Die Stunde der Meisteringenieure von Imladros
6. Kapitel: Verrat

Stille lag über Hamarsburg. Die Sonne war untergegangen und die letzten Patrouillen waren aus der Westebene zurückgekehrt. Da es Zurgin Muspelmeister gelungen war, die Drehung des Kristallrings der Zitadelle zu stoppen, überwachten die drei blutroten magischen Schutzkristalle nun alle drei Himmelsrichtungen, aus denen Gefahr drohte. Jeder Dunkelelb, der versuchte, sich Hamarsburg zu nähern, würde zu Asche verbrannt werden, bevor er auch nur zwei Schritte auf die Ebene hinaus gemacht hätte.
Migdo stand auf einem der kleinen Balkone des Hauptturms und sah auf den Hof der Festung hinab, wo ein Dutzend Grenzsoldaten einen Ochsenkarren begleitete, der die letzten Toten zurückbrachte. Viele gute Männer hatten bei der Attacke am Vormittag ihr Leben verloren, darunter einige, die schon einen Tag später ihren Dienst beenden und nach Uwarien aufbrechen wollten, um in ihrer Heimat als Helden empfangen zu werden. Nun würden nur noch Erzählungen von ihren Taten nach Hause zurückkehren...
Kijena Sukerion trat neben ihn und legte ihre bandagierte Hand auf seine Schulter. "Die Trauerfeier beginnt gleich. Kommst du?"
Er nickte, dann stiegen sie die lange Wendeltreppe hinab und gingen in die große Eingangshalle hinab, wo sich bis auf die zur Wache eingeteilten Soldaten alle Bewohner Hamarsburgs eingefunden hatten. Bis auf den Mittelgang des riesigen Saals war jeder nur einzelne Zentimeter besetzt, Männer, Frauen und Kinder drängelten sich überall, einige baumelten sogar an Fackelmasten oder waren auf den knapp drei Meter hohen Sims an der Wand geklettert. Uwarische Krieger in schauderhafter Rüstung standen neben Bauern, Mägden und Schildknappen der Zitadelle. Lordprotektor Anthulius stand mit Uetan Malkor und Hulth Erickson auf dem Podest an der Nordwand, auf dem er normalerweise einmal pro Woche über die täglichen Angelegenheiten der Zitadelle zu Gericht saß. Alle drei trugen glänzende Paradeuniformen, über die Schärpen aus blutrotem Samt gehängt worden waren.
Migdo und Kijena arbeiteten sich mit einiger Mühe zu Malcolm vor, der in der ersten Reihe auf einem der wenigen vorhandenen Stühle saß. Er trug eine schwarze Robe mit uwarischen Hoheitszeichen und darüber ebenfalls eine tiefrote Schärpe. Gerade als sie sich neben ihn gestellt hatten, begann der Lordprotektor zu sprechen.
"Heute wollten wir einen Festtag begehen. Wir wollten unsere Freunde und Verbündeten von der uwarischen Garnison mit den besten Wünschen in ihre Heimat entsenden, und wir wollten jene, die an ihre Stelle treten, mit einem rauschenden Fest empfangen. Nichts von beidem ist eingetreten: wieder einmal sind die Schrecken hinter den schwarzen Gipfeln aus ihrer toten Ebene gekommen, uns zu vernichten, und wieder einmal musste der Pakt zwischen Hamarsburg und Mul Uwar mit Blut erneuert werden."
Schweigen war eingekehrt. Manche schluchzten leise, aber die meisten machten ernste Gesichter und warteten.
"Das Blut vieler guter Männer ist heute vergossen worden, Männer, die hier Freunde gefunden hatten, und solche, die erst noch zu neuen Freunden hätten werden sollen. Männer, die bereit waren, ihr Leben zu lassen, nicht nur für Volk und Vaterland, sondern für die Freiheit aller Menschen in den östlichen Reichen." Anthulius zog sein Schwert. "Ehren wir nun diese Männer mit einem Totengesang nach uwarischer Sitte."
Jeder in der Halle, der eine Waffe trug, zückte sie und hielt sie sich so wie der Lordprotektor vor die Brust. Hauptmann Malkor trat vor und begann mit tiefer Stimme zu singen.

"Da Weg der Krieger sin se ´gang,
de Männer de me hier besang,
voran, voran mit Schild un Schwert,
für was de bitter Tode wert.

Se gab’n Blut, Leib un Gebein,
de Männer de me hier bewein,
voran, voran mit Axt un Keul,
zum Tod mit wacker Kriegsgeheul."

