Es war ein sonniger Tag im Mai zu einer Zeit, als das alte Europa
noch von Rom beherrscht wurde. Nicht aber von den römischen Cäsaren,
wie es noch vor Jahrhunderten der Fall war, sondern es war der Vatikan,
der alle Fäden in der Hand hielt. Zumindest sah so die Wirklichkeit
aus. Während dieser dunklen Zeit der Inquisition war die katholische
Kirche die herrschende Macht und viele Leute mussten grausame Tode sterben,
der Hexerei bezichtigt oder der Ketzerei schuldig gesprochen.
Zwei Schatten glitten über dichte Wälder und tiefe, blaue
Seen, irgendwo in den nordwestlichen Ausläufern des Schweizer Mont
Blanc - Massivs. Trotz der kalten Morgenluft waren schon überall die
ersten Anzeichen des nahenden Sommers zu erkennen.
Der eine Schatten war ein wenig größer als der andere.
Der kleinere wurde von einer wunderschönen Drachin geworfen. Sie hatte
Schuppen dunkler als die dunkelste Nacht und ihre Augen glänzten wie
flüssiges Gold. Ihr Name war Starbolt.
Ihr Gefährte stand in der Blüte seines Lebens: Sein prächtiger
Körper war von tiefgrünen Schuppen ummantelt, dunkelgelbe Schuppen
liefen Blazestorms Kehle hinab, bedeckten seine Brust, seinen Bauch und
auch die Innenseite seiner Gliedmaßen.
"Ich bin müde, mein Lieber", erklärte sie, als sie ein
wenig zurückfiel.
"Ich brauche ein wenig Ruhe und vor allem etwas, um meinen Bauch
zu füllen. Wie Du weißt, ich brauche nun auch Nahrung für
die da drin."
Ihr Gefährte flog unter ihren Bauch und leckte zärtlich
über die leichte Wölbung.
"Ich weiß, mein Liebes. Da vorne ist eine Lichtung. Lass uns
dort rasten."
Nachdem sie sich auf der einsamen Lichtung für die kommende
Nacht eingerichtet hatten, zog Blazestorm aus. In diesen Tagen verbrachte
er viel Zeit damit für sie beide zu jagen, denn sie war viel zu schwer
mit Eiern beladen, um für sich selbst auf Jagd gehen zu können.
Ein Reh, ein Hirsch oder vielleicht eine Wildsau - irgendetwas würde
es in diesem Wald mit Sicherheit geben, um ihren Hunger zu stillen.
Schon bald war ihm das Glück hold und er konnte zwei stattliche
Hirsche schlagen. Den einen verschlang er an Ort und Stelle, der andere
sollte seine Gefährtin und seine ungeborenen Kinder stärken.
Es mochte seit seinem Aufbruch zur Jagd eine Stunde vergangen sein,
als seine empfindlichen Ohren ein grauenvolles Geräusch auffingen,
den Schrei eines verwundeten Drachens.
Voller Furcht und voller dunkler Vorahnungen flog er, so schnell
ihn seine Schwingen trugen, zurück zur Lichtung.
Er fand einen Menschen in glänzender Rüstung vor, der mit
gezücktem Schwert über Starbolt stand, die Klinge feucht, rot
glänzend von ihrem Blut. Der Ritter hatte sie im Schlaf gemeuchelt:
Mit seiner Lanze hatte er ihr ein Auge durchbohrt und als sie sich in ihrer
Qual aufbäumte, boten ihre weichen Bauchschuppen keinerlei Schutz
gegen sein Schwert.
Blazestorms Blick fiel auf die drei zerstörten Eier, die aus
dem Unterleib der Drachenmutter herausgeschnitten waren. Niemals zuvor
in seinem langen Leben war der Drache so zornig gewesen. Das Warum
interessierte ihn nicht, er wollte Blut. Der Ritter sollte für den
feigen Mord büßen und für den schmerzlichen Verlust mit
seinem Leben bezahlen - alle Menschen sollten dafür bezahlen.
Blazestorm brüllte laut seine Herausforderung hinaus, doch
zu seiner größten Verwunderung zeigte dieser Ritter nicht die
geringsten Anzeichen von Angst.
Sein peitschender Schwanz zerschmetterte ein Bein des Menschen und
streckte ihn auf diese Weise nieder. Er pinnte ihn mit einer Klaue auf
den Boden fest.
"Du!!!" donnerte der Drache und kleine Funken stoben aus seinen
Nüstern.
"Du wirst mir für ihren Tod bezahlen. Das schwöre ich!"
"Dann sehen wir uns in der Hölle wieder, Satan! Komm schon,
töte mich. Ich habe mein ganzes Leben danach getrachtet, Euch geschupptes
Ungeziefer vom Antlitz dieser Welt zu tilgen. Töte mich, wenn Du kannst,
es wird das Letzte sein, was Du tust!"
Die Stimme des Ritters war voller Hass.
"Dich töten? Oh, glaube mir, der Tod wird für Dich mehr
Erlösung denn Strafe sein. Du wirst noch meine Krallen mit Deiner
Zunge von Deinem eigenen Blut und Gedärm säubern und mich auf
Knien um Deinen Tod anflehen, das versichere ich Dir!"
Mit einer lässigen Bewegung seiner Pranke schlug er den Ritter
bewusstlos und pellte den Menschen aus seiner schimmernden Rüstung,
so wie man den Panzer eines Hummers knackt und löst, um an dessen
Fleisch zu kommen. Gewand und Unterwäsche des Mannes wurden kurzerhand
mit scharfen Drachenkrallen zerrissen.
In der Ausrüstung des Ritters fand der Drache einige Seile,
band damit die Hände und Beine des Menschen zusammen und hängte
ihn schließlich an seinen Handgelenken an einem starken Ast eines
Baumes auf.
In tiefer Trauer hob Blazestorm Starbolts leblosen Körper auf
und flog mit ihr davon. Er wollte sie im Gebirge bestatten, in ihrer Höhle,
die sie so lange miteinander geteilt hatten. Blazestorm versiegelte
den Eingang zu ihrer letzten Ruhestätte mit einem großen Felsen
und einem Zauberspruch, damit nichts und niemand mehr den ewigen Schlaf
seiner Gefährtin stören würde.
Danach kehrte er zu seinem Gefangenen zurück. Ja, dieser Mensch
sollte dafür bezahlen, was er Starbolt und auch ihm, Blazestorm, angetan
hatte.
Geduldig wartete der Drache, bis der aufgehängte Ritter sein
Bewusstsein wiedererlangte.
Mit einer klauenbewehrten Hand streichelte er vorsichtig das bleiche
Gesicht des Mannes.
"W... was hast Du vor?"
In der Stimme des Ritters lag nun blankes Entsetzen, ohne seine
schimmernde Rüstung waren aller Stolz und alle Stärke von ihm
gewichen.
"Du hast meine geliebte Gefährtin erschlagen! Du hast mich
meiner ungeborenen Kinder beraubt! Du hast einen Teil meiner selbst zerstört!
Und dafür wirst Du mir mit Deinem Blut büßen, Tropfen um
Tropfen!"
Mit von Trauer gebrochener Stimme fügte der Drache leiser hinzu:
"Ich werde niemals mehr ihre Anmut schauen können. Niemals wieder
werde ich zu ihr sprechen können. Ich werde niemals mehr ihre Gesellschaft
verspüren. Für diesen Verlust wirst Du mit Deinem wertlosen Körper
bezahlen."
Geradezu behutsam zog Blazestorm mit seiner scharfen Kralle die
Gesichtskonturen des Ritters nach, eine feine rote Linie hinterlassend...
Erneut hallten die Schmerzensschreie des Ritters durch den Wald,
als sein linkes Auge vollends herausgerissen wurde. Der Drache labte sich
an den Qualen seines Opfers.
"Keine Angst, mein Freund, ich werde Dir Dein anderes Auge lassen.
Schließlich möchte ich, dass Du zusiehst, wie Dein eigenes Herz
aufhört zu schlagen. Aber ich versichere Dir, bis Du endlich Erleichterung
im Tode findest, wird einiges an Zeit vergehen", zischte der Drache.
Abgesehen von einigen Fällen der Selbstverteidigung hatte Blazestorm
niemals zuvor in seinem langen Leben einen Menschen getötet; im Gegenteil,
etliche Menschen zählten zu seinen Freunden, sogar Kinder waren darunter.
Aber der Schmerz über den Verlust seiner geliebten Gefährtin
trieb ihn beinahe in den Wahnsinn, in einen wahren Blutrausch.
Mit Klauen, Zähnen und seinem Feuer zerstörte er nicht
lebenswichtige Organe und Gliedmaßen des Menschen. Tagelang wurde
der zähe Körper des Ritters unvorstellbaren Qualen unterzogen,
bis ihn Blazestorm schließlich mit einem verzehrenden Feuerstrahl
restlos vernichtete.
Bald wich der Zorn des Drachens Kummer und Trauer. Er verfiel in
tiefste Depressionen. Er hatte das Kostbarste in seinem Leben verloren,
seine Gefährtin und seinen Nachwuchs. Dafür tötete er den
Drachentöter. Aber obwohl die Schmerzensschreie seines Opfers wie
Musik in seinen Ohren klangen und er voller Genuss dem Flehen um Gnade
mit weiterem Foltern begegnete, es hatte ihm seine Liebsten nicht zurückgebracht.
Nach der Hinrichtung des Ritters wollte er alle Dörfer, die
er nur erreichen konnte, dem Erdboden gleichmachen - alle Menschen sollten
für die Untat dieses einen Mannes bezahlen.
Aber jetzt war er nicht mehr fähig, dieses Vorhaben umzusetzen.
Er wollte alleine sein und seinem nun leeren Leben ein Ende setzen.
Er schwang sich in die Lüfte.
Der Drache entschied sich, zu der Höhle zurückzukehren,
in die er Starbolts Leichnam gebracht hatte. Er wollte sich zu seiner Gefährtin
legen und auf seinen eigenen Tod warten, auf dass er wieder mit ihr vereint
würde.
Auf einmal war er von tiefster Dunkelheit umgeben, eine samtige Schwärze
umfing ihn. Doch noch bevor es ihm so richtig bewusst wurde, klärte
sich seine Sicht auch schon wieder. Er war hoch in den Wolken, irgendwo
über den Bergen, als er einen unangenehmen Geruch wahrnahm, anders
als alle ihm bisher bekannten Gerüche. Auch die Sonne war seltsam
blass und fahl. Dann sah er es: Knapp zweihundert Meter unter ihm stieg
ein anderer Drache auf, offenkundig mit der Absicht, Blazestorm anzugreifen.
Wie konnte er es wagen? Blazestorm sah zu, wie sich der Fremde näherte.
Er würde ihm eine Lektion erteilen, schließlich war er der Herr
der Berge und er würde, solange er lebte, keinen anderen Drachen in
seinem Revier dulden. Dieser Fremdling war mit Sicherheit ein übermütiger
Jüngling, der seine eigenen Grenzen noch nicht kannte.
