Dreimal schwarzer Kater vom Moordrachen
2. Kapitel

So, jetzt bin ich nur noch ein Sprung weit vom Fluß entfernt, verstecke mich noch in einem ausgedehnten, dichten Grasbüschel und beobachte meine Umgebung.
Es scheint alles in Ordnung zu sein. Rechts, von wo der Fluß heranfließt, hüpfen ein paar Vögel im Sand herum. Dabei fällt mir auf, daß ich so langsam wieder Hunger bekomme… Na, vielleicht ist später für einen kleinen Beutefang Zeit.
Links bewegt sich dagegen nichts, außer einiger Grashalme, die sich im schwachen Wind wiegen. Ein paar wenige Wolken ziehen über mir und dem Tal hinweg, gesellen sich wohl bald zu dem mittlerweile fast nicht mehr zu hörenden Gewitter.
Oh, zwei der Vögel sind etwas näher gekommen, haben mich noch nicht bemerkt… Gut so!
Ich warte noch einen Augenblick, beobachte sie, spanne meine Hinterbeine leicht an – sie hüpfen sogar noch ein wenig näher –, warte … und springe!
Ja! Einen hab’ ich! Der zweite verliert zwar ein paar Federn, kann aber wegfliegen. Na, macht nichts, der eine reicht mir vorerst – und diese Zwischenmahlzeit hat mich kaum aufgehalten.
Kaum habe ich ein paar Bissen runtergeschlungen, da rieche ich plötzlich etwas… Eine andere Katze; nein, auch ein Kater! Aber wer? Ich schaue mich um, sehe aber nichts. Oh, wenn wir Katzen doch nur besser riechen könnten… Ob es…
Dann höre ich ihn. Er grüßt mich.
„Sei gegrüßt, Silberhaar!" antworte ich.
„Du scheinst ja nichts verlernt zu haben, bravo!"
Dann erst sehe ich mich zu ihm um, er muß die ganze Zeit relativ dicht hinter mir gewesen sein. Das Sonnenlicht streicht über Silberhaars schwarzes Fell, so daß es wie schwarzer Marmor glänzt; die dünne, silberweiße Strähne auf seinem Rücken unterstreicht wie immer seine Schönheit und Anmut.
„Wie könnte ich? Wir sind ja nicht wie diese Wölfe, die sich aus Dummheit von den Menschen abhängig machen."
„Und das ist gut so. Doch vergiß nicht, daß Wölfe Rudeltiere sind, sie kennen es nicht anders. Aber du solltest besser auf dich aufpassen, ich hätte auch ein anderer sein können!"
„Ja, ich weiß. Aber du bist nun mal auch der beste im Anschleichen, das weißt du."
„Das ist keine Entschuldigung! Du mußt einfach besser werden…"
Einfach? Besser als der alte Silberhaar? Das geht kaum… „Ich werd’s versuchen", sage ich statt dessen.
„Na gut… Komm, Nachtschatten! Wir haben noch einen weiten Weg vor uns."
Ohne auch nur einen Augenblick abzuwarten, geht er plötzlich los, flußaufwärts am Ufer entlang. Hastig esse ich meine Beute fertig auf und folge ihm.
Ob er noch weiß, wo es genau liegt? Ich hab’s schon wieder fast vergessen.