Mehr und mehr Uwarier fielen in den Gesang mit ein, und obwohl die meisten Zitadellenbewohner den Text nicht kannten, dauerte es nicht lang, bis jede einzelne Kehle in der riesigen Halle das Klagelied schmetterte.

"Se hab’n kei Augeblick verzag’,
de Männer de me hier beklag,
voran, voran mit Gaul un Speer,
zu brechen aller Feinde Wehr."

Die letzte Strophe wurde zweimal mit markerschütternder Lautstärke wiederholt, und als sie verklungen war, reckte Malkor seine Axt in die Höhe und rief: "Nun lasst uns feiern, Brüder! Lasst uns jene feiern, die von nun an an Arthors Tafel auf uns warten! Lasst uns ihre gebrochenen Hüllen in prasselnde Flammen kleiden, auf dass sie am Himmel feiern können wie wir auf Erden!"

-

In der folgenden Stunde versammelten sich die Uwarier und Zitadellenbewohner auf dem Hof, wo ein halbes Dutzend großer Scheiterhaufen aufgetürmt worden war. Nach alter Sitte der Krieger aus dem Norden waren auch die getöteten Pferde an die Seite ihrer Herren gebettet worden. Magische Bannkreise hielten den aufsteigenden Leichengestank zurück und verliehen der Szenerie die ihr angemessene Würde. Pyrolitfackeln standen an jedem Haufen, und uwarische Krieger hielten gemeinsam mit Grenzern die Totenwache.
Als jeder seinen Platz gefunden hatte und allgemein wieder Ruhe einkehrte, trat Malkor mit zwei uwarischen Tempelpriestern vor, die an jedem einzelnen Scheiterhaufen den Ritus der vollkommenen Reinigung vollzogen. Anschließend verteilte der Hauptmann Fackeln an einfache Soldaten aus beiden Armeen, die die aufgetürmten Körper ihrer toten Kameraden entzündeten. Die Feuer breiteten sich rasch aus, zogen in die Höhe und verwandelten den Hof in ein rot leuchtendes Amphitheater, in dem die Lebenden nur Zuschauer waren, die lange Schatten an die massiven Mauern warfen.
Migdo beobachtete seltsam unbeteiligt die prasselnden Flammen, die sich durch die zerschmetterten Körper fraßen. Seine Seite brannte, und die Wunde an seinem Arm war teilweise wieder aufgerissen. Er war jedoch sogleich versorgt worden, so dass die intensiven Kopfschmerzen sein größtes Problem waren.
Er sah zu Malcolm hinüber, der neben dem Lordprotektor stand und über seiner eleganten Grenzeruniform eine grobe, mit martialischen Symbolen verzierte Schärpe als Zeichen seiner königlichen Herkunft trug.
Der dunkelhaarige Mann wirkte sehr ernst, in seinem fest auf das leuchtende Feuer gerichteten Blick lag eine wilde, drohende Wut, die überhaupt nicht zu ihm passte und wohl vor allem die Erwartungen der Uwarier befriedigen sollte.
Migdos Gedanken schweiften ab, zurück zu der hitzigen Diskussion, zu der es nach Zurgins Eröffnung über den gestohlenen Schutzkristall gekommen war. Sie hatten sich in Lordprotektor Anthulius’ Gemächer zurückgezogen, um vor neugierigen Ohren sicher zu sein. Hauptmann Hulth war zurückgeblieben, um den Rücktransport der Toten und Verwundeten zu überwachen.
"Das ist doch schwachsinnig", hatte Roban eingeworfen, kaum dass er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte. "Warum sollte jemand einen Schutzkristall stehlen? Damit kann doch außer uns niemand etwas anfangen."
"Das stimmt so nicht", hatte Zurgin zurückgegeben, während er sich in einem Sessel neben Anthulius’ Schreibtisch niederließ. "Die Kristalle wurden vor Äonen von den Titanen gefertigt, und wie Migdos Vater in der ´Katalogisierung der Schutzkristalle` feststellt, sind sie im Grunde alle identisch: gewaltige Katalysatoren, die den Strom der magischen Energie verändern, bündeln und auf verschiedene Art wieder abgeben können. Wir nutzen sie in unserer Mine als Waffen, ebenso wie die Zitadelle, obwohl die vier roten Giganten des Kristallrings allgemein als die größten heute noch erhaltenen Exemplare gelten. Einzig die beiden Schildkristalle von Jundsmark können sich mit ihnen messen."
Kijena fuhr dazwischen: "Aber wozu? Wozu könnte man die Kristalle nutzen - besonders ohne die dazugehörige Maschinerie?"
"Es gäbe durchaus einige Anwendungsfelder", meinte der alte Meisteringenieur. "Was Lugerto und mich vielmehr beunruhigt, ist die Frage, wie die Diebe den Kristall fortgeschafft haben."
"Es muss eine komplexe Mischung aus Tarn- und Teleportationsmagie gewesen sein", fügte der Hofzauberer hinzu. "Das Werk eines Meisters der magischen Künste."
"Wer wäre dazu im Stande?" fragte Migdo.
"Niemand, den wir kennen..." antwortete der alte Mann. "Keiner aus meinem Orden hat solche Kräfte."
Der Lordprotektor ließ sich in seinen Sessel hinter dem breiten Schreibtisch fallen und meinte: "Wer auch immer dafür verantwortlich ist, er hatte auf jeden Fall Verbündete innerhalb dieser Mauern. Ohne genaue Informationen ist auch das Anlegen des mächtigsten Bannkreises nicht möglich, oder, Lugerto?"
Der Zauberer nickte.
"Also müssen wir uns fragen", fuhr Anthulius fort, "wie wir den Verräter ausfindig machen. Alle Anwesenden können wir ausschließen. Malcolm, Kijena und Roban waren auf dem Weg nach Süden, Migdo und Zurgin noch in der Mine, ohne eine Ahnung von dem, was hier geschehen war. Mich selbst und Lugerto wage ich ebenfalls auszuschließen, aber jeder andere in diesem Tal ist verdächtig."
"Bis auf die uwarischen Neuankömmlinge", gab Roban zu bedenken.
"Wir Uwarier verachten allgemein die Magie", meinte Malcolm. "Mein Vater würde sich niemals auf einen Plot gegen die Zitadelle einlassen, um irgendeinen alten Zauberstein in die Hände zu bekommen. Es würde unser Haus entehren und ihn wahrscheinlich die Krone kosten, wenn das herauskäme." Der junge Offizier redete völlig objektiv über diese Dinge. Alle betrachteten ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Bewunderung.
Nach einer kurzen Stille erklärte Anthulius: "Wir müssen Ermittlungen anstellen. Der oder die Täter müssen gefasst werden, ohne dass sie vorher Verdacht schöpfen können. Und dann müssen wir aus ihm herausquetschen, was er weiß."
"Wahrscheinlich ist er auch nur ein Mittelsmann", fügte Malcolm hinzu.
"Wie auch immer. Er muss gefunden werden. Schwärmt unauffällig aus, durchsucht alle Nischen, beobachtet die Bediensteten. Wir müssen erfolgreich sein, bevor wieder etwas mit unseren Kristallen geschieht." Der alte Offizier erhob sich. "An die Arbeit."
Und so stand Migdo nun mit den Anderen auf dem vom Feuer erhellten Hof und beobachtete unauffällig, aber sehr aufmerksam die zahllosen Offiziere, Diener, Soldaten und Beamten, die sich unter den hohen Mauern drängten. Sein Herz klopfte ruhig, und sein Verstand tastete sich langsam durch den Sumpf der Verdächtigen.

