach zu verführerisch!"
Der breitschultrige Vyrn lachte schallend. "Also willigt Ihr ein?"
"Zwar wünschen wir uns nichts sehnlicher, als dass ihr endlich vom Erdboden getilgt werdet, aber unter den gegebenen Umständen ist ein zeitweiliges Bündnis nur von Vorteil!"
Murak verabscheute die spitze Zunge des Elfen. In seinen Ohren klangen die Worte verwirrend und heimtückisch. Deshalb zuckten seine gewaltigen Muskeln, als er das Schwert widerstrebend sinken ließ. Und nicht einmal das irre Grinsen vermochte seiner Fratze etwas Schönes abzugewinnen, denn es entblößte unregelmäßig stehende, faule Zähne. Trotz ihres äußerlichen Makels, waren sie jedoch stark genug, Muskeln und Knochen zu zerreißen. Mondlicht schimmerte auf seiner grünlichen Haut, enthüllte deformierte Körper von Hässlichkeit und Stärke. "Ihr seid einverstanden?"
"Ja."
Die Bestätigung schmeckte süß und betörend. Murak konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. "Die Nachricht wird meinen Meister freuen." Murak nickte bekennend. "Geht nun!"
Die Elfen nickten ebenfalls und wandten sich zum Gehen. Der Vyrn-Häuptling sah ihnen nach, bis sie sich in der Dunkelheit aufgelöst hatten, dann verwandelte sich sein wohlwollendes Auftreten wieder zu der offenkundigen Abscheu. Er roch ihren Gestank, ihren süßen, wie Honig anmutenden Duft, der für ihn nichts weiter als ekelerregend war. Sein Hass wuchs und verkam zu einem Geschwür, das sein Herz befiel und es zu einem trostlosen Klumpen werden ließ. "Tod!", brüllte er in die Nacht, "Hass!"
"Ich vermag Euch Rache zu geben!", flüsterte eine eindringliche Stimme.
Der Vyrn wirbelte herum, die Klinge zum Schlag bereit erhoben. Vor ihm kauerte eine hagere Kreatur mit grobporiger, grauer Haut, spitzen Ohren und einem verkniffenen, verhärmten Gesicht. Ein zerschlissener, schwarzer Umhang verhüllte größtenteils ihren knochigen Körper.
"Wie?"
Plötzlich war er allein.
Noch einen Moment lang versuchten seine gelben Glubschaugen die Düsternis zu durchdringen, forschten nach dem vermummten Geschöpf, das ihn so plötzlich aus der Fassung gebracht hatte. Doch um ihn herum war nichts als Schwärze.
In diesem Augenblick wusste er nicht, was er tun sollte. Alles erschien ihm unangemessen oder fehl am Platze. Aber tief in seinem Herzen - das schwarz und grausam schlug - wusste er, dass diese Einschätzungen Lügen waren, vorgetäuscht, um seine eigene, tief sitzende Angst zu verbergen. Denn er hatte Angst. Große Angst. Furcht regierte das sonst so kompromisslose Denken, und sein Arm, der noch immer das schwere Breitschwert hielt, hatte zu zittern begonnen. Nun waren es nicht die Elfen, die ihn schreckten. Es war etwas viel Dunkleres und Geheimnisvolleres. Etwas, das selbst die Schatten seiner Seele bei Weitem übertraf.
Er war ein Vyrn. Mehr als das, er war ein Krieger mit jeder Faser seines Körpers, ein Schrecken im Angesicht des Feindes, jemand, der nicht einmal mehr beweisen musste, dass er der Überlegene war. Jahre des Kampfes hatten seine Muskeln gestählt, sein Aussehen wie eine Klinge in Blut gehärtet und seinen Verstand zu etwas verkommen lassen, das nur noch fern menschliche Züge aufwies. Er war grausam und ihn dürstete nach Blut. Hatte nach Blut gedürstet, verbesserte er sich. Jetzt war ihm jeglicher Appetit darauf vergangen. Er war bleich. Totenbleich. Aus seinem Gesicht war jegliche Farbe gewichen.
Für einen Augenblick hatte er die Anwesenheit des Todes regelrecht riechen können und dieser Geruch hatte sich tief in seinen Verstand eingebrannt.

"Ich sage es nur ungern, doch ich traue diesem Frieden nicht. Er wirkt irgendwie... aufgesetzt!"