Blazestorm brüllte seine Herausforderung hinaus und stürzte
sich auf den Eindringling...
***
Die Maschine beschrieb unmittelbar nach dem Abheben eine lang gezogene
Rechtskurve. Die Anschnallzeichen waren noch nicht erloschen, dennoch herrschte
bereits eine rege Aktivität in dem engen Raum zwischen dem Cockpit
und dem Passagierbereich. Die Servicewägen wurden gefüllt, Zeitungen
und Zeitschriften aus den entsprechenden Stauräumen genommen, der
Duft von Kaffee breitete sich in dem Flugzeug aus.
Eine Stewardess hatte mit einem Tablett das Cockpit betreten, während
ihre Kollegin sich mit der Bordsprechanlage an die Fluggäste wandte.
"Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie
im Namen unseres Kapitäns Jean-Luc Pascal und unserer Fluggesellschaft
ganz herzlich an Bord des Fluges WT 6-3-6 von Genf nach Washington DC.
Die geschätzte Flugzeit beträgt derzeit acht Stunden, die Flugbedingungen
sind gut. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt bei uns an
Bord. Sobald wir unsere Reisehöhe erreicht haben, werden wir einen
Imbiss servieren, das Bord-Entertainment-System ist jetzt bereits aktiv.
Sollten Sie irgendwelche Wünsche oder Fragen haben, zögern Sie
bitte nicht, sich an meine Kolleginnen und mich zu wenden."
"Und, gefällt Dir der Flug bisher, Kuschelmaus?" fragte der
junge Mann in der dritten Reihe der Businessclass die junge Frau neben
sich. Sie waren frisch verheiratet und auf dem Weg in ihre Flitterwochen.
"Ich weiß nicht so recht", erwiderte sie nervös.
"Ich kann mich einfach nicht entspannen. Ich fühle mich der
Technik und dem Mann da vorne so hilflos ausgeliefert."
Ihr Mann nahm ihre Hände und streichelte sie sanft, gab ihr
Trost und Geborgenheit.
Über zweihundert Passagiere waren an Bord der nagelneuen Boeing
767. Geschäftsleute, Touristen... Amerikaner, Europäer, alles
bunt gemischt.
Die erste Klasse war für die übrigen Passagiere gesperrt,
da einige hochrangige Politiker mit an Bord waren. Ein Baby schrie, ein
Manager arbeitete mit seinem Notebook und die Stewardessen begannen mit
dem Bordservice.
"Papi, Papi, schau! Da ist ein Drache vor dem Fenster!"
Der überraschte Ausruf des kleinen Kindes irgendwo im Flugzeugheck
drang vor bis in die Businessclass.
Der junge Mann lächelte seine Frau an: "Und ich habe schon
geglaubt, die heutigen Kids stehen nur noch auf Gameboy oder surfen im
Internet. Schön, dass sich einige doch noch ihre eigne Phantasie bewahrt
haben. Hoffentlich wird unserer auch so."
Liebevoll strich er seiner Frau über ihren leicht gewölbten
Bauch.
Da bemerkte er ihre vor Schreck weit aufgerissenen Augen und wie
ein Schatten vor dem Fenster plötzlich die Sonne regelrecht verschluckte...
.
"MAYDAY, MAYDAY, MAYDAY Calling all Stations. Hotel Echo Charlie
Delta Hotel William-Tell-Air 6-3-6, calling all stations, William-Tell-Air
6-3-6 in great difficulty, declaring an emergency..."
Damit brach der Kontakt zu dem Flugzeug ab.
Die entsetzten Fluglotsen im Tower des Genfer Flughafens sahen hilflos
ein zweites Radarecho als roten Punkt neben dem des Flugzeugs aufblitzen.
Einen Moment später verschmolzen die beiden Punkte auf dem Radarschirm
und erloschen.
Die Passagiere im Heck hörten gerade noch das grausige Geräusch
berstenden Metalls und Kunststoffs, als das hintere Drittel der Boeing
regelrecht abgerissen wurde und nur noch wenige von ihnen hatten genug
Zeit, die sichelartige Krallen durch die Flugzeugwand dringen zu sehen,
bevor sie durch den gewaltigen Luftsog der Dekomprimierung der Kabine ins
Freie gezogen wurden.
***
Besessen von dem Wunsch, diesen fremden Jungdrachen für das
Eindringen in sein Revier mit dem Tod zu bestrafen, war Blazestorm kaum
noch in der Lage, seine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Er konzentrierte
sich darauf, den Eindringling noch in der Luft abzufangen und ihn ohne
Umstände in Stücke zu reißen.
Sein Blick trübte sich und er hatte das Gefühl, die Kontrolle
über seinen eigenen Flug zu verlieren und abzustürzen. Aber noch
immer schlugen seine Flügel im gewohnt gleichmäßigen Rhythmus.
Er konnte nichts mehr erkennen, lediglich die Gegenwart des Drachens
spüren, als er über dem Rivalen in Stellung ging. Mit einem markerschütternden
Brüllen stürzte er sich auf ihn und packte ihn mit seinen Vordertatzen.
Blazestorm zog ihn zu sich heran und ergriff den Hinterleib des Eindringlings
mit seinen hinteren Tatzen, um ihn einfach auseinanderzureißen. Doch
anstatt eines berstenden Schuppenpanzers und warmen Fleisches fühlte
er kühles Metall zwischen seinen Pranken...
Allmählich klärte sich sein Blick.
"Was ist das?!"
Sein überraschter Ausruf ging in ein zorniges Grollen über
und er riss diese bizarre Karikatur eines Drachens mit seinen Klauen in
Stücke.
"Was für eine Art Drache bist Du? Gehüllt in eine Rüstung,
genau wie sie diese elenden drachentötenden Ritter tragen? Bist Du
einer von ihnen? Bist Du ein Reittier eines solch verdammten Menschen?"
Aber er erhielt von diesem Drachen keine Antwort und Blazestorm
beobachtete, wie der geschlagene Gegner gegen eine Bergwand prallte und
mit gewaltigem Donner in Flammen aufging.
Was hat das alles zu bedeuten? Wo bin ich? Was geschieht
mit mir?
Blazestorm verlagerte sein Gewicht und ließ sich tiefer sinken,
er hatte einen geeigneten Landeplatz in einem von zwei hohen Gebirgszügen
begrenzten Tal entdeckt.
Er schaute sich um und musste feststellen, dass dies nicht die vertrauten
Berge waren, die er als letzte Ruhestädte seiner geliebten Gefährtin
gewählte hatte.
Wo, bei den Göttern, bin ich?
Langsam wurde ihm bewusst, dass er jegliche Orientierung verloren
hatte. Zu allem Überfluss entflammte in ihm nun ein wahrer Heißhunger.
Er gelangte zu der Erkenntnis, dass er, wollte er wirklich zu Starbolts
Grabeshöhle zurückkehren, um dort an ihrer Seite auf seinen eigenen
Tod zu warten, dazu seine gesamten Kraftreserven mobilisieren müsste.
Er brauchte Nahrung - jetzt und hier.
Er erkundete die Gegend und fand schließlich ein großes
aus Stein und Holz errichtetes Gebäude. Gleich daneben auf einer Wiese
befand sich eine große Rinderherde. Hoch erfreut wählte er sich
eine große Kuh aus und flog mit ihr in seinen Fängen davon.
Wenn er erst einmal seinen Magen gefüllt hatte, würde er seine
Lage gründlich überdenken können. Er konnte keine Bäume
finden, in deren Schutz er seine Beute verzehren konnte, es gab nur große
Weideflächen, durchschnitten von eigenartigen, grauen Steifen. Schließlich
landete er in der Nähe eines solchen Streifens grauer, harter Erde.
Gierig riss er große Fleischstücke aus seiner Beute und verschlang
sie nahezu ungekaut.
Sein Hunger war noch nicht ganz gestillt, als eine Bewegung in der
Ferne seine Aufmerksamkeit erregte. Ein Brummen war zu hören, etwas
glitzerte metallisch auf diesem Streifen dunklen Untergrundes. Blazestorm
fühlte sich vage an jene Gefährte erinnert, in denen Menschen
saßen und die von Rindern oder Pferden gezogen wurden. Aber da waren
keine Pferde, die dieses... Ding bewegten, dennoch bewegte es sich schnell.
Und es kam direkt auf ihn zu.
***
Der altmodische Wecker schellte pünktlich um halb fünf
morgens. Antonello Varini quälte sich gähnend aus seinem warmen,
weichen Bett heraus.
"Und wieder ein Tag."
Seufzend ging er ins Bad, um sich zu rasieren und zu duschen. Erst
nachdem er seine Tiere, ein paar Milchkühe, mehrere Pferde und eine
Ziege, versorgt hatte, würde er frühstücken.
Antonello war Landwirt und seit dem tragischen Tod seiner Frau Monika
vor sechs Jahren bewirtschaftete er seinen Hof alleine.
Sein einziges Kind, eine Tochter, lebte mit einem amerikanischen
Geschäftsmann verheiratet in Chicago.
Antonello hatte nie daran gedacht, wieder zu heiraten. Er lebte
zurückgezogen mit seinen Tieren in den Schweizer Alpen und mied andere
Menschen so gut es ging. Nur einmal im Monat nahm er seinen alten Pritschenwagen
und fuhr in ein Dorf unweit von Genf, um seine Erzeugnisse auf dem Markt
zu verkaufen und Dinge des täglichen Bedarfs einzukaufen.
Obwohl er wie ein Einsiedler lebte, hieß das nicht, dass er
altmodisch war. Seine Ställe waren mit modernster Technologie ausgestattet
und er besaß ein neues Notebook mit Internetzugang. Auch wenn er
im wirklichen Leben mit der menschlichen Gesellschaft nichts am Hut hatte,
so chattete er doch für sein Leben gerne. Für ihn interessante
Foren und Chaträume gab es viele...
Seine Hauptleidenschaft waren jedoch Drachen, jene wunderschönen,
feuerspeienden Echsen aus der Mythologie. Tatsächlich legte er sich
den Internetzugang hauptsächlich deswegen zu. Er konnte mit Drachenfreunden
rund um den Globus in Kontakt treten und sich jede Menge an Informationen
über Drachen aus dem Netz laden, obwohl er bereits jedes über
dieses Thema erhältliche Buch besaß.
Antonello fütterte seine Tiere und erledigte die anfallenden
Stallarbeiten.
Es wurde schließlich acht Uhr morgens, als er sich für
seine Fahrt ins Dorf fertig machte. Er zog sein bestes Gewand an, sein
Lieferwagen war beladen, die Einkaufsliste war geschrieben und alles war
wie immer, wenn er ins Tal fuhr.
Nach dem harten und langen Winter war der Schnee Ende Mai
endgültig weggeschmolzen und die Straßen würden trocken
und frei sein.
Unterwegs fielen Antonello dutzende Polizeiautos und eine starke
Präsenz von Militärfahrzeugen auf.
