Stille lag über Hamarsburg. Die Sonne
war untergegangen und die letzten Patrouillen waren aus der Westebene zurückgekehrt.
Da es Zurgin Muspelmeister gelungen war, die Drehung des Kristallrings
der Zitadelle zu stoppen, überwachten die drei blutroten magischen
Schutzkristalle nun alle drei Himmelsrichtungen, aus denen Gefahr drohte.
Jeder Dunkelelb, der versuchte, sich Hamarsburg zu nähern, würde
zu Asche verbrannt werden, bevor er auch nur zwei Schritte auf die Ebene
hinaus gemacht hätte.
Migdo stand auf einem der kleinen Balkone
des Hauptturms und sah auf den Hof der Festung hinab, wo ein Dutzend Grenzsoldaten
einen Ochsenkarren begleitete, der die letzten Toten zurückbrachte.
Viele gute Männer hatten bei der Attacke am Vormittag ihr Leben verloren,
darunter einige, die schon einen Tag später ihren Dienst beenden und
nach Uwarien aufbrechen wollten, um in ihrer Heimat als Helden empfangen
zu werden. Nun würden nur noch Erzählungen von ihren Taten nach
Hause zurückkehren...
Kijena Sukerion trat neben ihn und legte ihre
bandagierte Hand auf seine Schulter. "Die Trauerfeier beginnt gleich. Kommst
du?"
Er nickte, dann stiegen sie die lange Wendeltreppe
hinab und gingen in die große Eingangshalle hinab, wo sich bis auf
die zur Wache eingeteilten Soldaten alle Bewohner Hamarsburgs eingefunden
hatten. Bis auf den Mittelgang des riesigen Saals war jeder nur einzelne
Zentimeter besetzt, Männer, Frauen und Kinder drängelten sich
überall, einige baumelten sogar an Fackelmasten oder waren auf den
knapp drei Meter hohen Sims an der Wand geklettert. Uwarische Krieger in
schauderhafter Rüstung standen neben Bauern, Mägden und Schildknappen
der Zitadelle. Lordprotektor Anthulius stand mit Uetan Malkor und Hulth
Erickson auf dem Podest an der Nordwand, auf dem er normalerweise einmal
pro Woche über die täglichen Angelegenheiten der Zitadelle zu
Gericht saß. Alle drei trugen glänzende Paradeuniformen, über
die Schärpen aus blutrotem Samt gehängt worden waren.
Migdo und Kijena arbeiteten sich mit einiger
Mühe zu Malcolm vor, der in der ersten Reihe auf einem der wenigen
vorhandenen Stühle saß. Er trug eine schwarze Robe mit uwarischen
Hoheitszeichen und darüber ebenfalls eine tiefrote Schärpe. Gerade
als sie sich neben ihn gestellt hatten, begann der Lordprotektor zu sprechen.
"Heute wollten wir einen Festtag begehen.
Wir wollten unsere Freunde und Verbündeten von der uwarischen Garnison
mit den besten Wünschen in ihre Heimat entsenden, und wir wollten
jene, die an ihre Stelle treten, mit einem rauschenden Fest empfangen.
Nichts von beidem ist eingetreten: wieder einmal sind die Schrecken hinter
den schwarzen Gipfeln aus ihrer toten Ebene gekommen, uns zu vernichten,
und wieder einmal musste der Pakt zwischen Hamarsburg und Mul Uwar mit
Blut erneuert werden."
Schweigen war eingekehrt. Manche schluchzten
leise, aber die meisten machten ernste Gesichter und warteten.
"Das Blut vieler guter Männer ist heute
vergossen worden, Männer, die hier Freunde gefunden hatten, und solche,
die erst noch zu neuen Freunden hätten werden sollen. Männer,
die bereit waren, ihr Leben zu lassen, nicht nur für Volk und Vaterland,
sondern für die Freiheit aller Menschen in den östlichen Reichen."
Anthulius zog sein Schwert. "Ehren wir nun diese Männer mit einem
Totengesang nach uwarischer Sitte."
Jeder in der Halle, der eine Waffe trug, zückte
sie und hielt sie sich so wie der Lordprotektor vor die Brust. Hauptmann
Malkor trat vor und begann mit tiefer Stimme zu singen.
"Da Weg der Krieger sin se ´gang,
de Männer de me hier besang,
voran, voran mit Schild un Schwert,
für was de bitter Tode wert.
Se gab’n Blut, Leib un Gebein,
de Männer de me hier bewein,
voran, voran mit Axt un Keul,
zum Tod mit wacker Kriegsgeheul."
Mehr und mehr Uwarier fielen in den Gesang
mit ein, und obwohl die meisten Zitadellenbewohner den Text nicht kannten,
dauerte es nicht lang, bis jede einzelne Kehle in der riesigen Halle das
Klagelied schmetterte.