Natürlich weiß er’s!
Jetzt, da er zielstrebig auf den großen, alten Haselstrauch zuläuft, erinnere ich mich wieder. Hier hatten wir es gefunden und gut versteckt. Wir ahnten damals – gut ein Jahr ist das jetzt her –, daß es uns eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen könnte – und nun ist es tatsächlich soweit. Wer hätte das damals wirklich gedacht? So bald schon…
„Hilf mir!" Silberhaar zerrt es bereits unter dem Strauch hervor, aber für die ganze Strecke bis zum Fluß wird wohl auch seine Kraft nicht reichen.
So ziehen und schieben wir gemeinsam unser Floß durch den Sand, schließlich über den Kies und die Schlammpfützen, bis wir endlich das Ufer erreichen.
Nun, Floß ist vielleicht etwas übertrieben. Genau genommen ist es nur ein großes gebogenes Stück Rinde, das leicht und zugleich groß genug ist, um uns beide auf dem Wasser tragen zu können – ich hoffe, daß ich nicht inzwischen schwerer geworden bin…
„Wir müssen weiter…"
Ich sehe Silberhaar nur verständnislos an. „Warum noch weiter? Wir sind am Wasser…"
„Hier ist nicht der beste Ort für unsere Zwecke… Sieh dir den Fluß genauer an, dann verstehst du, was ich meine."
Wie immer wollte er, daß ich selbst herausfinde, warum er diese Entscheidung getroffen hat. Ich starre auf das Wasser, lasse meine Augen der Strömung nach links folgen, dann sehe ich nach rechts, wo unser Floß liegt und Silberhaar steht, der mich im Augenblick nicht weiter zu beachten scheint. Und so langsam dämmert es mir…
„Na also… klar, oder?" Er wartet jedoch keine Antwort ab – die hat er wohl schon in meinen Augen lesen können – und zerrt unser Floß weiter; ich schiebe und zerre natürlich genauso.
Kurz darauf lassen wir es endlich zu Wasser und springen drauf. Ich bin natürlich wieder der Unglückliche, der das meiste Wasser abbekommt; aber wir sind auf dem Fluß – das allein zählt.
Langsam treibt uns die Strömung in die Mitte des Flusses, wobei wir ein klein wenig mit unseren Pfoten nachhelfen… allmählich werden wir etwas schneller… und gerade als der Fluß einen Knick nach links beginnt, treiben wir weiter geradeaus – der Strömung folgend – dem anderen Ufer entgegen. Nur noch einen Schritt weit vom Land entfernt, springt Silberhaar mit einem gewaltigen Satz vorwärts, krallt sich am feuchten Gras und an einigen Zweigen eines Busches fest. Doch Erde bröckelt ins Wasser hinab, seine Hinterpfoten rutschen ab, rudern förmlich durch die Luft, während er sich verzweifelt nur noch am Gras festklammert… Dann aber finden seine Hinterpfoten wieder Halt; er klettert endlich am Ufer hoch – und ist oben!
Erstaunlich! Nicht den kleinsten Laut des Unmutes oder Jammers hat er von sich hören lassen.
„Komm jetzt endlich!" faucht er mich jetzt statt dessen an.
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und springe genau in dem Augenblick, da das Wasser unser Floß gegen einen großen Stein drückt, beinahe umkippen läßt und schließlich weiter flußabwärts wieder der Flußmitte zutreibt. Perfekt auf allen Vieren – stehend! – lande ich auf dem Gras eine Katzenlänge neben Silberhaar.
Wow! Ist das ein Gefühl, einmal besser auszusehen als der alte, erfahrene Silberhaar. Na ja, ich bin ja auch wesentlich jünger.
Er beachtet mich nicht weiter und beeilt sich, vom Fluß wegzukommen. „Komm, wir sind schon spät genug dran! Wir haben nicht mehr viel Zeit."
Ich denke, er will nur nicht, daß ich den Neid in seinen Augen sehe…

Die Sonne hat ihren Stand kaum verändert, da beginnt schon der dunkle Sandboden, der sich langsam in die Höhe erhebt. Je höher wir den Hang erklimmen, desto weniger Bäume bewachsen ihn, und um so mehr tote oder sterbende Bäume und Büsche säumen unseren Pfad. Auch wenn hier und da einige Gräser oder gar Blumen oder junge Bäume vorsichtig ihr Gesicht der Sonne entgegenstrecken, langsam wird die Landschaft um uns herum immer trostloser, wie nach einem zerstörerischen Waldbrand, nur daß hier kein Feuer gewütet hat.
Unsere Ahnen haben oft erzählt, daß vor langer Zeit hier ein Feuer gewütet habe. Aber zuerst oben, auf dem Gipfel. Und es soll dann die Hänge herabgeflossen sein. Ich glaube, selbst Silberhaar hat das nie verstanden… Wie kann Feuer fließen? Auf jeden Fall muß das aber – falls es wirklich je geschah – schon ungezählt viele Generationen her sein. Viel zu lange, um jetzt noch Bäume sterben zu lassen.
Nein, sie ist die Wurzel dieses Elends! Wir befinden uns jetzt beinahe im Herzen ihres Gebietes. Schon seit wir den Fluß hinter uns gelassen haben, wagen wir nicht mehr, auch nur ein einziges Wort miteinander zu sprechen.
Gerade denke ich an ihn, da sehe ich ihn auch schon hinter einem der kranken, nur noch wenig Laub tragenden Büsche. Er sitzt dort – fast in aller Ruhe, als könne ihn kein Unglück der Welt treffen – und wartet auf uns. Wie lange wohl schon?
Sein Fell ist kein bißchen grauer geworden, seit ich ihn zuletzt gesehen habe, so schwarz wie eh und je. So dunkel wie meines. Erst jetzt sieht er sich zu uns um, begrüßt uns mit stummem Blick, um sofort wieder in Richtung Gipfel zu spähen. Selbst der lediglich sehr kurze Blickkontakt verriet mir seine bedrückende Besorgnis.
Sein linkes Ohr hat er jetzt genau mir zugewandt, sein ‘Markenzeichen’, das – vermutlich durch einen Kampf – stark eingerissen ist, und das schon seit seiner Jugend. Er hat mir nie erzählt – vielleicht sogar nicht einmal Silberhaar? –, wie und wo er sich diese Verletzung zugezogen hat. Na ja, Schlitzohr wird wohl immer ein geheimnisvoller Artgenosse bleiben.
Gemeinsam ziehen wir weiter dem Gipfel entgegen.
 

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