-

Nach dem Ende der Trauerfeierlichkeiten versuchte Migdo vergeblich, mit einigen der Zitadellenbewohner ins Gespräch zu kommen. Trotz der aufmunternden und tröstenden Worte, die in den letzten Stunden gesprochen worden waren, herrschte eine mehr als gedrückte Stimmung, als die Leute sich langsam von den qualmenden Aschehaufen entfernten. Die Nachtruhe wurde ausgerufen und alle bis auf die diensthabenden Wachen gingen zu Bett.
Migdo und Zurgin gingen einen Gang entlang in Richtung ihres Laboratoriums.
"Wo steckt eigentlich Xergi?" fragte der jüngere Zwerg. "Ich habe ihn seit gestern kaum gesehen."
"Ich hab ihm geraten, sich im Hintergrund zu halten", erklärte der Meisteringenieur. "Goblins neigen dazu, in angespannten Situationen schnell den Zorn der Menschen auf sich zu ziehen. Und die Situation hier ist im Augenblick sehr angespannt. Aber zu etwas anderem: ich möchte, dass du dich mit den Soldaten unterhältst, die während der Zeit der Zwischenfälle auf dem Kristallring Dienst hatten. Menschen sind uns Zwergen gegenüber oft sehr gesprächig, weil sie uns für dumme kleine Missgeburten halten."
"Nicht alle Menschen."
"Aber mehr als du wahrscheinlich annimmst. Lass dich nicht von ihrer Freundlichkeit täuschen - es gehört zur Art der Menschen, Verachtung meist nur hinter vorgehaltener Hand zu äußern. Auf jeden Fall solltest du ein wenig mit den Wachen quatschen, am besten nimmst du ein wenig Starkbier mit. Sieh zu, ob du etwas herausfindest, was sie ihren Vorgesetzten nicht erzählt haben."
Migdo nickte. "Wie du willst... Meister..."
"Mach dich nicht über mich lustig, Bürschlein!"