"Se hab’n kei Augeblick verzag’,
de Männer de me hier beklag,
voran, voran mit Gaul un Speer,
zu brechen aller Feinde Wehr."
Die letzte Strophe wurde zweimal mit markerschütternder
Lautstärke wiederholt, und als sie verklungen war, reckte Malkor seine
Axt in die Höhe und rief: "Nun lasst uns feiern, Brüder! Lasst
uns jene feiern, die von nun an an Arthors Tafel auf uns warten! Lasst
uns ihre gebrochenen Hüllen in prasselnde Flammen kleiden, auf dass
sie am Himmel feiern können wie wir auf Erden!"
-
In der folgenden Stunde versammelten sich die
Uwarier und Zitadellenbewohner auf dem Hof, wo ein halbes Dutzend großer
Scheiterhaufen aufgetürmt worden war. Nach alter Sitte der Krieger
aus dem Norden waren auch die getöteten Pferde an die Seite ihrer
Herren gebettet worden. Magische Bannkreise hielten den aufsteigenden Leichengestank
zurück und verliehen der Szenerie die ihr angemessene Würde.
Pyrolitfackeln standen an jedem Haufen, und uwarische Krieger hielten gemeinsam
mit Grenzern die Totenwache.
Als jeder seinen Platz gefunden hatte und
allgemein wieder Ruhe einkehrte, trat Malkor mit zwei uwarischen Tempelpriestern
vor, die an jedem einzelnen Scheiterhaufen den Ritus der vollkommenen Reinigung
vollzogen. Anschließend verteilte der Hauptmann Fackeln an einfache
Soldaten aus beiden Armeen, die die aufgetürmten Körper ihrer
toten Kameraden entzündeten. Die Feuer breiteten sich rasch aus, zogen
in die Höhe und verwandelten den Hof in ein rot leuchtendes Amphitheater,
in dem die Lebenden nur Zuschauer waren, die lange Schatten an die massiven
Mauern warfen.
Migdo beobachtete seltsam unbeteiligt die
prasselnden Flammen, die sich durch die zerschmetterten Körper fraßen.
Seine Seite brannte, und die Wunde an seinem Arm war teilweise wieder aufgerissen.
Er war jedoch sogleich versorgt worden, so dass die intensiven Kopfschmerzen
sein größtes Problem waren.
Er sah zu Malcolm hinüber, der neben
dem Lordprotektor stand und über seiner eleganten Grenzeruniform eine
grobe, mit martialischen Symbolen verzierte Schärpe als Zeichen seiner
königlichen Herkunft trug.
Der dunkelhaarige Mann wirkte sehr ernst,
in seinem fest auf das leuchtende Feuer gerichteten Blick lag eine wilde,
drohende Wut, die überhaupt nicht zu ihm passte und wohl vor allem
die Erwartungen der Uwarier befriedigen sollte.
Migdos Gedanken schweiften ab, zurück
zu der hitzigen Diskussion, zu der es nach Zurgins Eröffnung über
den gestohlenen Schutzkristall gekommen war. Sie hatten sich in Lordprotektor
Anthulius’ Gemächer zurückgezogen, um vor neugierigen Ohren sicher
zu sein. Hauptmann Hulth war zurückgeblieben, um den Rücktransport
der Toten und Verwundeten zu überwachen.
"Das ist doch schwachsinnig", hatte Roban
eingeworfen, kaum dass er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte.
"Warum sollte jemand einen Schutzkristall stehlen? Damit kann doch außer
uns niemand etwas anfangen."
"Das stimmt so nicht", hatte Zurgin zurückgegeben,
während er sich in einem Sessel neben Anthulius’ Schreibtisch niederließ.
"Die Kristalle wurden vor Äonen von den Titanen gefertigt, und wie
Migdos Vater in der ´Katalogisierung der Schutzkristalle` feststellt,
sind sie im Grunde alle identisch: gewaltige Katalysatoren, die den Strom
der magischen Energie verändern, bündeln und auf verschiedene
Art wieder abgeben können. Wir nutzen sie in unserer Mine als Waffen,
ebenso wie die Zitadelle, obwohl die vier roten Giganten des Kristallrings
allgemein als die größten heute noch erhaltenen Exemplare gelten.
Einzig die beiden Schildkristalle von Jundsmark können sich mit ihnen
messen."
Kijena fuhr dazwischen: "Aber wozu? Wozu könnte
man die Kristalle nutzen - besonders ohne die dazugehörige Maschinerie?"
"Es gäbe durchaus einige Anwendungsfelder",
meinte der alte Meisteringenieur. "Was Lugerto und mich vielmehr beunruhigt,
ist die Frage, wie die Diebe den Kristall fortgeschafft haben."