Vielleicht ein Manöver, dachte er und schüttelte
den Kopf. Das war einfach typisch für die Schweiz: So ein kleiner
Staat und so viel Armee.
Und es könnte in Zukunft noch schlimmer werden, sinnierte
er weiter, als er an einem der höchst umstrittenen Wahlplakate zu
den Nationalratswahlen einer großen Volkspartei, die in der Eidgenossenschaft
endlich mehr Sicherheit schaffen wollte, vorbeifuhr. Es zeigte eine Gruppe
von Schafen, die einen schwarzwolligen Artgenossen aus ihrem Territorium
vertrieben. Offensichtlich liegt darin die Zukunft Europas, totale Überwachung
der Bürger, mit der man für mehr Sicherheit sorgt. Zum Schutz
der Eidgenossen kann man ruhig ein paar Bürgerrechte aufgeben, im
benachbarten Ausland klappt das doch auch ganz prima.
Verächtlich schnaubend schaltete Antonello einen Gang herunter,
als er an den betreffenden, etwas übereifrigen Politiker im Nachbarland
dachte. Nach einem Anschlag auf seine Person vor vielen Jahren schien dieser
nicht nur in seiner körperlichen Mobilität eingeschränkt
zu sein, zumindest lag dieser Gedanke nahe, wenn man die Beharrlichkeit
betrachtete, mit der er grundlegende Einschnitte in die Grundrechte seiner
Schutzbefohlenen forderte.
Aber eigentlich konnte es ihm egal sein und Antonello dachte nicht
mehr weiter über diese unerfreuliche Thematik nach.
Schließlich erreichte er den Marktplatz.
***
Es war kein sehr erfolgreicher Tag für ihn: Er verkaufte mit
Mühe und Not die Hälfte seiner Waren, die Leute schienen heute
jeden Rappen besonders oft umzudrehen. Abgesehen davon waren viel weniger
Leute als sonst unterwegs. Dafür hatte Antonello noch nie so viele
Kantonspolizisten und Soldaten in diesem Ort gesehen. Auch benahmen sich
die Menschen alle ein wenig seltsam. Natürlich lebten in einem solchen
Dorf viele alte Leute, die manchmal ein wenig wunderlich waren, abergläubisch
vor allem. Aber diesmal hatte er die phantastischsten Geschichten gehört,
zum Beispiel über einen gigantischen Adler, der hoch über den
Bergen gekreist haben sollte. Andere Leute hatten eine fliegende Untertasse
aus einer fernen Galaxie gesichtet. Es gab jedoch auch gemäßigte
Stimmen, die über einen Terroranschlag von Al Quaida spekulierten.
Schließlich hatte die Schweiz trotz ihrer Neutralität Hilfstruppen
in die Kriegsregionen von Afghanistan geschickt, um dort den Menschen humanitäre
Hilfe zu leisten. Wahrlich, keine einzige Nation der westlichen Welt konnte
vor dem internationalen Terrorismus sicher sein.
Antonello war froh, wieder mit seinem Transporter auf dem Heimweg
zu sein.
Heute Abend würde er sich bei einer guten Flasche Wein und
seiner Lieblingsmusik einen gemütlichen Leseabend machen, denn er
hatte in dem lokalen Buchladen völlig überraschend das Buch Die
Rückkehr der Drachen entdeckt. Laut Aussage des Verkäufers
war diese Drachenkurzgeschichtensammlung in der Fantasyszene ein absoluter
Geheimtipp.
Seine Stimmung, die sich nur aufgrund der Aussicht auf den schönen
Abend gebessert hatte, sank wieder auf den Nullpunkt, als er die Nachrichten
in seinem Autoradio hörte: Die üblichen Meldungen über Kriege
und Korruptionen, über Naturkatastrophen und dass ein Bauer namens
Wesseli
einen Preis für seine Kuh Elsa gewonnen hatte, da sie das größte
Euter hatte...
Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch geweckt, als der Nachrichtensprecher
die neuesten Einzelheiten über eine große Tragödie ankündigte,
die sich erst ein paar Stunden zuvor ereignet hätte.
"Schweiz - Vereinigte Staaten von Amerika. Bei dem Flugzeugabsturz
in den Schweizer Alpen hat sich die Zahl der Toten auf 212 Menschen
erhöht. Nach bisherigen Erkenntnissen kollidierte um die Mittagszeit
eine Boeing 767 der William-Tell-Air auf ihrem Weg von Genf nach Washington
D.C. mit einem bisher nicht identifizierten Flugobjekt. Ein terroristischer
Akt kann hierbei nicht ausgeschlossen werden, da sich an Bord der Maschine
der US-Verteidigungsminister und andere hochrangige Politiker befanden..."
Kopfschüttelnd schaltete Antonello das Radio aus. Was für
ein Tag! Aber das würde die Präsenz von so viel Gendarmerie und
Militär erklären... und das dumme Gerede überall. Das war
wohl auch der Grund, warum so viele Leute ihr Haus nicht verlassen hatten,
um zum Markt zu gehen - sie hatten Angst vor weiteren Anschlägen.
Er gab Gas, soweit das bei dem alten Lastwagen noch möglich
war und dann sah er es...
Ein riesenhafter Schemen kauerte neben der Straße vor ihm und
der zerfetzte Kadaver einer Kuh blockierte die rechte Fahrbahn.
Antonello brachte geistesgegenwärtig sein Fahrzeug zum Stehen
und Ekel überfiel ihn bei diesem Anblick. Und dann starrte er direkt
in das riesengroße Auge eines Adlers... Nein, es war ein Reptilienauge,
das Auge eines Dinosauriers... oder...
Oh, mein Gott! Das gibt’s doch gar nicht!
Antonello bekreuzigte sich.
"Herr, das ist unmöglich. Ein Drache!"
So sehr überwältigt von dem Gedanken, einen leibhaftigen
Drachen vor sich zu haben, war er sich nicht einmal der Gefahr bewusst,
in der er sich befand. Dieses Wesen war in der Lage, ihn mitsamt seinem
Wagen augenblicklich zwischen den Zähnen zu zermalmen. Aber Antonellos
Gehirn hatte aufgehört zu arbeiten: Wie in Trance öffnete er
langsam die Tür seines Autos, stieg aus und ging mit unsicheren Schritten
geradewegs auf das riesige Geschöpf zu...
***
Blazestorm beobachtete, wie ein Mensch aus dieser pferdelosen Kutsche
kletterte und er erhob sich schließlich, als er diesen Mann auf sich
zukommen sah. Er stand einem weiteren Angehörigen des Menschengeschlechts
gegenüber, das ihm mit dem Mord an seiner Gefährtin so viel Leid
zugefügt hatte. Und Blazestorm hatte jetzt die Möglichkeit und
auch die Absicht, ihn zu vernichten.
Der Drache ließ ein donnerndes Brüllen ertönen,
entblößte dabei sein grausames, todbringendes Gebiss. Er wollte
sich an der Furcht des Menschen ausgiebig ergötzen, bevor er ihn vom
Erdboden vertilgen würde. Er überlegte sich gerade eine möglichst
qualvolle Hinrichtungsmethode, als ihn der Mensch vor ihm mit einem völlig
unerwarteten Verhalten überraschte.
Der Mann fiel auf seine Knie, schaute auf zu dem riesigen Geschöpf,
das im Begriff war, sein Leben zu beenden, und rief aus: "Dem Herrn sei
Dank! Ein Drache! Endlich! Endlich ein Drache..."
Dies brachte Blazestorm so sehr aus dem Konzept, dass er seinem drängenden
Verlangen, ihn mit einem gut gezielten Prankenhieb niederzustrecken, vorerst
widerstand. Er wollte zunächst herausfinden, was dieser Mann im Schilde
führte. Der Mensch hatte offenbar vor Angst seinen Verstand verloren
oder er war einfach ein armseliger Narr, jedenfalls schien er sehr, sehr
aufgeregt. Der Drache verstand nur wenig vom dem, was der Mensch faselte.
"Ich hab’s gewusst! Mein ganzes Leben lang! Ich habe immer gewusst,
dass Drachen wirklich existieren! Ich.... Was soll ich sagen... Mein ganzes
Leben habe ich mir gewünscht, einen Drachen zu treffen, und jetzt...!
Oh, Gott, ich danke Dir! Lord Drache...!"
Die Worte sprudelten aus seinem Mund und noch bevor Blazestorm überhaupt
wusste, wie ihm geschah, brachte der Mensch seine totale Unterwerfung gegenüber
dem Drachen zum Ausdruck: "Lord Drache, bitte, lasst mich Euer untertänigster
Diener sein. Ich möchte Euch mein Leben weihe..."
Um den Redefluss zu stoppen, schlang der Drache seinen Schwanz um
die Knöchel des Mannes und riss ihn damit zu Boden. Blazestorm nagelte
den Menschen mit seiner rechten Vorderpranke fest, stellte sich über
ihn, seine Schnauze zwei Zentimeter vom Gesicht des Mannes entfernt.
"Sei still!" brüllte er und tatsächlich, der Mensch verstummte.
"Ich habe keinen Bedarf für einen Diener. Doch ich weiß
Deinen Mut, zu mir zu sprechen, zu schätzen. Darf ich Deinen Namen
erfahren, bevor ich Dein Leben beende?"
Eine scharfe Kralle drückte gegen seinen Kehlkopf.
"A-Antonello. Antonello Varini."
"In Ordnung, Du sollst nun auch meinen Namen erfahren: Euch Menschen
bin ich als Blazestorm bekannt", erwiderte der Drache und entblößte
in einem angedeuteten Lächeln seine schaurigen Zähne, bevor er
fortfuhr.
"Und nun, Antonello Varini, sprich Dein letztes Gebet."
"Warum willst Du mich töten? Ich glaube, ich habe Dir nichts
getan. Wirklich, ich habe Drachen immer geliebt und..."
"Genug!" unterbrach ihn der Drache mit zornigem Knurren.
"Du bist ein Mensch. Das allein ist Grund genug Dich zu vernichten.
Und nun..."
Antonello wurde klar, dass dieses Geschöpf tatsächlich
im Begriff war, ihn zu töten.
Er schloss die Augen, sich seinem Schicksal fügend. Blazestorm
holte tief Luft, bald würde der Körper des Menschen nur noch
ein Haufen Asche sein.
Aber der brennende Schmerz blieb aus. Der hilflose Mensch musste
weiterhin unter der Drachenklaue verharren.
"Ich will Dein Leben doch noch eine Weile verschonen. Du sollst
mir erzählen, wo ich hier bin. Was ist mit meinen Bergen und meinen
Wäldern geschehen? Warum sind hier keine anderen Drachen?"
"Ich...ich weiß nicht, wovon Ihr redet, Lord Drach..."
"Falsche Antwort, Zweibeiner", sagte der Drache und seine Klaue
schnitt tief in Antonellos Schulter.
