Dreimal schwarzer Kater vom Moordrachen
3. Kapitel

Nun steht die Sonne nur noch knapp überm Horizont, doch der düstere Boden und das schwarze Holz der toten Bäume schlucken das letzte Licht, lassen uns nur noch eine schwache Dämmerung zum Sehen übrig. Wenn ich daran denke, daß ich heute morgen noch bei Baram war und jetzt kurz vor dem gefährlichsten Abenteuer meines Lebens stehe… – nein, eigentlich bin ich bereits mittendrin; ein Zurück kommt jetzt nicht mehr in Frage, ist einfach unmöglich.
Wir beeilen uns.
Sie hat bestimmt schon angefangen. Die Zeichen am Himmel sagen uns das zumindest: die Wolken ziehen plötzlich auf den Gipfel zu, genau in die andere Richtung, in die sie der Wind treiben müßte. Und auch aus jeder anderen Richtung scheint der Berg Wolken magisch anzuziehen. Wolken, die nur noch der Form nach als solche bezeichnet werden können. Denn sie leuchten in einem völlig unnatürlichen, Angst einflößenden, finsteren Blau und Grün, durchzogen von unregelmäßigen, schwarzen Schleiern. Hier und da kann ich kurz das diffus-rote Aufleuchten von Blitzen innerhalb der Wolkenmassen erkennen.
Da höre ich etwas! Auch Schlitzohr und Silberhaar haben es gehört und richten ihre Ohren darauf aus.
Es… rumpelt und poltert… irgendwo rechts von uns – bergauf. Es hört sich an wie…
Ein Steinschlag!!
Noch kann ich das Geröll nur hören, wie es schnell und unaufhaltsam näher kommt. Doch, da! Ein oder zwei Steine kann ich sehen… und dort noch einer! Alle rollen genau auf uns zu!
Silberhaar und Schlitzohr zögern, wissen nicht, ob sie vor oder zurück sollen… Ich fürchte, sie können die Steine noch nicht sehen; sie sind ja nicht mehr die jüngsten…
„Kommt, schnell!" rufe ich, springe an ihnen vorbei – und sie ohne zu zögern hinter mir her. So schnell uns unsere Beine tragen jagen wir über den Hang, versuchen, dem Geröll zuvorzukommen bevor er uns den Weg abschneidet oder gar in die Tiefe reißt. Ein paar schnelle Steine durchpflügen mein Fell, ein Felssplitter trifft meine Pfote, ein anderer meinen Schwanz, Staub schiebt sich mit rasender Geschwindigkeit zwischen meine Beine… Ich wage nicht, nach rechts dem Steinschlag entgegenzublicken, starre und renne stur geradeaus.
Schließlich habe ich es geschafft! Hastig sehe ich mich um, noch während ich weiter renne, aber auch Silberhaar und Schlitzohr kommen gerade aus der Staubwolke, nicht viel mehr verletzt als ich selber. Bin ich froh!
Erst jetzt betrachte ich mir meine Blessuren. Es ist nicht weiter schlimm, nur meine rechte Hinterpfote blutet etwas, aber das wird schnell wieder verheilen.
Schnell und nachlässig lecke ich mir den Staub aus dem Fell. Gleich darauf geht’s eilig weiter.
Während mich Silberhaar langsam überholt sieht er mich von der Seite an. Er schaut tief in mein Inneres und wendet schließlich seine Aufmerksamkeit wieder dem staubigen Berghang zu. Zum ersten Mal seit vielen Jahren bin ich mir nicht sicher, was sein Blick zu bedeuten hat. Es beunruhigt mich irgendwie… Doch jetzt ist nicht die Zeit, darüber seine Gedanken zu verlieren!

Immer mehr düstere Wolken ziehen sich über dem Berg zusammen. Wir kommen ihnen ständig näher. Nun sind die – immer noch lautlosen! – Blitze deutlich sichtbar. Rot und weiß zucken sie durch die Wolken, tauchen unsere unmittelbare Umgebung immer wieder in unheimliche Licht- und Schattenflecken. Einmal gaukeln mir die Blitze sogar einen dunkelroten Silberhaar vor.