"Es muss eine komplexe Mischung aus Tarn-
und Teleportationsmagie gewesen sein", fügte der Hofzauberer hinzu.
"Das Werk eines Meisters der magischen Künste."
"Wer wäre dazu im Stande?" fragte Migdo.
"Niemand, den wir kennen..." antwortete der
alte Mann. "Keiner aus meinem Orden hat solche Kräfte."
Der Lordprotektor ließ sich in seinen
Sessel hinter dem breiten Schreibtisch fallen und meinte: "Wer auch immer
dafür verantwortlich ist, er hatte auf jeden Fall Verbündete
innerhalb dieser Mauern. Ohne genaue Informationen ist auch das Anlegen
des mächtigsten Bannkreises nicht möglich, oder, Lugerto?"
Der Zauberer nickte.
"Also müssen wir uns fragen", fuhr Anthulius
fort, "wie wir den Verräter ausfindig machen. Alle Anwesenden können
wir ausschließen. Malcolm, Kijena und Roban waren auf dem Weg nach
Süden, Migdo und Zurgin noch in der Mine, ohne eine Ahnung von dem,
was hier geschehen war. Mich selbst und Lugerto wage ich ebenfalls auszuschließen,
aber jeder andere in diesem Tal ist verdächtig."
"Bis auf die uwarischen Neuankömmlinge",
gab Roban zu bedenken.
"Wir Uwarier verachten allgemein die Magie",
meinte Malcolm. "Mein Vater würde sich niemals auf einen Plot gegen
die Zitadelle einlassen, um irgendeinen alten Zauberstein in die Hände
zu bekommen. Es würde unser Haus entehren und ihn wahrscheinlich die
Krone kosten, wenn das herauskäme." Der junge Offizier redete völlig
objektiv über diese Dinge. Alle betrachteten ihn mit einer Mischung
aus Erstaunen und Bewunderung.
Nach einer kurzen Stille erklärte Anthulius:
"Wir müssen Ermittlungen anstellen. Der oder die Täter müssen
gefasst werden, ohne dass sie vorher Verdacht schöpfen können.
Und dann müssen wir aus ihm herausquetschen, was er weiß."
"Wahrscheinlich ist er auch nur ein Mittelsmann",
fügte Malcolm hinzu.
"Wie auch immer. Er muss gefunden werden.
Schwärmt unauffällig aus, durchsucht alle Nischen, beobachtet
die Bediensteten. Wir müssen erfolgreich sein, bevor wieder etwas
mit unseren Kristallen geschieht." Der alte Offizier erhob sich. "An die
Arbeit."
Und so stand Migdo nun mit den Anderen auf
dem vom Feuer erhellten Hof und beobachtete unauffällig, aber sehr
aufmerksam die zahllosen Offiziere, Diener, Soldaten und Beamten, die sich
unter den hohen Mauern drängten. Sein Herz klopfte ruhig, und sein
Verstand tastete sich langsam durch den Sumpf der Verdächtigen.
-
Nach dem Ende der Trauerfeierlichkeiten versuchte
Migdo vergeblich, mit einigen der Zitadellenbewohner ins Gespräch
zu kommen. Trotz der aufmunternden und tröstenden Worte, die in den
letzten Stunden gesprochen worden waren, herrschte eine mehr als gedrückte
Stimmung, als die Leute sich langsam von den qualmenden Aschehaufen entfernten.
Die Nachtruhe wurde ausgerufen und alle bis auf die diensthabenden Wachen
gingen zu Bett.
Migdo und Zurgin gingen einen Gang entlang
in Richtung ihres Laboratoriums.
"Wo steckt eigentlich Xergi?" fragte der jüngere
Zwerg. "Ich habe ihn seit gestern kaum gesehen."
"Ich hab ihm geraten, sich im Hintergrund
zu halten", erklärte der Meisteringenieur. "Goblins neigen dazu, in
angespannten Situationen schnell den Zorn der Menschen auf sich zu ziehen.
Und die Situation hier ist im Augenblick sehr angespannt. Aber zu etwas
anderem: ich möchte, dass du dich mit den Soldaten unterhältst,
die während der Zeit der Zwischenfälle auf dem Kristallring Dienst
hatten. Menschen sind uns Zwergen gegenüber oft sehr gesprächig,
weil sie uns für dumme kleine Missgeburten halten."
"Nicht alle Menschen."
"Aber mehr als du wahrscheinlich annimmst.
Lass dich nicht von ihrer Freundlichkeit täuschen - es gehört
zur Art der Menschen, Verachtung meist nur hinter vorgehaltener Hand zu
äußern. Auf jeden Fall solltest du ein wenig mit den Wachen
quatschen, am besten nimmst du ein wenig Starkbier mit. Sieh zu, ob du
etwas herausfindest, was sie ihren Vorgesetzten nicht erzählt haben."