"Ihr seid der einzige Drache, den ich je in meinem Leben gesehen
habe und niemand hat seit vielen Jahrhunderten einen Drachen gesehen. Ihr
befindet Euch in den Ausläufern des Mont Blanc-Gebirges nahe des Genfer
Sees, Schweiz, Europa, Planet Erde. Wir haben Mai 2007", presste er zwischen
seinen Zähnen hervor.
Blazestorm zog seine Klaue zurück und erlaubte ihm aufzustehen,
sichtlich verwirrt von dem, was er gerade gehört hatte.
Er knurrte ärgerlich, sein stachelbewehrter Schwanz schlug
nach links und nach rechts.
"Ich verstehe nicht, was Du mir erzählst. Wahrscheinlich spielt
es auch keine Rolle. Ich sollte Dich hier und jetzt töten!"
Gewehrschüsse und Stimmengewirr retteten das Leben des Menschen
und ließen den Drachen herumfahren.
"Was ist das?"
"Das sind... - oh, verdammt!", rief Antonello aus.
"Das Bundesheer! Sie werden Euch töten! Fliegt weg Blazestorm,
bringt Euch in Sicherheit!"
Der Drache bewegte sich nicht, er konnte seinen Ohren nicht trauen.
Da stand nun ein Mann vor ihm, der sich offensichtlich mehr um das Entkommen
des Drachens sorgte als um seine eigene Rettung vor eben diesem Drachen.
"Ich könnte Euch helfen, wenn Ihr mein Leben verschont, Lord
Drache."
Blazestorm kniff die Augen zusammen und fixierte den Menschen.
"Warum solltest Du mich retten wollen?"
"Weil...weil Ihr ein Drache seid."
"Was schwätzt Du da für Unfug? Wahrlich, ich sollte Dich
jetzt besser töten!"
"Nein! Bitte, vertraut mir, Lord Drache, lasst mich Euch helfen..."
"Du bist ein Mensch. Einem Menschen kann man nicht vertrauen!"
"Wir haben nicht die Zeit, darüber jetzt zu streiten!" schrie
Antonello und als die ersten Soldaten eintrafen, drängte er: "Folgt
meinem Auto. Fliegt los und folgt mir zu diesem Berg, ich lebe dort!"
Er deutete zuerst auf seinen Lieferwagen, dann auf einen der Berggipfel.
Just in diesem Augenblick durchschlugen mehrere Kugeln die Windschutzscheibe
von Antonellos Fahrzeug.
"He, Sie! Ja, Sie dort drüben! Sofort stehen bleiben! Das ist
ein Befehl! Was ist das für ein Ding dort drüben?" rief einer
der Soldaten Antonello zu.
Mehrere Maschinengewehre und Automatikpistolen waren auf Mensch
und Drachen gerichtet.
Der Soldat, der gerufen hatte - offensichtlich der Kommandant -,
ging einen Schritt vorwärts. "Nicht bewegen, bleiben Sie, wo Sie sind,
und nehmen Sie die Hände hoch! Langsam, ganz langsam!" befahl er.
"Verdammt, Drache, Ihr müsst weg - sofort!" schrie Antonello
in Richtung des Drachens und sprang wieselflink auf sein Auto zu. Doch
beim Öffnen der Wagentür traf eine Kugel seine Schulter und ließ
Antonello vor Schmerz aufschreien. Zitternd presste er seine Hand auf die
hässliche Schusswunde.
Blazestorm war verwirrt. Was waren das für seltsame Gegenstände,
die diese Zweibeiner in ihren Händen hielten? Eigentlich spielte das
aber keine große Rolle für ihn: Es handelte sich um Menschen,
eine offensichtlich besondere Art von Rittern, gleichwohl mit der Absicht
ihn zu töten, und obwohl sie ihm zahlenmäßig überlegen
waren, er war um einiges stärker als sie. Ohne Vorwarnung äscherte
sie der Drache mit einem verheerenden Flammenstoß ein. Im selben
Augenblick setzte Antonello seinen Lieferwagen in Bewegung.
Blazestorm sah dem Fahrzeug nach, immer noch erstaunt über das
Handeln dieses Menschen, und weil ihm keine bessere Alternative einfiel,
schwang er sich in die Lüfte und folgte Antonello zu seinem abgelegenen
Hof.
***
Nahezu gleichzeitig erreichten Drache und Mensch Antonellos Hof.
Trotz seiner schweren Verwundung und Erschöpfung machte sich Antonello
sofort daran, einen sicheren Unterschlupf für den Drachen zu finden,
eine geräumige Höhle, in der er sich zurückziehen konnte.
Zu Antonellos grenzenloser Überraschung bestand der Drache jedoch
darauf, sich zunächst um die Verletzung des Menschen zu kümmern.
"Deine Wunde ist tief", knurrte Blazestorm, als er sich Antonellos
Wunde näher besah, "und sie ist von völlig anderer Beschaffenheit
als die Verletzungen, die ich bisher bei verwundeten Kreaturen gesehen
habe."
Schließlich entdeckte er die Kugel, die immer noch tief im
Fleisch steckte, und ohne jede Vorwarnung zog er sie mit seinen rasiermesserscharfen
Klauen heraus. Antonello brüllte erneut vor Schmerz auf, der Ohnmacht
nahe, aber nun war es ausgestanden. Mit einem gezielten, feinen Feuerstrahl
aus seinen Nüstern desinfizierte und versiegelte Blazestorm die blutende
Wunde.
"Ich danke Euch, Lord Drache."
Antonellos Stimme war heiser, der rasende Schmerz ließ nur
allmählich nach.
"Und jetzt müssen wir einen geeigneten Platz für Euch
finden. Ich versichere Euch, sie werden Euch niemals aufspüren. Ihr
werdet hier in Sicherheit sein."
Da es bereits dunkelte, zeigte Antonello auf das große Gebäude,
das an das Wohnhaus angrenzte.
"Dieser Stall ist unbenutzt. Und er müsste groß genug
für Euch zu sein."
"Warum nimmst Du das alles auf Dich, Antonello?"
Die Stimme des Drachen war überraschend sanft und leise.
"Naja, ich kann doch nicht so ein prächtiges Geschöpf
wie Euch dem Militär ausliefern, Lord Drache. Man würde Euch
in ein Labor stecken und dort grausame Experimente mit Euch durchführen,
Euch zu Tode quälen", erwiderte Antonello ein wenig verlegen.
Der Drache dachte einen Augenblick nach über Antonellos Worte,
die von Herzen zu kommen schienen, und sprach dann: "Es tut gut zu wissen,
dass es doch ein paar wenigen Menschen nicht nach unserem Tode gelüstet.
Dir scheint meine Art wirklich am Herzen zu liegen, nicht wahr?"
"Oh ja, Lord Drache. In der Tat, mehr als alles andere. Mein ganzes
Leben lang habe ich davon geträumt, einmal einem leibhaftigen Drachen
zu begegnen. Ich habe immer gehofft, dass Drachen existieren, aber mein
Verstand bezweifelte Eure Existenz. Ich bin so glücklich, dass Ihr
jetzt vor mir steht und mit mir sprecht, Lord Drache. Dafür bin ich
gerne bereit zu sterben, jedoch bitte ich Euch um die Gnade eines raschen
Todes, ehrenwerter Lord Drache."
Augenscheinlich wurde Antonello wieder von seinen Gefühlen überwältigt
und Blazestorm war peinlich berührt, als sich der Mann erneut vor
ihm auf die Knie warf. Er zitterte am ganzen Leib.
"Bitte, Antonello. Dieser Anblick ist erbärmlich und er widert
mich an. Steh augenblicklich wieder auf und schau mir in die Augen... Ich
trachte nicht länger nach Deinem Leben. Und hör vor allem auf,
mich Lord Drache zu nennen."
Blazestorm senkte seinen Kopf, und schnaubte den Menschen an, ihm
dabei tief in die Augen blickend.
Antonello schaute zu dem Drachen auf, schniefte und wischte eine
Träne fort. In einer plötzlichen Gefühlsaufwallung sprang
er auf und schlang seine Arme um den Hals des Drachen.
Vorsichtig wand sich Blazestorm aus seiner Umarmung und trat einen
Schritt zurück, leise grollend: "Lass das sein, das ist kein gebührliches
Verhalten gegenüber einen Drachen. Im Übrigen brauche ich auch
keinen Diener und ich lege auch nicht im Geringsten Wert darauf, einen
Zweibeiner um mich herum zu haben."
"Wie auch immer", fuhr Blazestorm fort, den verzagten Blick Antonellos
genau registrierend, "mit Deinem Handeln hast Du Dich selbst von Deinen
eigenen Leuten entfremdet, ein hoher Preis für Deine Drachenliebe.
Man wird sehen... Jetzt allerdings sollten wir uns besser zur Ruhe begeben."
Damit schlüpfte der Drache ohne ein weiteres Wort in die Scheune,
Antonello keines Blickes mehr würdigend.
Antonello seufzte leise und begab sich in seinem Haus ebenfalls zur
Ruhe.
Es war für ihn ein anstrengender Tag gewesen und so viel war
passiert. Schon bald fiel er in einen Schlaf und träumte: Als tapferer
Ritter in glänzender Rüstung focht Antonello eine furchtbare
Schlacht. Er musste seine große Liebe, einen edlen Drachen, aus den
Klauen einer widerlichen und bösartigen Jungfrau retten...
***
Am nächsten Morgen wurde Antonello von einem Geräusch geweckt,
das von einem Hubschrauberrotor zu stammen schien. Er stand auf und dann
fiel es ihm wieder ein... der eigenartige Traum, der Drache...
Der Drache?
Er stürmte aus dem Haus über den Hof zur Scheune und öffnete
langsam die Stalltür. Der Stall war leer. Der Drache war fort.
"Oh, nein!"
Antonello war enttäuscht, andererseits, es wäre auch zu
schön gewesen, um wahr zu sein.
War es doch nur eine Einbildung, ein Traum? Hätte ich ihn
doch nur fotografiert.
Er trat zurück in die Morgensonne. Die Morgenluft war erfüllt
von Wildblumenduft und traurig klingendem Vogelgezwitscher in der Ferne.
Ein anderer Ton mischte sich darunter, ein Brummen, irgendwo hinter und
über ihm. Er drehte sich rasch um und schaute hoch.
"Oh, Mann!" rief Antonello erfreut aus, "Du bist doch da geblieben!"
Der Drache antwortete mit einem gemessenen Kopfnicken: "Du bist
früh auf, Mensch."
"Darf ich Dich etwas fragen?"
Schon seit sich der Drache am Abend zur Ruhe begeben hatte, beschäftigte
Antonello eine Frage und er hatte hin und her überlegt, wie er sie
am besten formulieren könnte.
"Was möchtest Du wissen?"
Der Drache ließ sich nieder und legte sorgfältig seinen
Schweif um seine Hinterläufe.
Antonello errötete leicht.
"Ich hoffe, Du verstehst mich nicht falsch. Aber, nachdem, was gestern
passiert ist..."