-

"Nein, der Hauptmann ist schon in Ordnung", meinte der Wachmann. Sein Name war Jukosh, und als Migdo ihm einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche Starkes Braunes angeboten hatte, war er sofort sehr gesprächig geworden. "Es ist nur so, dass er sehr streng ist. Er schimpft oft mit den Jüngeren."
"Hat er dich auch schon mal ausgeschimpft?" fragte Migdo.
"Ja, manchmal... aber ich pass’ auf, dass er nicht so oft einen Grund hat."
"Glaub ich gerne! Passiert denn hier so viel? Was kann man denn hier oben schon Schlimmes anstellen?"
Der junge Soldat zögerte sichtlich, aber nachdem Migdo ihm einen weiteren Zug aus seiner Flasche gewährt hatte, fuhr er fort: "Na ja... weißt du, es ist ziemlich langweilig hier oben... meistens jedenfalls. So einen Angriff wie gestern haben wir fast nie - ich war wach bei dem Angriff! Wirklich!"
Aha, dachte der Zwerg, jetzt wird’s interessant...
"Es... es ist nur so... also... manchmal, wenn es sehr kalt ist... na ja, dann wickel ich mich in meine Decke und..."
"...und schläfst ´ne Runde", beendete Migdo den Satz. Der junge Mann nickte unsicher. "Halb so wild", beschwichtigte der Zwerg. "Ist mir auch schon passiert. Aber sag mal... als der erste Kristall zerstört wurde, hast du da auch gepennt?"
Das beschämte Gesicht seines Gegenübers sprach Bände.
"Es war ein beschissen kalter Tag", erklärte er. "Wenn der Koch nicht eine heiße Suppe gebracht hätte, wär’n wir wahrscheinlich hier oben erfroren..."
Migdo wurde hellhörig. "Dürft ihr im Dienst essen?" fragte er.
"Nein, eigentlich nicht, also erzähl das bloß keinem! Aber der Koch, Lukar, ist so nett und bringt uns was, wenn wir eine Vollschicht haben."
Migdo nickte. Die Frage, ob Jukosh kurz nach Einnahme der Mahlzeit eingeschlafen war, stellte er gar nicht erst.