Arion sah seinen langjährigen Freund abschätzend an. Der dunkelhaarige Elf mit den leuchtenden Augen wirkte verstört, und der Elfenkönig konnte verstehen, warum. Palan hatte sein ganzes Leben als Spitzel hinter den feindlichen Linien verbracht. So gesehen war es nur zu gut verständlich, dass sein Tun und Handeln von äußerster Vorsicht geprägt war. Er war zurückhaltend und lauerte geradezu darauf, mögliche Fallen aufzudecken und - sollte es nötig sein - zu  beseitigen. Dennoch musste man den Vyrn Vertrauen entgegen bringen. Wenn dieses Bündnis fruchten sollte, mussten beide Parteien ihr Bestes geben.
Palan schüttelte erneut den Kopf: "Mylord, ich habe einfach kein gutes Gefühl dabei."
Ein Lächeln schummelte sich auf Arions schmale Züge: "Ich leider auch nicht. Aber wir dürfen die Chancen dieses Paktes nicht außer Acht lassen! Sollte uns ein Schlag gegen Irion gelingen, werden sich die Zwerge tiefer in den Wald zurückziehen und die Flussstätten verlassen müssen. Und dann schnappen wir uns das magische Erz!" Er ballte die rechte Hand zur Faust, mit der linken hielt er die Zügel seines braunen Wallachs.
"Ich hörte, sie würden Harnische und Schwerter aus dem Zaubergold schmieden!", schaltete sich Gwend ein. Der Elfenhauptmann besaß die harten Mundwinkel eines alten Kriegsveteranen, sein graues Lockenhaar zeugte von vielen schlechten Wintern im Krieg gegen die Trolle, Menschen, Zwerge und Vyrn. Wie alle Elfen besaß auch er die strichdünnen Brauen und das scharf geschnittene Gesicht, doch im Gegensatz zu den anderen beiden zierte ein kleiner Bart sein Kinn.
Palan schüttelte erheitert den Kopf: "Gerüchte!"
Auf einmal wirkte Gwend sehr ernst. "Ich denke nicht, dass es nur Gerüchte sind", sagte er. "In manchen Fällen mag die Rede von Magie ein gut geplantes Ablenkungsmanöver sein, doch mein Gefühl sagt mir, dass wir in diesem Fall vorsichtig sein sollten. In den Großen Kriegen gab es viele Wendepunkte, oft durch Dämonen und Magie hervorgerufen. Warum sollen wir hier also annehmen, dass es sich nicht um die Wahrheit handelt?"
"Weil der Feind uns verwirren will und uns deshalb diese Ammenmärchen erzählt!", bekannte Palan seine Stellung zum Thema Zaubergold.
"Es gab schon früher Waffen aus magischem Metall", erläuterte Arion, ohne einen der beiden direkt anzublicken. "Außerdem ist es viel wichtiger, dass uns die Vyrn auch wirklich zur Seite stehen. Falls sie uns hintergehen, liegen wir zwischen dem Glothir Wald und den dunklen Landen wie auf dem Präsentierteller!"
"Und die scharfen Gebirgskämme verhindern einen raschen Rückzug", fügte Gwend vorsichtig hinzu, der in früheren Tagen selbst dem Pech erlegen war, sich durch die schmalen Pässe kämpfen zu müssen. Noch immer saß der letzte Große Krieg der Rassen wie ein böses Omen in ihren Nacken. Die Zwerge stellten ein Problem dar - die Menschen und Trolle ein ganz anderes. Thoronor war ein Bollwerk der Menschen und befestigte die Stelle der Grenze, wo sich immer wieder Gefechte abgespielt hatten. Eine groß angelegte Schlacht konnte einzig auf den Ebenen vor der Feste stattfinden. Der Thilion Wald war einfach zu dicht und das Zwergenreich wurde vom Goldgräberfluss getrennt. Die einzige Möglichkeit, Belagerungsmaschinerie einzusetzen, bestand also darin, sie direkt vor Ort zu bauen. An den meisten Stellen war der Fluss reißend und tief. Allein im Süden flachte er etwas ab - eine Tatsache, die die Zwerge dazu gebracht haben musste, auch im seichten Flusskies nach Gold zu suchen. Und schließlich war dieses Vorhaben von Erfolg gekrönt worden, als sie allerlei magische Erze zu Tage gefördert hatten. Noch beruhte dies auf Hörensagen, doch normalerweise konnte Arion seinen Informanten vertrauen.