"Ja?" unterbrach Blazestorm und senkte seinen Kopf, damit er auf
Augenhöhe mit Antonello war.
Dieser trat beinahe reflexartig einen Schritt zurück.
"Naja, was hat Dich dazu veranlasst, Deine Meinung zu ändern?"
"Welche Meinung? Ich habe meine Meinung nicht geändert. Ich
bin nicht an der Gesellschaft eines Zweibeiners interessiert und sobald
ich weiß, wie ich in meine Berge zurückkomme, werde ich gehen.
Es tut mir leid, wenn Dich das enttäuscht. Aber Drachen und Menschen
sollten jeder für sich bleiben, das erspart viel Leid und Kummer auf
beiden Seiten."
"Aber, das meine ich gar nicht", wandte Antonello schüchtern
ein.
"Was denn dann?"
Blazestorms Stimme war knurriger als er eigentlich beabsichtigt
hatte, dennoch waren seine Augen zu Schlitzen verengt.
"Ich wollte wissen, weshalb Du Dich entschlossen hast, mein Leben
zu verschonen. Ich wurde Zeuge, wie Du gestern Menschen getötet hast
und mich wolltest Du auch vernichten, nur weil ich ein Mensch bin."
Die Drachenschwanzspitze klopfte auf den Boden, als Blazestorm antwortete:
"Nun, Du hast mich vor diesen Menschen gerettet, die mich angegriffen haben.
Dein Leben gegen meines."
"Das ist alles?" fragte der Mann ungläubig.
Blazestorm erhob sich und hob drohend eine Tatze.
"Das ist alles, Mensch. Oder was dachtest Du denn? Dass ich Mitleid
mit Dir gehabt habe?"
Antonello schüttelte den Kopf.
"Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich für eine Antwort
erwartet habe."
"Ich will Dich nicht von der Erledigung Deiner täglichen Pflichten
abhalten. Ich gedenke nicht, Deine Hilfe über Gebühr in Anspruch
zu nehmen", beendete Blazestorm das Gespräch.
Rasch wandte sich Antonello ab.
Natürlich war ihm klar, dass der Drache niemals bleiben würde.
Dennoch, der Gedanke an einen Abschied erfüllte ihn mit Trauer. Vielleicht
wäre es das Beste, wenn der Drache einfach so davon fliegen würde,
irgendwann, ohne ein Wort des Abschieds.
Er ergriff seufzend seine Schubkarre und begann mit der Stallarbeit.
Nach seinem üblichen Arbeitspensum am Hof machte sich Antonello
daran, die Scheune für seinen neuen Gast wohnlicher zu gestalten.
Mit dem Hintergedanken, in dem umfunktionierten Stall die Abende mit dem
Drachen zu verbringen, stellte er auch einen kleinen Fernsehapparat auf,
den er noch auf dem Dachboden gefunden hatte.
Tagsüber blieb der Drache in der Scheune, um zu schlafen oder
vertrieb sich die Zeit mit Fernsehen. Er hatte schon bald gelernt, mit
einer Krallenspitze die entsprechenden Knöpfe und Tasten zu bedienen.
Er verließ seine Unterkunft ausschließlich im Schutze
der Dunkelheit, um sich die Flügel zu strecken, wie Blazestorm
es ausdrückte. Er schlug Hirsche oder ähnliche Beute in den umliegenden
Wäldern, ab und an griff er sich auch eine altersschwache Kuh von
einer Weide. Jede zweite Nacht gönnte er sich sogar ein erfrischendes
Bad im Genfer See; Drachen waren schließlich sehr reinliche Tiere.
Die Morgen- und Abendstunden verbrachten Drache und Mensch für
gewöhnlich zusammen in der Scheune, da Antonellos Haus nicht ausreichend
Platz bot für ein solch großes Geschöpf. Antonello nutzte
die gemeinsame Zeit, dem Drachen vieles aus seinem Leben zu erzählen,
und auch Blazestorm hatte viele Geschichten über seine alte Heimat
und über seine Vergangenheit zum Besten zu geben. Antonello erfuhr
auf diese Weise viel über das Leben im Mittelalter, über Ritter
und Bauern und über die unglaubliche Macht, die einst vom Papst in
Rom ausging. Vor allem aber bekam er einen tiefen Einblick in das Drachenwesen.
Im Gegenzug unterwies Antonello den Drachen in verschiedenen Dingen des
modernen Alltagslebens, machte ihn mit den Sitten und Gebäuchen der
Menschen des 21sten Jahrhunderts vertraut und erläuterte ihm menschliche
Technologien, er zeigte ihm sogar den Umgang mit seinem Notebook und dem
Internet.
Eines Abends überraschte Antonello seinen Gast mit einem besonderen
Geschenk: Speziell für Drachentatzen hatte er eine externe Tastatur
für das Notebook konstruiert, damit sich Blazestorm leichter tat bei
der Benutzung des Laptops: Jede Taste hatte eine Größe von drei
Quadratzentimetern.
Sie wurden bald Freunde, auch wenn Antonello anfangs sehr schockiert
von Blazestorms Bericht über den gewaltsamen Tod seiner geliebten
Gefährtin Starbolt und der detaillierten Beschreibung der Exekution
des Mörders gewesen war.
"...Aber, fünf Tage Folter! Das ist barbarisch! Dazu hattest
Du einfach nicht das Recht, Du warst damit keinen Deut besser als dieser
Ritter!"
"Ich hab’s Dir doch schon etliche Male gesagt, Freund Antonello,
ich bin wahrlich nicht stolz auf meine Tat", grollte Blazestorm, als Antonello
sich zum sechsten oder siebten Mal darüber echauffierte, dass sein
geschuppter Gast einen Menschen getötet hatte.
"Es war grausam von mir und gewiss auch falsch, da stimme ich Dir
zu, aber ich bitte Dich, Freund Antonello, bitte verurteile mich nicht
allein auf Grund dieser einen Tat! Es geschah in Rage und im blinden Hass,
aber ich kann es nicht mehr ungeschehen machen, genauso wenig, wie Du meine
Gefährtin ins Leben zurückrufen könntest. Niemals zuvor
in meinem ganzen Leben habe ich freiwillig getötet, schon gar nicht
auf so grausame Weise, wie ich es bei dem Ritter getan habe. Ich habe stets
danach getrachtet, mein Leben als gutartiges und friedfertiges Wesen zu
führen, und es würde mir sehr wehtun, wenn ich wüsste, dass
Du mich als ein blutrünstiges Ungeheuer ansiehst. Bitte, betrachte
mich nicht in diesem falschen Licht, Freund."
"Vergib mir, Freund Blazestorm... Ich wollte Dich nicht verletzen.
Ich weiß natürlich, dass man niemanden nach einer einzelnen
Tat beurteilen sollte."
"Es sei Dir vergeben, Freund Antonello", seufzte Blazestorm und
fügte ein klein wenig grollend hinzu: "Wie bisher jedes Mal, wenn
Du wieder mit dem Disput angefangen hast. Ich finde, dieses Kapitel sollte
nun ein für allemal abgeschlossen sein."
***
In der Abgeschiedenheit von Antonellos Hof war es dem Drachen ein
leichtes, unentdeckt zu bleiben und niemand würde auch nur auf die
Idee kommen, dass mitten in den Schweizer Alpen sich ein Wesen tummelte,
das an sich außerhalb der Sagenwelten niemals existiert hatte.
Der Flugzeugabsturz war bald vergessen. Die Öffentlichkeit
ging davon aus, dass einige islamistische Fundamentalisten einen Terroranschlag
verübt hatten, zumal erst kürzlich wieder auf europäische
Soldaten in Afghanistan Anschläge verübt worden waren.
Auch für die verkohlten Leichen der Soldaten gab es eine plausible
Erklärung: Schließlich war einer der Soldaten Augenzeuge der
Explosion
gewesen und hatte in dem Fahrer des sich schnell entfernenden Lieferwagens
einen international operierenden Top-Terroristen erkannt. Es war für
alle offensichtlich, dass dieser Mann die Soldaten, die ihn zu stellen
versucht hatten, mit einer Granate in den Tod gerissen hatte.
Damit war sowohl für die Zivilbevölkerung als auch für
die Regierung der Fall ad Acta gelegt.
Selbstverständlich hatte die amerikanische Regierung trotz
aller Proteste daraufhin in einem Akt der Vergeltung mehrere Stellungen
von Rebellen in den Krisenregionen Afghanistans, Iraks und im Westjordanland
angegriffen.
Offiziell wurde dies als Maßnahme zur Verhütung des
internationalen Terrorismus bezeichnet, an der sich auch einige Streitkräfte
der Europäischen Union beteiligt hatten.
.
Nur ein motivierter Jungjournalist, noch ziemlich am Anfang seiner
Karriere, wollte sich mit diesen offiziellen Verlautbarungen nicht so ganz
zufrieden geben. Abgesehen davon brauchte er dringend eine gute Story -
und zwar so rasch wie möglich. Gab es da nicht auch immer noch diese
Gerüchte über jenen riesenhaften Adler - oder was auch immer
für ein Wesen das sein sollte? Auch heute noch behaupteten etliche
Personen, dass sie dieses Tier mit eigenen Augen gesehen haben wollten.
Er hatte Politikwissenschaften studiert und war auch anerkannter
Experte in den Fragen des internationalen Terrorismus in all seinen Ausprägungen.
Sein Hobby war die zivile Luftfahrt, seine größte Leidenschaft
jedoch war die Kryptozoologie. Mit Sicherheit würden sich damit weitere
und gründliche Recherchen zu diesen Vorfällen für René
Perrier als sehr interessant und spannend erweisen.
***
Die Tage verstrichen und Mensch und Drache verbrachten ihre gemeinsamen
Stunden mit guten Gesprächen, mit Schach- oder Backgammonspielen oder
einfach zusammen vor dem Fernseher, wobei der Drache eine seltsame Vorliebe
für Politmagazine und Fußball entwickelte, sehr zum Verdruss
Antonellos, der sich mehr an Agentenfilmen oder Krimis erfreuen wollte.
Antonello gewöhnte sich mit der Zeit an die Eigenheiten seines geschuppten
Gastes und auch Blazestorm kam mit seinem Freund sehr gut aus.
Allmählich hatte Blazestorm auch seine Freude am Leben wieder
gewonnen und langsam begann er, den Tod seiner geliebten Starbolt zu akzeptieren
und darüber hinwegzukommen. Er kam irgendwann auch zu dem Schluss,
dass nicht alle Menschen die vollständige Vernichtung verdient hatten.
"Nichtsdestotrotz", stellte er zum wiederholten Male nach einer
Nachrichtensendung fest, "ich glaube, Deine Welt wäre ein besserer
Ort, wenn er von uns Drachen regiert würde. Es ist eine Schande, wie
Ihr Mutter Erde behandelt und es ist eine Schande, wie Ihr Menschen miteinander
umgeht. Kannst Du mir einen Grund nennen, weshalb es für Euch so wichtig
ist, dass eine weitere Palmölplantage mitten in die kümmerlichen
Überreste des Malaysischen Dschungels gepflanzt wird? Und weshalb
müsst Ihr Menschen Euch andauernd irgendwo auf dieser Welt treffen,
nennt dies dann Gipfel und kommt dennoch niemals zu brauchbaren
Beschlüssen, die anderen Menschen Nutzen bringen?"