-

"Ich werde ihn nach Kel Utaz versetzen lassen!" knurrte Malcolm. "Soviel Idiotie ist auch für einen einfachen Soldaten unentschuldbar!"
"Bloß nicht", wand Roban ein. "Wer weiß, was er da draußen noch für Schaden anrichtet!" Schnellen Schrittes hasteten sie den Gang entlang, so dass Migdo und Zurgin Mühe hatten, hinterher zu kommen. Kijena war zum Lordprotektor geeilt, um ihm von Migdos Erkenntnissen zu berichten.
Schließlich erreichten sie das Gewölbe im untersten Teil der Zitadelle, das zur Küche und den Vorratsräumen führten. Die diensthabende Wache war sichtlich überrascht und beeilte sich, Haltung anzunehmen.
"Lass niemanden hinein oder heraus, bevor der Lordprotektor hier ist", befahl Malcolm barsch und stürmte an dem Mann vorbei. "Wo geht es zur großen Küche?"
"Nach links, Mylord - am Ende des Ganges!"
Der Leutnant gab Roban ein Zeichen, worauf dieser nach rechts verschwand, höchstwahrscheinlich, um eventuelle Fluchtwege zu blockieren.
"Folgt mir", meinte Malcolm und sie gingen in die andere Richtung. Die Bediensteten, denen sie begegneten, waren überrumpelt von der Anwesenheit des hohen Offiziers und der beiden kleinwüchsigen Besucher. Niemand wagte es, sie anzusprechen.
Nachdem sie einen weiteren Ziegelgang mit verrauchter Decke durchquert hatten, tat sich vor ihnen die große Küche auf, in der ein halbes Dutzend Feuerstellen, an denen Suppen gekocht und große Fleischbrocken gebraten wurden, eine fast unerträgliche Hitze produzierte. Einige Hilfsköche sahen erstaunt zu ihnen hinüber.
"Wo ist der Chef?" fragte Malcolm. "Wo ist Lukar?"
Einer der Männer, ein rothaariges Männchen mit riesigen Ohren, deutete auf ein kleines Seitengewölbe am Ende des Raumes und stotterte etwas Unverständliches in einem lurrischen Dialekt. Sie gingen an den zurückweichenden Untergebenen vorbei und sahen vorsichtig in den dunklen Gang hinein.
"Was zum...?" entfuhr es Migdo.
Im Schatten eines uralten Steinbogens stand ein zierlicher Mann mit schiefer Nase und langem, schmierigem Haar. Sein pockennarbiges Gesicht wurde noch zusätzlich von einem fleckigen Stoppelbart verunstaltet, und von seinem rechten Ohr war nur noch knapp die Hälfte übrig. Er war vornüber gebeugt und in eine Unterhaltung im Flüsterton vertieft, und als die beiden die Neuankömmlinge bemerkten, war sein Gegenüber der einzige, der noch überraschter wirkte als der Koch selbst.
Es war Xergi.
Bevor jemand etwas sagen konnte, stieß Lukar den Vulgoblin von sich und stürmte mit so erstaunlicher Geschwindigkeit an ihnen vorbei, dass selbst Malcolm nicht rechtzeitig nach ihm greifen konnte. Eine Spur der Verwüstung hinterlassend raste er im Zickzackkurs durch die Küche und verschwand in einem weiteren Gewölbe, das zuvor von einem Regal mit Kräutertöpfen verdeckt worden war.
"Migdo!" schrie Malcolm. "Schneid ihm an der Treppe den Weg ab!" Damit verschwand er ebenfalls in dem dunklen Loch. Der junge Zwerg tat wie ihm geheißen und rannte zurück zu der Wache. Er konnte den Mann schon am Ende des Ganges sehen, als plötzlich eine schattenhafte Gestalt aus der Wand zu brechen schien und ihn grob anrempelte. Migdo fiel jedoch nicht und griff nach dem Bein des Verräters.
"Tut ihm nichts!" schrie plötzlich Xergi, der, gefolgt von Zurgin, hinter ihm her gekommen war.
Lukar schubste den Zwerg grob beiseite und stürmte auf die Treppe zu, als Roban aus einem Seitengang sprang und ohne zu zögern mit seinem Schwert nach ihm schlug.
"NEIN!" schrie Xergi mit verzweifelter Wut und warf sich zwischen die beiden viel größeren Menschen. Robans Klinge traf ihn in die Seite und schlitzte seinen dürren Körper auf. Dunkles Blut spritzte auf und weiches, rosa-graues Fleisch quoll ins Freie. Der Vulgoblin wurde davongeschleudert und Robans Klinge nach rechts abgelenkt, so dass sie sich bis zum Heft in Lukars Brust bohrte, als dieser zur Seite springen wollte. Der dürre Hofdiener ächzte erschrocken auf, starrte einen Moment lang an sich herab und sank tot zu Boden.
Roban zog benommen seine Waffe zurück, während Kijena, die bei ihrer Suche nach Anthulius keinen Erfolg gehabt hatte und deshalb zurückgekehrt war, zu Xergi eilte, der an der Seitenwand lag und leise stöhnte. Seine Augen waren verdreht und er offensichtlich im Delirium.
"Warum hat er das getan?" fragte Roban verdattert. "Warum...?"
"Ist doch egal", wand Kijena ein. "Wir müssen ihm helfen! Wo ist Lugerto?"
"Er ist unterwegs", gab Malcolm zurück. "Kannst du die Blutung stoppen?"
"Ich versuche es. Aber ich bin nicht gut darin..."
In diesem Moment kam der Hofzauberer in den Keller gerannt und ließ sich geradezu neben dem Goblin auf dem Boden fallen. Seine Hände suchten Xergis Körper ab und formten komplexe Muster über seinen blutverschmierten Wunden. Das graue Fleisch leuchtete auf und der Goblin stieß einen markerschütternden Schmerzschrei aus, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor.
"Ist er tot?" fragte Malcolm.
"Nein", murmelte Lugerto. "Er könnte es schaffen... die Wunde ist tief... aber er könnte sich erholen..."
"Warum?" wand Roban tonlos ein und starrte auf die winzige, gekrümmte Kreatur hinab. "Warum hat er das getan?"