Endlich erreichen wir den zerklüfteten Gipfel!
Er ist ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt habe. Schwarz, von rauhem Staub bedeckt, aus dem hier und da bizarr geformte Felsbrocken hervorschauen. Doch was mich am meisten überrascht, ist die Tatsache, daß wir uns hier – am Rand des Gipfels – bereits auf dessen höchstem Punkt befinden. Zu seiner Mitte hin fällt der Berg wieder steil ab. Erst mehr als zwanzig Katzenlängen weiter unten und vierzig oder fünfzig vor uns endet der Hang in einer flachen, ausgedehnten Mulde – fast einem kleinen Tal gleich –, die offenbar vom gleichen düsteren Staub und Geröll bedeckt ist, wie der Hang, auf dem wir stehen.
Auch meine beiden Gefährten haben offensichtlich mit etwas gänzlich anderem gerechnet. Wie gelähmt starren sie auf das Tal. Erst ein heftiger Blitzschlag – wieder ohne nachfolgendem Donner – reißt sie aus ihrem trance-ähnlichen Zustand.
„Ich glaube, wir müssen nur noch da runter", flüstert Schlitzohr, „ich bin mir sogar ziemlich sicher… – und dann…"
Wir wissen, was er nicht auszusprechen wagt. Allein die Vorstellung dessen, was auf uns zukommen mag, übersteigt bereits unseren Verstand; wie sollen wir es dann in Worte fassen.
Genau im Zentrum des Tales hat sich dichter Nebel gebildet, in dessen Inneren zahllose Blitze und andere Lichter toben. Auch die meisten Wolken verharren nun über diesem Nebel, jagen ihre roten Blitze in ihn hinein.
Ganz langsam – und voller Angst – setzen wir uns in Bewegung, unsere Pfoten versinken beinahe vollständig im schwarzen Staub. Es ist verrückt: nur die bedrohlichen Blitze weisen uns noch den Weg, denn die Nacht hat hier, unterhalb des schmalen ‘Gipfels’, bereits begonnen.
Wir sind auf halbem Wege nach unten, da schießt plötzlich etwas unförmiges, nebelhaft weißes von hinten an uns vorbei! Kurz darauf vereinigt es sich mit einem weiteren, genau so unförmigen ‘Etwas’, verschmilzt vor unseren Augen zu einem einzigen… Ding. Sehr schnell formt es sich zu einer Gestalt, einem körperlosen Lichtwesen. Erst jetzt ahne ich, was ich da vor mir sehe: Ein Geist! Er darf uns nicht aufhalten! Wir alle – auch Schlitzohr – setzen umgehend zur Flucht an… doch der Geist beachtet uns überhaupt nicht weiter. Schneller als der Wind verschwindet er im lichtdurchfluteten Nebel.
„Was hat das nun wieder zu bedeuten?" flüstert Silberhaar verwirrt.
„Vielleicht, weil wir zu dritt sind…?"
„Blödsinn! Auch zehn Katzen haben noch keinen Geist von einem Angriff abgehalten – zumindest nachts und an einem solchen Ort wie hier –, das weißt du…"
Schlitzohr nickt nachdenklich. „Egal, dafür ist keine Zeit. Wir müssen weiter!"
„Ich glaube, wir sind schon längst da…", wage ich zu behaupten und deute mit meiner Schnauze auf die linke Seite des Nebels.
Dort habe ich gerade den Schatten einer Gestalt gesehen. Und da ist er wieder!
„Ja…", war Schlitzohrs einziger Kommentar.
Wir schleichen uns langsam näher an die Gestalt heran. Sie schaut genau in die Mitte des Nebels, in den nun immer häufiger Blitze aus den Wolken darüber einschlagen. Gerade in diesem Moment erhebt die Gestalt beide Arme, streckt sie in einer äußerst langsamen, beinahe anmutig wirkenden Bewegung weit über ihren Kopf hinaus.
Sie ist es! Kein Zweifel.
Wir bleiben in respektvollem Abstand stehen und beobachten sie weiter. Sie scheint uns noch nicht bemerkt zu haben – sie ist wohl zu sehr mit ihrem Werk beschäftigt…
 

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