Wie immer stimmte Antonello nickend zu - was hätte er auch
groß sagen sollen; Blazestorm hatte nur in Worte gefasst, was Antonello
immer schon empfunden hatte: Die menschliche Zivilisation war krank.
Dieses Kranksein der Menschheit, oder, wie Blazestorm zu sagen pflegte,
diese Blindheit, genügte den Drachen als Erklärungsansatz und
fortan nahm er alle Nachrichtensendungen unter diesem Aspekt zur Kenntnis.
Insgeheim kam er zu dem Schluss, dass die sogenannte menschliche
Zivilisation ohnehin bald aufhören würde zu existieren, wenn
nicht die Menschheit grundlegend umdenken würde. So war denn auch
der Film, der nach den Nachrichten im Fernsehen ausgestrahlt wurde, für
Blazestorm eine verheißungsvolle Abendunterhaltung: In diesem phantastischen
Abenteuerstreifen hatten die Drachen die Herrschaft über die Menschheit
erlangt und nun kämpften einige wenige Undankbare, wie er die
Filmhelden nannte, gegen die feuerspeienden Herren der Welt. Bald schon
wurde Blazestorm klar, warum Antonello diese Art von Film als Fantasyfilm
bezeichnete. Selbstverständlich würden diese kümmerlichen
Zweibeiner niemals die Drachen vernichten können...
Nur eines konnte Blazestorm in all der Zeit, die er bisher mit seinem
Freund verbracht hatte, einfach nicht verstehen: Warum zum Teufel verschwand
Antonello immer während ihrer gemeinsamen Zeit am Abend für etwa
eine Stunde? Wenn Blazestorm seinen Freund darauf ansprach, wich dieser
nur aus: Er habe vergessen, die Tiere zu füttern, oder er sei nur
rasch in den Keller gegangen, um nach der Waschmaschine zu sehen, oder
er habe etwas in seinem Schlafzimmer gesucht, Ausreden eben.
Anfangs hatte der Drache sich mit diesen Antworten zufrieden gegeben,
aber da es mit einer solchen Regelmäßigkeit geschah, wurde er
doch stutzig. Normalerweise wäre es ihm schlichtweg egal gewesen,
aber Blazestorm fühlte sich verletzt, weil ihn Antonello offensichtlich
für dumm verkaufen wollte.
Eines Abends gewann seine Neugier Oberhand und er beschloss, seinem
Freund zu folgen. Er musste einfach herausfinden, was Antonello ihm verheimlichte.
Vorsichtig folgte der Drache dem Mann und sah ihn in einem der Ställe
verschwinden.
Blazestorm spähte neugierig durch das kleine, staubige Fenster
und plötzlich verstand er. Er sah eine Weile zu und dann zog er sich
grinsend zurück.
***
"Oh nein, das gibt’s doch wohl nicht!" rief Blazestorm aus und sein
Schweif peitschte wütend hin und her.
"Hast Du das gesehen, Freund Antonello? Hast Du das eben gesehen?
Dieser elende, blinde Bastard, dieser... dieser Zweibeiner. Ich schwöre
Dir, wenn der mir je vor die Klauen kommen sollte... Zwischen meinen Zähnen
wird er enden!"
"Was ist denn los?" fragte Antonello und blickte von seinem Buch
auf, einerseits erschrocken und doch auch belustigt über den Wutausbruch
seines Freundes.
Der Drache warf ihm einen giftigen Blick zu.
"Das ist doch mal wieder typisch für Dich, unaufmerksam wie
eh und je", fauchte Blazestorm.
"Es ist doch wohl ganz eindeutig, dass hier der Schiedsrichter einen
Elfmeter hätte geben müssen."
Im Qualifikationsspiel zur anstehenden Fußballeuropameisterschaft
zwischen Italien und Deutschland war auch kurz vor Ende der zweiten Halbzeit
immer noch kein Tor gefallen -
der Drache fieberte für die Deutschen, die Italiener seien
ihm zu mager und zu zäh, wie er sagte -, als sich Antonello von seinem
Sessel in der Scheune erhob.
"Ich geh uns mal rasch Nachschub holen. Magst Du auch noch was zu
trinken?"
Der Drache seufzte.
"Du scheinst dich wirklich sehr einsam zu fühlen, Freund Antonello."
Diese Aussage ließ den Mann zusammenzucken.
"Einsam? Was meinst Du damit?"
Blazestorm schüttelte langsam den Kopf und in seinen Augen
lag tiefe Enttäuschung.
"Du weißt nur zu gut, was ich meine, Freund Antonello."
"Nein, ehrlich nicht. Ich wollte nur eben in die Küche gehen..."
"Komm, hör schon auf, mir etwas vorzumachen. Hast Du wirklich
geglaubt, Du könntest das vor mir auf ewig geheim halten?"
Antonello schickte sich an, den Raum zu verlassen.
"Entschuldige, ich weiß echt nicht, was Du von mir willst.
Wenn Du es vorziehst, in Rätseln mit mir zu sprechen..."
"Also gut, ganz wie Du willst, mein Freund", gab Blazestorm zurück
und imitierte unvermittelt das Meckern einer Ziege. Es klang recht lustig
aus der Kehle eines Drachen.
"Du... Du weißt es?" fragte Antonello betreten.
"Zerbrich Dir darüber nicht den Kopf, mein Freund Antonello",
zischelte der Drache leise. "Wir Drachen kümmern uns nicht sonderlich
um solche Dinge, musst Du wissen."
"Wie lange weißt Du es schon?"
"Lange genug. Aber ich hatte immer gehofft, Du würdest es Dir
von der Seele reden und Dein Herz erleichtern. Du vermisst Deine Frau sehr,
nicht wahr?"
Blazestorms Schnauze berührte beinahe das Gesicht des Menschen.
"Ich möchte nicht darüber reden."
"Warum nicht? Vielleicht solltest Du gerade das tun, für Dein
eigenes Wohlergehen. Antonello, sei vernünftig, Du kannst so nicht
länger weitermachen. Es verzehrt Dich...Vertrau Dich mir an, ich höre
Dir zu."
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, entfaltete der Drache seine
Schwingen und hüllte den Menschen darin ein, drückte ihn tröstend
an seine schuppige Brust.
"Du hast Sie wirklich über alles geliebt."
Das war keine Frage, es war eine Feststellung.
"Das habe ich. Und dieses Schwein hat alles zerstört."
"Was ist passiert, mein Freund?"
"Monika, meine Frau. Ihr Tod war so... sinnlos. Es war im Frühjahr
1994. Sie war mit ihrem Auto unterwegs, sie wollte ihren Bruder besuchen.
Die Polizei sagte später, der andere wäre sturzbesoffen gewesen,
an die zwei Promille. Dieser Bastard hatte den Unfall verursacht. Er hatte
nicht bei Rot angehalten - er war zu betrunken, um überhaupt die Ampel
zu bemerken. Für meine Frau kam jede Rettung zu spät. Das Schwein
überlebte. Sie haben ihn an Ort und Stelle festgenommen und ich war
davon überzeugt, dass er eine längere Haftstrafe aufgebrummt
bekommen würde. Aber er konnte sich einen Staranwalt leisten und er
kam tatsächlich frei. Das Bußgeld, das ihm auferlegt wurde,
war der reinste Witz."
Der Drache schwieg, er drückte den Menschen nur weiterhin an
sich.
"Durch das Ganze habe ich jeden Glauben an unsere Justiz verloren.
Als ich vor einigen Jahren zwei oder drei Musikdateien im Internet getauscht
habe, wäre ich damals beinahe ins Gefängnis gekommen und ich
habe weitaus mehr Strafe zahlen müssen als dieser Mörder - und
nichts anderes war dieser Bastard, ein elender, feiger Mörder, der
nicht einmal vor Gericht zu seiner Tat gestanden hatte. Aber so ist das
bei uns: Wenn Du Menschen tötest ist das, im Verhältnis gesehen,
weniger schlimm, als wenn Du Dir Musik aus dem Internet holst. Das ist
aber nicht nur bei uns so, sondern auch in allen anderen Ländern.
Jedenfalls, mir war dann alles egal. Ich habe jahrelang einen Rachefeldzug
geplant. Ich wollte diesen Kerl töten. Aber zu seinem Glück beging
er Selbstmord und entkam damit meiner Rache."
"Und später dann? Gab es danach keine andere Frau mehr,
in die Du Dich hättest verlieben können?"
"Nein, das konnte ich einfach nicht mehr. Jede Frau, die ich traf,
habe ich an meiner geliebten Monika gemessen."
Blazestorm seufzte und nach einer Weile sprach er sanft: "Antonello,
Du wirst sehen, irgendwann wirst auch Du wieder eine passende Gefährtin
finden. Dessen bin ich mir absolut sicher."
"Nein. Niemand kann an die Monika heranreichen."
"Aber sie ist tot und Du kannst es nicht ändern, Freund Antonello!"
rief Blazestorm, immer noch den Menschen mit seinen Flügeln ummantelnd.
"Auch meine geliebte Starbolt ist nur noch in meinem Herzen lebendig.
Du kennst die Geschichte, Freund Antonello. Auch ich habe das Wichtigste
in meinem Leben verloren. Tatsächlich war sie ein Teil von mir. Ich
habe lange gebraucht, darüber hinwegzukommen. Und es warst Du, mein
Freund Antonello, der mir gezeigt hat, dass das Leben weitergeht. Ich bin
wieder ins Leben zurückgekehrt. Aber im Gegensatz zu Dir werde ich
wohl niemals mehr die Gelegenheit haben, mich mit einer Drachin zu vermählen,
denn in dieser Welt bin ich der einzig existierende Drache. Ich kann mit
keinem Artgenossen sprechen, ich werde keinen anderen Drachen jemals zu
Gesicht bekommen. Ich bin ebenfalls einsam, mein Freund, einsam in dem
Sinn, der einzige Drache in dieser mir fremden Welt zu sein. Aber wenigstens
habe ich hier einen Freund gefunden, nämlich Dich."
Der Drache leckte flüchtig über das Gesicht des Menschen
und irgendwie genoss Antonello diese Nähe zu dem Drachen.
"Du bedeutest mir wirklich sehr viel, mein zweibeiniger Freund."
"Du mir auch", erwiderte Antonello schluchzend, er konnte seine
Tränen nicht mehr länger zurückzuhalten.
***
"Also gut. Ein Terroranschlag kommt definitiv nicht in Frage."
René war sehr zufrieden mit seinen bisherigen Ergebnissen.