-

Malcolm, Zurgin, Migdo und der Lordprotektor saßen in dessen Gemach und sprachen über die jüngsten Vorfälle.
"Was sagt Lugerto?" fragte Anthulius. "Wird der Goblin überleben? Wann können wir ihn verhören?"
"Er ist noch nicht wieder bei Bewusstsein", antwortete Malcolm.
"Wenn er wieder zu sich kommt, wird er uns erklären müssen, warum er den Verräter schützen wollte..."
"Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass Xergi ein Verräter ist", wand Migdo ein. "Er ist zwar eine widerliche kleine Made, aber das..." Er ließ das Ende des Satzes offen und sah zu Zurgin hinüber, aber der Meisteringenieur schwieg.
"Was habt ihr über den Koch herausbekommen?" fragte Anthulius weiter.
Malcolm erläuterte: "Seine ganze Familie wurde bei einem Überfall umherziehender Räuber auf sein Dorf getötet. Der Dorfälteste hatte bei uns um Hilfe ersucht, aber wir konnten nicht rechtzeitig reagieren, da die meisten unserer Truppen gerade gegen die Dunkelelben kämpften. Alle wurden abgeschlachtet, nur Lukar überlebte."
Sie schwiegen einen Moment lang.
"Er hasste uns", meinte der Lordprotektor schließlich. "Er muss uns schon gehasst haben, als er zum ersten Mal hierher kam."
"Dummerweise hat zu diesem Zeitpunkt niemand auf seine Vorgeschichte geachtet."
"Dann hat er sich mit Xergi verbündet, bevor dieser in den Dienst der Mine trat?" meinte Migdo. "Diese Verschwörung ist ja von geradezu absurd langer Hand geplant..."
"Nicht unbedingt."
Der überraschende Einwand kam von Zurgin, der bisher stoisch geschwiegen hatten.
"Was meint ihr?" fragte Malcolm.
"Nun..." gab der alte Zwerg zurück und sah auf seine dicken Finger hinab. "Ich muss euch einige Dinge berichten, die Xergi betreffen... und den Verräter, nach dem wir suchen..."