"Fakt ist, dass die einzige Möglichkeit, die Zwerge wirkungsvoll zu schwächen, darin besteht, ihre Schmieden zu vernichten", erklärte Arion mit einer vagen Geste. "Die Frage, ob dieses magische Gold wirklich existiert, können wir uns auch an Ort und Stelle noch stellen. Wenn erst einmal der Nachschub an Waffen und Rüstungen versiegt, das Metall ihrer Harnische und die Spitzen ihrer Speere rosten, wird es ein Leichtes sein, ihre Verteidigung zu durchdringen. Das Zaubergold ist eine andere Sache. Mit seiner Hilfe gelänge es den Zwergen, uns und die Vyrn zu überrennen. Das Imperium der Menschen würde nur eine weitere, unbedeutende Nuance ihres Eroberungsfeldzuges bedeuten."
Gwend lächelte grimmig: "Scheint, als hättet Ihr Euch schon einige Gedanken über das Bevorstehende gemacht, Mylord!"
"Wir sind Freunde, Gwend", entgegnete der Elfenkönig bittersüß. "Und ja, ich habe mir Gedanken gemacht. Immerhin ist das die Aufgabe eines loyalen Herrschers!"
"Loyal?", fragte Gwend, und Arion erkannte die bissigen Spielchen des älteren Elfen. "Loyal zu wem?" Es war mehr eine Prüfung, als eine ernst gemeinte Frage. Dennoch antwortete Arion nur mit einem zurückhaltenden Lächeln, sodass der Ernst der Lage einzig aus seinen Augen sprach:
"Loyal zu meinem Volk, Gwend, den Elfen von Andor!"
Gwends Augen waren dunkel und von tiefstem Einverständnis geprägt. Er hatte keine andere Antwort erwartet. Trotzdem liebte er es. Er genoss diese Spielchen, mit denen er Arion wie ein Lehrmeister begegnete. Der Elfenkönig war noch jung und hatte erst den kleinsten Teil des Lebens hinter sich gebracht; genau genommen erst zwanzig Jahre. Er wandelte noch immer auf den Pfaden eines Schülers, und bis er alt genug war, um ohne genaue Prüfung handeln und entscheiden zu können, nahm Gwend die Rolle des Mentors ein. Mit den letzten Jahren war ihr Vertrauen zueinander gewachsen. Vertrauen, dachte Arion, eine Sache, die gerade jetzt so wichtig war.
Nachdem sie zwei Stunden lang tiefer in den Wald geritten waren, machten sie auf einer kleinen, mondbeschienenen Lichtung Halt. Sie banden die Pferde an den Bäumen fest und widmeten sich ihrem Nachtmahl. In wenigen Minuten entzündeten sie ein Lagerfeuer aus Reisig und trockenen Zweigen, breiteten ihre Decken und Felle auf dem Boden aus und glitten langsam ins Land der Träume hinüber. Solange sie eins mit dem Thilion waren, würde er ihre Anwesenheit - ja, nicht einmal das Feuer - enthüllen. Die Elfen umgab ein magischer Schutz, der noch von Feentagen herrührte, als die Welt jung und die Elfen ihre ersten, tief verbundenen Geschöpfe waren. Aus der Natur bezogen sie Kraft, und nur mit der Natur zusammen waren sie überhaupt lebensfähig.
Am nächsten Morgen erreichten sie Andor - es bestand aus himmelhoch aufragenden Bäumen, deren Wurzeln wahre Höhlen im laubbedeckten Erdreich schufen. In ihnen hatten die Handwerker ihre Werkstätten und Schmieden; Rauch kräuselte sich aus den Höhlen und verschwand im dichten Blätterdach über ihnen. Zwischen den riesigen Ahornen, Buchen und Kirschbäumen schlängelten sich mit glänzenden Steinen gepflasterte Straßen. Laternen und Lampions baumelten von tief hängenden Ästen und sandten ihren matten Schein auf den Weg. Hier und da waren einfache Holzhäuser mit Schindeldächern errichtet worden.
Arion führte seinen Tross tiefer in die sagenumwobene Stadt der Elfen, verborgen in den Tiefen des Thilion. Das Laub knisterte trocken unter den Hufen der Pferde. Starker Regen war selten in den Tieflanden. Dazu kam, dass die Zweige und Blätter einem Baldachin gleich wirkten. Gerade deshalb ging man hier sehr vorsichtig mit Feuer um. Man hatte die Schmiedekeller nur zwischen den dicksten Baumwurzeln gegraben, was den Vorteil bot, dass man die Höhlen nicht zusätzlich mit Balken abstützen musste. Die fest im Boden verankerten Ranken der Baumriesen hielten alles am rechten Fleck.