Er hatte viele Wochen mit Recherchen in diversen Archiven und öffentlichen
Bibliotheken verbracht und zahlreiche Spezialisten vom Schweizer Geheimdienst
befragt. Er hatte mit den Leuten gesprochen, die das Flugzeugwrack untersucht
hatten und mit den Gerichtsmedizinern, die die verkohlten Leichen, oder
besser das, was von ihnen übrig gewesen war, identifizieren mussten.
Was auch immer den Unfall verursacht hatte, die Explosion war nicht von
einer an Bord gebrachten Bombe oder einer auf das Flugzeug abgefeuerten
Rakete ausgelöst worden. Auch technische Probleme - ein paar Monate
zuvor zum Beispiel führte ein Kabelbrand an Bord einer Tristar der
Canadian Airservices zu einer Tragödie über Neufundland - kamen
nicht in Frage.
Aber was sonst könnte der Auslöser für den Absturz
gewesen sein?
Genau das war der springende Punkt, diese Frage machte das Ganze
so spannend für René. Waren da irgendwelche übernatürlichen
Kräfte am Werk? Und was war dran an den Gerüchten über diesen
Adler oder Dinosaurier oder was auch immer? Bestand da irgendein Zusammenhang?
Jedenfalls war das alles reichlich Stoff für einen journalistischen
Knüller.
***
Blazestorm blickte zärtlich auf seinen Freund herab.
Es war kurz vor Sieben morgens und Antonello schlief noch, eng an
den weichen Bauch des Drachens gekuschelt. Es war das erste Mal, dass er
die Nacht bei seinem Freund in der Scheune verbracht hatte. Nur hätte
es sich Antonello niemals träumen lassen, wie laut ein Drache schnarchen
konnte.
"Höchste Zeit aufzustehen, Du Faulpelz", flüsterte Blazestorm
und stupste das Gesicht seines Gefährten mit der Schnauze an.
Der Drache unterstützte, so gut er es vermochte, Antonello bei
den täglichen Arbeiten auf dem Hof. War es anfangs nur eine bloße
Vermutung, so konnte man es mit der Zeit nicht länger übersehen:
Mit der Anwesenheit des Drachens wuchsen allmählich auch die Erträge
des Hofes. Antonello erzielte beträchtliche Gewinne aus den Verkäufen
seiner Produkte auf dem Markt, sein Viehbestand wuchs stetig und auch der
Mais gedieh prächtig, als er den organischen Dünger mit ein wenig
Drachendung anreicherte.
Auch wenn Blazestorm nur im Spaß die mögliche Vermarktung
seines Mistes anregte, versuchte es der geschäftstüchtige Landwirt.
Der Formula X Draconian Power Bio-Guano wurde schon bald
ein Verkaufsschlager:
Egal ob große Gärtnereibetriebe und Landwirte oder Hobbygärtner
und Topf- und Balkonpflanzenbesitzer, alle waren sie begeistert von den
Ergebnissen, die sie mit dem neuartigen Dünger erzielten.
Auf diese Weise gelangte Antonello nach vielen Jahren harter Arbeit
endlich zu ein wenig Wohlstand. Aber er vergaß nie den Grund für
seinen Aufstieg und er wurde niemals arrogant in seinem Erfolg. Seine Liebe
zu Blazestorm war tief und aufrichtig.
Blazestorm war glücklich, einen Gefährten gefunden zu
haben. Obgleich kein Drache, erkannte er in seinem menschlichen Gegenüber
eine Art Drachen-Seele, wie er es ausdrückte. So vergingen
die Tage und alles schien in bester Ordnung.
Trotz seines wirtschaftlichen Erfolges behielt Antonello sein Leben
als Einsiedler bei. Blazestorm war ihm Gesellschaft genug.
Aus diesem Grund fiel ihm auch nicht auf, dass er bald in das Blickfeld
seiner Mitmenschen geriet. Die Leute begannen, über seinen plötzlichen
Wohlstand zu reden und Missgunst ergriff schon nach kurzer Zeit ihre Herzen.
In der ersten Herbstwoche geschah es dann: Weite Teile Deutschlands,
Österreichs und der Schweiz wurden von schweren Unwettern und Stürmen
heimgesucht, Hagel und später Überschwemmungen zerstörten
Ernten und vernichteten viele Existenzen. Aber stets blieb Antonellos Hof,
abgesehen von einigen kleineren Schäden, wie durch ein Wunder von
diesen Katastrophen nahezu verschont.
Merkwürdig war auch, dass Antonellos Viehbestand nicht angesteckt
worden war, als einige Wochen zuvor eine Rinderseuche zahlreiche Kühe
in Europa dahinraffte.
***
"Ich sag’s Dir, dieser Mann steht mit dem Teufel im Bunde. Vielleicht
ist er ja gar selbst der Leibhaftige."
"Blödsinn! Varini hat einfach nur Glück."
"Ach, Glück nennst Du das? Und was ist mit der Kreatur,
die bei ihm haust? Dieser Adler?"
"Ich dachte, es wäre ein Saurier?"
"Oh Mann, was seid Ihr alle bescheuert. Nehmt doch nicht jedes Gerücht
im Umlauf für bare Münze. Dinosaurier sind schon lange ausgestorben."
"Aber da lebt ein Ungeheuer in den Bergen."
"Schmarr’n!"
"Kein Schmarr’n. Ich sag’ Dir, da ist ein Zusammenhang zwischen
dem Auftauchen dieses... Viehs und Varinis plötzlicher Glückssträhne.
Warum hat der Hagel nicht seine Ernte vernichtet? Warum hat er kein Vieh
verloren? Und dann, ist es nicht seltsam, dass er nach dem Tod seiner Frau
nicht mehr geheiratet hat oder auch nur eine Freundin hatte?"
"Alles hat mit diesem Flugzeugabsturz angefangen", dachte ein Mann
laut nach.
An den Stammtischen in den verschiedenen Wirtschaften wurde über
nichts anderes mehr diskutiert.
"Entschuldigen Sie bitte, meine Herren."
René hatte die Unterhaltung der fünf Männer am
Nebentisch genau verfolgt, eine alte Berufskrankheit.
"Glauben Sie, an den Geschichten über diesen Adler ist was
dran? Ich höre die Gerüchte über diesen Vogel seit dem...
Angriff auf das Flugzeug."
"Kein Adler, Monsieur. Ein Saurier."
"Nein, ein Drache, ich bin mir sicher, dass es ein Drache ist",
mischte sich ein älterer Mann ein.
"Guter Mann", René versuchte zu lächeln, um seine Aufregung
zu verbergen, "Drachen haben nie wirklich existiert. Sie sind nur Fabelwesen.
Außerdem gibt es keine Dinosaurier mehr, das weiß doch jedes
Kind."
"Ach ja? Und was glauben Sie, haust hier oben in den Bergen?
Ich sage es Ihnen. Es ist das Böse in Persona."
"Hat irgendwer jemals dieses... Ding mit seinen eigenen Augen gesehen?"
fragte René.
Der Mann verstummte.
"Um ehrlich zu sein, nein, niemand von uns hat je dieses Ungeheuer
zu Gesicht bekommen. Nur ab und zu wurde sein Schatten gesichtet."
René lächelte: "Und wo tauchte dieser Schatten
auf?"
"Naja, einige Male glitt der Schatten über den See dahin."
"Außerdem wurden zerfetzte Kadaver von Rehen und Hirschen
in den Wäldern gefunden. Aber hier gibt es keine Wölfe oder Luchse,
denen sie zum Opfer hätten fallen können, falls Sie das meinen",
fügte ein Mann hinzu.
"Das ist der Teufel. Und Varini hat ihm seine Seele verkauft. Das
erklärt, warum er plötzlich so wohlhabend wurde."
"Wer ist dieser Varini und wo wohnt er?"
Der Journalist versuchte seine Stimme sachlich klingen zu lassen.
Er musste unbedingt mit diesem Mann sprechen.
Oh Gott! Was für eine Story! Hörte sich beinahe nach einem
Bestseller von Stephen King an.
"Varini? Er ist ein Einsiedler, ein Sonderling. Er lebt oben auf
diesem Berg da..."
Man beschrieb ihm den Weg zu seinem Hof.
René spendierte den Leuten einige Runden und verließ
das Wirtshaus. Er ging zu einer Telefonzelle und suchte im Telefonbuch
die Nummer von Antonello.
"Pronto?"
"Monsieur Varini?"
"Ja, Varini hier."
"Ich heiße Perrier. René Perrier. Ich bin ein Reporter
von der Genfer Tageszeitung Le Courrier." Ich recherchiere wegen
des Flugzeugabsturzes im Mai. Darf ich vielleicht für ein Interview
bei Ihnen vorbeikommen?"
"Der Flugzeugabsturz? Also, ich dachte immer, so ein paar durchgeknallte
Muslime hätten das Aeroplan abgeschossen. Ich weiß beim besten
Willen nicht, inwiefern ausgerechnet ich ihnen behilflich bei Ihrer
Arbeit sein könnte. Aber von mir aus können Sie ruhig kommen.
Wann?"
"Passt es Ihnen morgen?"
Sie einigten sich auf eine bestimmte Zeit und der Reporter kehrte
sehr zufrieden in sein Hotel zurück.
***
Plötzlich dämmerte es ihm: "Das bist Du gewesen!
Du
hast das Flugzeug angegriffen und zum Absturz gebracht. Das war dieser
eiserne Drache, von dem Du gesprochen hattest. Jetzt ist mir alles
klar, wie konnte ich nur so blöd sein!" rief Antonello aus.
Sie saßen in der Scheune und berieten darüber, was sie
angesichts des anstehenden Interviews unternehmen sollten.
Der Drache senkte seinen Kopf und sah Antonello flehentlich
an.
"Bitte, mein geliebter Freund Antonello. Du musst mir glauben, ich
hatte in diesem Augenblick nicht die Absicht, diesen Menschen Leid zuzufügen.
Ich dachte wirklich, dass es sich um einen unverschämten Eindringling
handeln würde, der mir mein Revier streitig machen wollte, meine Schwäche
aufgrund meiner Geliebten Tod ausnutzend. Ich bitte Dich, vergib mir."
Antonello seufzte und streichelte liebevoll die Schnauze seines
Freundes.
"Selbst wenn ich es wollte, könnte ich Dir keine Schuld geben,
nicht nach all dem, was Du zuvor durchgemacht hast. Abgesehen davon, woher
soll ein Drache aus dem Mittelalter etwas über Flugzeuge wissen. Aber
wir sollten uns nun überlegen, was ich dem Kerl erzähle, wenn
er in ein paar Stunden sein Interview von mir haben will."
Zu seiner großen Überraschung und Bestürzung begann
der Drache am ganzen Leib zu zittern.
"Bitte, bitte, mein Freund, ich flehe Dich an... bitte verrate ihm
nichts von meiner Gegenwart. Du hast mir einmal erzählt, was sie mit
mir tun würden, wenn sie mich entdeckten. Ich habe im Fernsehen immer
wieder gesehen, wie Ihr mit allem umgeht, was Euch fremd ist und gefährlich
erscheint. Ihr Menschen neigt dazu, alles zu vernichten, was Ihr fürchtet.