-

Der Krankenflügel der Zitadelle von Hamarsburg war nach dem letzten Angriff der Dunkelelben hoffnungslos überlastet, so dass Xergi in einem separaten Zimmer untergebracht war. Ein Wachmann stand vor der einzigen Tür, wurde aber kurz nach Mitternacht abgezogen, da der allergrößte Teil der Bewohner schlief und alle Tore geschlossen waren.
Eine knappe halbe Stunde später huschte eine vermummte Gestalt durch den dunklen Gang und trat mit schnellen Schritten an die Tür des Krankenzimmers. Das Schloss knackte leise, dann schob der Eindringling die Tür ein Stück weit auf und verschwand im Inneren. Das Zimmer war relativ groß und mit mehreren Schränken sowie einem schmucklosen Krankenbett ausgestattet. Eine einzelne Pyrolitkerze stand daneben und warf ihr rötliches Licht auf Xergis blasses Gesicht. Der Goblin wirkte noch kleiner als sonst, und seine Haut war wie Wachs.
Ohne lange zu zögern zog der Eindringling einen kurzen Dolch und stieß ihn viermal hintereinander tief in die Brust des aschhäutigen Winzlings, der ohne einen Ton erschlaffte.
Mit einer zufriedenen Bewegung ließ der Vermummte seine Waffe in seinem Umhang verschwinden und wandte sich zum Ausgang.
"Einen Moment noch", ließ Malcolm vernehmen und stellte sich breitbeinig in die Tür.
Kijena trat neben ihn und fügte hinzu: "Du willst doch nicht schon gehen, oder, Roban?"
Der junge Unteroffizier erstarrte und zog zögernd seine Kapuze zurück.
"Ihr hattet Recht, Meister Zurgin", meinte Kijena, während der alte Zwerg sich zwischen ihr und Malcolm hindurch schob.
"Ich wollte ihn nur aus dem Weg schaffen!" rief Roban und deutete auf das Krankenbett. "Er wollte uns verraten und..."
Bevor er weitersprechen konnte, schnippte Zurgin einmal kräftig mit den Fingern und der tote Vulgoblin verpuffte zu einer Wolke winziger, glitzernder Sterne. Die Bettdecke sank herab, als plötzlich nichts mehr da war, das sie bedecken konnte.
Roban starrte das leere Bett noch einen Moment lang an, dann wandte er sich wieder den Anderen zu. Ein begreifendes Lächeln umspielte seine Lippen.
"Ein magischer Zwilling", knurrte er.
"Ganz recht", gab der alte Meisteringenieur zurück, während hinter ihm Lordprotektor Anthulius und ein Dutzend Wachen den Gang füllten. "Der echte Xergi ist in meinem Labor und erholt sich sehr schnell, dank Lugertos Heilkunst. Und wenn er das Bewusstsein wiedererlangt hat, wird er uns zweifellos berichten, dass er mit Lukar gesprochen hat, wie ich es ihm aufgetragen hatte - und dass der Koch ihm verraten hat, wer sein Verbindungsmann war."
"Das ist alles Unsinn", blaffte Roban. "Ihr habt keinen Beweis!"
"Wir haben Indizien", gab Malcolm zurück.
"Du hast unsere Abreise aus dem Talposten verzögert", meinte Kijena. "Hätte Malcolm nicht darauf bestanden, trotz des Sturms weiter zu reiten, wären wir mitten in den Überfall der Dunkelelben auf Kel Utaz geraten."
Der Lordprotektor nickte. "Und unser Hilferuf hätte Meister Zurgin nie erreicht."
"Das... das ist doch Unsinn", stotterte Roban und spielte nervös an seinem Schwertgriff. "Ich würde nie..."
"Du warst mit Zurgin im Freien, als wir anderen Kel Utaz durchsucht haben!" fuhr Migdo ihm ins Wort. "Trotz deiner hervorragenden Ausbildung willst du nichts von den Dunkelelben bemerkt haben, die euch umstellten."
"Ja..." meinte Zurgin. "Ihr hattet nur Augen für mein magisches Feuer - obwohl Pyrolit hier genauso oft verwendet wird wie in meiner Mine und ihr ohne Zweifel schon öfter welches gesehen hattet."
"Und als wir dann gegen die Dunkelelben kämpften, hättest du Zurgin fast getötet - genau wie Kijena bei dem Kampf auf der Westebene."
Die junge Frau nickte. "Du wusstest, dass ich dich am besten kenne und am ehesten Verdacht schöpfen würde. Deshalb wolltest du mich loswerden."
"Das war der Grund", fügte Meister Lugerto, der gerade dazu kam, hinzu, "warum der Koch den zweiten Kristall sabotierte: damit wir bei unserer Suche nach dem Verräter euch von vornherein ausschlossen, da ihr ja mit Malcolm und Zurgin im Gebirge wart, als es zu dem Ausfall kam."
Angesichts all dieser Anklagen wich der schlanke Soldat immer weiter zurück, sein Schwert glitt langsam aus der Scheide. Die Wachen zogen ebenfalls ihre Waffen, aber bevor einer von ihnen sich Roban nähern konnte, schleuderte dieser etwas zu Boden und ein gleißender Lichtblitz erfüllte den Raum. Alle schrieen erschrocken und geblendet auf, Migdo wurde von irgendwem umgerempelt und stieß gegen die Tür.
"Verdammt!" kläffte er. "Was war das?"
"Ein Ortswechselzauber!" gab Zurgin von irgendwo her zurück. "Teleportationsmagie!"
"Wo ist er hin?" fragte Malcolm. "Raus auf die Ebene?"
"So groß ist die Reichweite des Zaubers nicht! Er muss noch irgendwo in der Zitadelle sein."
Die Wirkung des Blitzes ließ langsam nach. Alle begannen sich wieder zu orientieren.
"Ich denke, ich weiß, wo er hin ist..." meinte Malcolm.