Bald verließen sie die Straße und traten auf eine Art Lichtung hinaus. Zwar verschwand der dichte Baumbestand urplötzlich, dennoch war es ihnen nicht vergönnt, den Himmel zu sehen. Über ihnen wölbte sich die gewaltige, ausladende Krone einer Eiche. Sie mochte mehrere Jahrtausende überdauert haben, denn ihr Stamm besaß gut und gerne den Umfang eines gebräuchlichen Scheune besitzen. Dicht am Stamm standen Tische und Stühle, kreisförmig umgeben von jenen Ästen der Eiche, die bereits zu schwer geworden waren, um weiterhin von ihr getragen zu werden. Sie glichen mehr umgestürzten Säulen als dem, was sie waren, auch wenn an manchen Stellen der knotigen Rinde noch Triebe blühten. Hierhin zogen sich die Elfen zurück, wenn sie Rat hielten.
Nach weiteren Minuten steten Trabes erreichten sie endlich das Herrenhaus der Königsfamilie. Arion sattelte ab und ließ seinen Hengst zu den Ställen bringen. Gwend und Palan folgten dem Tier einige Schritte, bis sie sich schließlich nach Norden wandten, wo sie für ein paar Minuten in einer Schenke der Musik lauschen wollten, bevor sie schlafen gingen.
Arion jedoch machte sich sofort auf den Weg in seine Gemächer. Der Hauptmann der königlichen Leibwache hatte ihm soeben Bericht erstattet. Sein Weib hatte nach ihm schicken lassen. Einen Augenblick lang fragte er sich, während er die Eichenholztür aufschob und sie hinter sich verschloss, ob sie wohl etwas von seiner nächtlichen Unterredung mit den Vyrn erfahren hatte.
Doch beinahe im nächsten Moment verwarf er den Gedanken wieder. Sie konnte nichts davon erfahren haben. Er hatte es bis jetzt für besser gehalten, Larannah aus Dingen wie Politik und Wirtschaft herauszuhalten. Er schätzte es einfach nicht, wenn sie sich zu sehr in sein Handeln einmischte. Trotz allem liebte er ihren Scharfsinn und ihre Intelligenz. Sie war nicht etwa besonders schön, besaß eine eher fülligere Gestalt mit drallen Kurven. Seiner Meinung nach befand sich diese Fülle genau an den richtigen Stellen.
Er stieg die Treppe zur Kemenate empor, fühlte unsichtbare Blicke auf sich ruhen - Wachen, die sich zu verbergen wussten, und ihren König zu solch später Stunde nicht mehr stören wollten.
Ohne anzuklopfen trat er in den Raum, verhielt sich dabei so leise wie möglich. Das Licht war bereits gelöscht. Ein sanfter Wind bauschte die seidigen Vorhänge. Im Mondlicht, das durch das halb geöffnete Fenster fiel, erblickte er die Umrisse ihrer betörenden Gestalt. Sie hatte es sich auf dem Bett bequem gemacht, die Beine leicht angewinkelt, die Hände unter dem Kopfkissen gefaltet und die Augen geschlossen. Ihre dunklen Haare schimmerten auf den weißen Laken.
Beinahe sofort registrierte er, dass sie nicht wirklich schlief. Sie hatte auf ihn gewartet, hatte sich Sorgen gemacht und kauerte nun zwischen den kühlen Betttüchern, schien nur so auf den Augenblick zu warten, in dem er sich zu ihr legen wollte, nur um ihm weiterhin die kalte Schulter zu zeigen. Stillschweigend schüttelte er den Kopf. Frauen!
Er wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen und wieder im Dunkel des Ganges verschwinden, als sie sich endlich regte. Sie streckte sich, wälzte sich herum und entblößte einen Teil ihrer makellosen Gestalt, muskulöse, sonnengebräunte Arme und schlanke, starke Finger, welche sich in die Bettdecke gekrallt hatten. Jetzt lag ihr Gesicht im Schatten. Er wusste nicht, ob sie die Augen geöffnet hatte oder noch geschlossen hielt. Mittlerweile musste sie begriffen haben, dass er ihr Spiel durchschaut hatte.
 

© Benedikt Julian Behnke
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Und schon geht's weiter zum 2. Kapitel: "Angst"

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