Und ich weiß, dass mich die Menschen fürchten werden, wenn dieser
Mann von meiner Existenz erfährt. Bitte, Antonello... ich... ich habe
solche Angst zu sterben."
"Ach, Blazestorm! Ich würde es nie erlauben, dass Dir irgendetwas
geschieht. Ich liebe Dich von ganzem Herzen, fast schon so, wie ich damals
meine Frau geliebt habe, das weißt Du doch. Natürlich werde
ich kein Wort über Dich verlieren. Und unter keinen Umständen
darf er Dich zu Gesicht bekommen. Am besten verkriechst Du Dich hier irgendwo
im Stall und verhältst Dich ganz ruhig, bis er wieder gegangen ist."
Antonello tätschelte sanft die weichen Schuppen des Drachengesichtes.
"Ganz ruhig, alter Junge. Dir wird nichts passieren, das schwöre
ich Dir."
Nach einem kurzen Moment des Schweigens schlug Antonello vor: "Und
wenn Du ihn einfach frisst? Ein kleiner Happs und weg wäre er."
"Aber, Antonello!" protestierte Blazestorm.
"Ja, was wäre denn da schon groß dabei? Du hast eh schon
einige Leute auf dem Gewissen. Da kommt’s doch auf einen mehr oder weniger
auch nicht mehr an, oder?"
"Antonello! Was fällt Dir ein? Der Ritter damals hatte meine
Gefährtin erschlagen. Und jene Soldaten haben uns angegriffen. Aber
dieser Mann hat mir nie etwas zu Leide getan. Ich bin kein blutrünstiges,
menschenfressendes Ungeheuer. Ich dachte, zumindest das hättest
Du mittlerweile verstanden, mein lieber Freund. Ich bin wirklich zutiefst
enttäuscht."
"Ach komm schon, das sollte doch ein Witz sein", lachte Antonello.
Der Drache versetzte seinem zweibeinigen Freund einen spielerischen Hieb
mit seiner Vorderpfote. "Das ist überhaupt nicht komisch, mein Lieber."
***
"Oh, Sie interessieren sich also auch für Kryptozoologie, Monsieur
Varini?"
René sah sich ein wenig im Wohnzimmer um, während Antonello
Tassen, eine große Kanne Kaffee und einen selbstgebackenen Schokoladenkuchen
hereinbrachte.
"Warum - Ach, Sie meinen wegen der ganzen Poster und Bücher?
Naja, Fabelwesen wie Einhörner oder Drachen waren immer schon meine
große Leidenschaft."
"Apropos, Drachen. Haben Sie auch schon diese Gerüchte gehört?"
"Was für Gerüchte?"
"Über einen Saurier oder Drachen, der in diesen Bergen sein
Unwesen treiben soll."
Antonello setzte sich lachend und goss den dampfenden Kaffee in die
Tassen.
"Nettes Gerücht. Und typisch für die Leute, die hier leben.
Aber ich gehe mal davon aus, dass Sie diesen Schwachsinn nicht für
bare Münze nehmen."
"Hmm? Oh, nein! Nein! Natürlich nicht. Aber es ist schon eigenartig,
verstehen Sie mich nicht falsch, Monsieur Varini. Diese Gerüchte kursieren
seit dem verunglückten William-Tell-Air-Flug. Das ist auch der
Grund, warum ich zu Ihnen gekommen bin."
"So, so. Aber ich wüsste beim besten Willen nicht, was das
alles mit mir zu tun haben sollte. Ein paar islamistische Fundamentalisten
haben den Flieger in die Luft gejagt. Da waren doch einige amerikanische
Politiker an Bord, Monsieur Perrier."
"Naja, das ist halt das, was die Öffentlichkeit denken sollte",
antwortete René und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
"Aber ich bin mir ganz sicher, dass kein Sprengsatz diese Explosion
ausgelöst hat. Die Flugsicherung hatte wenige Augenblicke vor dem
Absturz ein zweites Radarsignal gemeldet. Irgendetwas Großes kollidierte
mit dem Flugzeug."
"Na, eine Rakete, nehme ich mal an", schlug Antonello vor.
René schüttelte den Kopf.
"Ausgeschlossen. Ein Raketeneinschlag hätte das Flugzeug zerfetzt.
Aber man hat das Heck als Ganzes einige Kilometer vom Rumpf entfernt gefunden,
es war buchstäblich abgerissen worden. Der Rumpf selber explodierte,
als er gegen einen Berg prallte. Nein, Monsieur Varini. Keine Rakete oder
Bombe würde diese Art von Zerstörung hervorrufen, wie dieses
- lassen Sie es uns - Ding nennen, das das Flugzeug angegriffen
hat. Und es muss etwas Lebendiges gewesen sein. Ein Wesen aus Fleisch und
Blut."
"Und warum erzählen Sie das alles ausgerechnet mir? Was wollen
Sie genau von mir?"
"Monsieur Varini. Ich will mit offenen Karten spielen. Wissen Sie,
was sich die Leute hier in der Gegend über Sie erzählen? Sie
haben Angst vor Ihnen. Man schreibt Ihnen magische Fähigkeiten zu.
Man munkelt, dass Sie mit dunklen Mächten im Bunde stehen. Dass Sie
Ihre Seele für Wohlstand und Glück an den Teufel verschachert
hätten. Und die Leute wollen einen Dinosaurier gesehen haben. Was
aber, wenn dieser... Saurier gar kein Saurier ist, sondern ein Drache?"
"Das ist doch Schwachsinn!" rief Antonello.
"Es gibt keine Drachen. Alles nur Geschwätz von neidischen
und abergläubischen Bauern. Sie haben mich auf dem Kieker, weil ich
halt meine Rinder vor der Seuche schützen konnte und mein Hof zufälliger
Weise von den Unwettern verschont geblieben ist."
"Wirklich nur Zufall oder Glück?"
René gab nicht nach.
"Finden Sie nicht, dass es auch noch eine andere Erklärung
dafür geben könnte?"
Antonello wurde allmählich wütend: "Ich glaube, Sie gehen
jetzt besser."
René war zufrieden. Das war genau die Reaktion, die er provozieren
wollte.
"Da gibt es noch einen Punkt, der Sie interessieren dürfte,
Monsieur Varini. Von der Schweizer Luftfahrtbehörde habe ich die Information,
dass sie seit diesem Vorfall beinahe an jedem zweiten Tag diese seltsamen
Radarsignale empfängt. Man geht davon aus, dass diese Signale vom
selben Ding erzeugt werden, das sich der Boeing 767, Flug WT 6-3-6,
näherte und damit kollidierte. Sie sagten mir sogar noch mehr: Dieses
Signal wird nur zu bestimmten Nachtstunden empfangen, es entsteht zwischen
dem Genfer See und diesem Ort hier und verschwindet dann wieder. Sie können
die Koordinaten gerne selber überprüfen..."
René nahm einen GPS-Empfänger aus seiner Tasche und
ließ Antonello einen Blick auf die Anzeige werfen. Antonello schüttelte
den Kopf.
"Blödsinn. Ich habe keine Lust mehr, mir Ihren Bullshit länger
anzuhören. Verschwinden Sie augenblicklich oder ich werde... werde..."
"Ja? Sie werden was? Ihren Hausdrachen auf mich hetzen? Apropos,
sind Sie eigentlich verheiratet?"
René ließ sich von Antonellos Zorn nicht beeindrucken.
Völlig ungerührt fuhr der Reporter fort, ohne auf eine etwaige
Antwort seines Gegenübers zu warten.
"Wollen Sie mal meine Theorie hören, Monsieur Varini? Also.
Von einem gewissen Standpunkt aus betrachtet haben die Leute im Tal sogar
Recht. Ihr plötzlicher Wohlstand und das Flugzeugunglück stehen
in unmittelbarem Zusammenhang. Irgendwie gelangte ein Drache in unsere
Dimension und attackierte den Jet. Wahrscheinlich hielt der Drache das
Flugzeug für einen Rivalen oder für einen Artgenossen, der ihm
sein Revier streitig machen wollte. Der Drache packte also den Flieger
mit seinen Klauen am Rumpf und riss dabei das Heck ab, überzeugt davon,
damit den fremden Drachen tödlich zu verletzen. Er bemerkte seinen
Irrtum und ließ den Rumpf der Maschine los, der dann natürlich
am Berg zerschellte. Daraufhin landete der Drache irgendwo in den Bergen,
um herauszufinden, wo er hingeraten war. Er war verwirrt, erschöpft
und hungrig. Irgendwie trafen Sie dann auf das Tier, vielleicht waren Sie
gerade auf dem Weg in die Stadt oder auf dem Weg zurück nach Hause.
Wie auch immer, Sie, Monsieur Varini, hatten das Glück, als erster
auf dieses Vieh zu treffen und weil Sie geradezu fanatisch in Bezug auf
Drachen sind, sahen Sie in dieser Begegnung die große Chance, Ihre
Träume wahr werden zu lassen. Aber auch Armee und Polizei hatten Interesse
an diesem Drachen, weil sie ihn nahe der Stelle, an der Sie ihn fanden,
landen sahen. Die Beamten hatten es sich bereits zusammengereimt, dass
der Drache für das Flugzeugunglück verantwortlich war. Sie erschienen
just auf der Bildfläche, als Sie mit dem Drachen fortgehen wollten.
Einige Soldaten versuchten, Sie und den Drachen aufzuhalten, aber irgendwie
gelang Ihnen mit dem Drachen die Flucht. Wahrscheinlich tötete der
Drache die Soldaten. Und nun leben Sie zusammen mit diesem Drachen, der
Ihnen aus Dankbarkeit für seine Rettung zu Wohlstand verhalf und Ihnen
irgendwelche Probleme, seien es Unwetter oder Tierseuchen, vom Leib hält.
Ich frage mich nur, wie Sie es geschafft haben, Ihre erste Begegnung mit
dem Biest zu überleben. Nun, wie finden Sie meine kleine Theorie,
Monsieur Varini?"
"Das ist völlig absurd. Drachen gibt es nicht. Wollen Sie Ihren
Lesern wirklich so einen hanebüchenen Unsinn zumuten? Abgesehen davon,
angenommen, nur mal angenommen, Ihre Theorie würde stimmen,
warum und wie sollte ein Drache in unsere Dimension gelangen?"
"Nun, das ist genau der Punkt, wo ich noch am Grübeln bin.
Aber ich kriege das schon noch raus, das verspreche ich Ihnen."
"Schön, finden Sie’s raus, aber nicht hier. Raus!" brüllte
Antonello.
Er hatte sich drohend erhoben und René kam zu dem Schluss,
dass das Gespräch vorerst beendet war.
"Ich komme wieder, Monsieur Varini!", sagte der Reporter ruhig,
als er in sein Auto stieg.
"Sie verdammtes Arschloch!" schrie Antonello dem wegfahrendem Wagen
nach.
© Peter
Lässig
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