-

Der diensthabende Soldat auf dem Kristallring wurde von dem plötzlichen Lichtblitz geblendet und sah den Angreifer nicht einmal, der ihm zuerst seine Klinge in den Hals stieß, um ihn dann mit einem Tritt über den Rand der Konstruktion in den Abgrund zu befördern. Noch bevor er unten aufschlug, hatte Roban nach einem kurzen Zweikampf auch Wachmann Jukosh überwältigt und getötet. Dann wandte er sich den Kristallen zu, die sanft pulsierend in die Nacht hinausragten.
Vom Treppenaufgang her ertönten laute Rufe und Getrampel, dann erschien Malcolm mit Kijena und Migdo, gefolgt von Lugerto, dem Lordprotektor und einem halben Dutzend Wachsoldaten.
"Roban! Ergib dich!" rief Malcolm streng.
"Träum weiter!" gab er höhnisch zurück und ließ seine blutige Klinge in Richtung seiner Gegner kreisen.
"Roban, was auch immer du getan hast, wir können darüber reden! Tu jetzt nichts Unüberlegtes!"
"Mach dich nicht lächerlich..."
"Komm hierher. Niemand wird dir etwas tun, und wenn du uns verrätst, wer dich beauftragt hat, werden wir dich vor ihm beschützen..."
"Nein!" schrie er. "Es ist sinnlos, versteht ihr das nicht? Wir können uns Uglak und Ankta nicht widersetzen! Sie sind zu mächtig!"
Malcolm trat einen Schritt vor, stoppte aber sofort, als sein alter Kampfgefährte zitternd sein Schwert hob. "Von wem sprichst du, Roban?" fragte er. "Wer sind diese Leute?"
Roban schlotterte mittlerweile am ganzen Leib, seine Augen waren vor Angst geweitet. "Sie sind Götter..." zischte er fast unhörbar, und es klang wie ein Gebet. "Sie sind böse Götter!"
"Wer sind sie?"
"Böse Götter... böse Götter..."
"Roban, komm zu dir!" befahl Malcolm im Ton eines vorgesetzten Offiziers. "Reiß dich zusammen und sag mir, von wem du sprichst!"
Der Blick des jungen Mannes wurde wirr. "Allañto nuhan kirejas", murmelte er, seine Hände schienen sich zum Gebet falten zu wollen. Seine Lippen formten weitere fremdartige Worte, aber es war  kaum ein Laut zu hören.
"Was redet er da?" fragte Kijena irritiert.
Malcolm starrte seinen früheren Adjutanten an und meinte: "Das ist inschalai, die Staatssprache der Titanen... ich verstehe sie zwar kaum, aber er sagt irgendetwas über den Tod..." Migdo staunte wieder einmal über die Bildung seines Freundes. In ganz Mul Añwar gab es so gut wie niemanden mehr, der auch nur ein Wort aus der Sprache der alten Götter kannte.
Roban wandte sich weiter von einem zum anderen, seine Augen schienen nach Unterstützung zu suchen. Bis er schließlich erkannte, dass er hier keine Verbündeten finden würde. Plötzlich brach er nach links aus und stürmte auf den erst kürzlich reparierten Schutzkristall zu.
"Haltet ihn auf!" rief Zurgin, aber niemand war nahe genug, um Roban noch zu stoppen. "Goñisha-Narifi risanas Allañto nuhan!" kreischte er, dann stieß sein Körper gegen die massive Wand aus blutrotem Zauberglas.
Die nachfolgende Explosion war so gewaltig, dass jeder der Anwesenden mehrere Meter weit zurückgeschleudert wurde, der nächtliche Himmel wurde von einem tiefroten Feuerball erhellt. Einer der Wachleute wurde von der Druckwelle über den Rand des Kristallrings geblasen und verschwand panisch schreiend in der Tiefe. Zwei scharfe Glassplitter sausten an Migdos Gesicht vorbei, einer ritzte die Haut an seiner Wange, dann wirbelte der junge Zwerg gegen eine Wand und glitt zu Boden.
Als er sich wieder erhob, hatte sich der dunkle Rauch soweit verzogen, dass er die Halterung des Schutzkristalls sehen konnte. Es war kaum noch etwas davon übrig. Dann sah er sich um. Bis auf den Wachmann war offenbar niemand von dem Ring gefallen, aber mehrere seiner Gefährten lagen blutverschmiert und gekrümmt auf der spiegelglatten Oberfläche.
Meister Lugerto lag auf dem Rücken, in seiner Brust steckte ein zapfenförmiges, scharfkantiges Kristallfragment. Blut quoll aus seinem Mund.
"Oh mein Gott", schnaufte Kijena und stolperte zu dem alten Zauberer hinüber. Als sie den Splitter herausziehen wollte, hielt der Lordprotektor sie zurück und beugte sich hinab. Malcolm war bereits ins Innere des Turms gelaufen und rief nach einem Arzt. Migdo kroch zu den Anderen hinüber, die nach Kräften versuchten, die Blutung zu stoppen. Kijenas Gesicht war mit roten Schrammen übersäht, sie presste einen abgerissen Ärmel ihres Gewandes auf Lugertos Brust, die sich unregelmäßig hob und senkte.
"Meister Zurgin, könnt ihr etwas tun?" fragte Anthulius. "Versteht ihr euch auf heilende Magie?"
Der alte Zwerg schüttelte den Kopf. "Darin bin ich völlig unbegabt... und es würde auch nichts mehr nützen..."
Sie blickten auf Lugerto hinab. Seine Brust hatte aufgehört, sich zu bewegen, seine blassen Augen starrten leer in die Ferne. Der Hofzauberer von Hamarsburg war tot.
 

© Imladros
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
.
Und schon geht es weiter zum 7. Kapitel: Letzte Hoffnungen

.
www.drachental.de