Migdo nickte. "Wie du willst... Meister..."
"Mach dich nicht über mich lustig, Bürschlein!"
-
"Nein, der Hauptmann ist schon in Ordnung",
meinte der Wachmann. Sein Name war Jukosh, und als Migdo ihm einen kräftigen
Schluck aus seiner Flasche Starkes Braunes angeboten hatte, war er sofort
sehr gesprächig geworden. "Es ist nur so, dass er sehr streng ist.
Er schimpft oft mit den Jüngeren."
"Hat er dich auch schon mal ausgeschimpft?"
fragte Migdo.
"Ja, manchmal... aber ich pass’ auf, dass
er nicht so oft einen Grund hat."
"Glaub ich gerne! Passiert denn hier so viel?
Was kann man denn hier oben schon Schlimmes anstellen?"
Der junge Soldat zögerte sichtlich, aber
nachdem Migdo ihm einen weiteren Zug aus seiner Flasche gewährt hatte,
fuhr er fort: "Na ja... weißt du, es ist ziemlich langweilig hier
oben... meistens jedenfalls. So einen Angriff wie gestern haben wir fast
nie - ich war wach bei dem Angriff! Wirklich!"
Aha, dachte der Zwerg, jetzt wird’s
interessant...
"Es... es ist nur so... also... manchmal,
wenn es sehr kalt ist... na ja, dann wickel ich mich in meine Decke und..."
"...und schläfst ´ne Runde", beendete
Migdo den Satz. Der junge Mann nickte unsicher. "Halb so wild", beschwichtigte
der Zwerg. "Ist mir auch schon passiert. Aber sag mal... als der erste
Kristall zerstört wurde, hast du da auch gepennt?"
Das beschämte Gesicht seines Gegenübers
sprach Bände.
"Es war ein beschissen kalter Tag", erklärte
er. "Wenn der Koch nicht eine heiße Suppe gebracht hätte, wär’n
wir wahrscheinlich hier oben erfroren..."
Migdo wurde hellhörig. "Dürft ihr
im Dienst essen?" fragte er.
"Nein, eigentlich nicht, also erzähl
das bloß keinem! Aber der Koch, Lukar, ist so nett und bringt uns
was, wenn wir eine Vollschicht haben."
Migdo nickte. Die Frage, ob Jukosh kurz nach
Einnahme der Mahlzeit eingeschlafen war, stellte er gar nicht erst.
-
"Ich werde ihn nach Kel Utaz versetzen lassen!"
knurrte Malcolm. "Soviel Idiotie ist auch für einen einfachen Soldaten
unentschuldbar!"
"Bloß nicht", wand Roban ein. "Wer weiß,
was er da draußen noch für Schaden anrichtet!" Schnellen Schrittes
hasteten sie den Gang entlang, so dass Migdo und Zurgin Mühe hatten,
hinterher zu kommen. Kijena war zum Lordprotektor geeilt, um ihm von Migdos
Erkenntnissen zu berichten.
Schließlich erreichten sie das Gewölbe
im untersten Teil der Zitadelle, das zur Küche und den Vorratsräumen
führten. Die diensthabende Wache war sichtlich überrascht und
beeilte sich, Haltung anzunehmen.
"Lass niemanden hinein oder heraus, bevor
der Lordprotektor hier ist", befahl Malcolm barsch und stürmte an
dem Mann vorbei. "Wo geht es zur großen Küche?"
"Nach links, Mylord - am Ende des Ganges!"
Der Leutnant gab Roban ein Zeichen, worauf
dieser nach rechts verschwand, höchstwahrscheinlich, um eventuelle
Fluchtwege zu blockieren.
"Folgt mir", meinte Malcolm und sie gingen
in die andere Richtung. Die Bediensteten, denen sie begegneten, waren überrumpelt
von der Anwesenheit des hohen Offiziers und der beiden kleinwüchsigen
Besucher. Niemand wagte es, sie anzusprechen.
Nachdem sie einen weiteren Ziegelgang mit
verrauchter Decke durchquert hatten, tat sich vor ihnen die große
Küche auf, in der ein halbes Dutzend Feuerstellen, an denen Suppen
gekocht und große Fleischbrocken gebraten wurden, eine fast unerträgliche
Hitze produzierte. Einige Hilfsköche sahen erstaunt zu ihnen hinüber.
"Wo ist der Chef?" fragte Malcolm. "Wo ist
Lukar?"
Einer der Männer, ein rothaariges Männchen
mit riesigen Ohren, deutete auf ein kleines Seitengewölbe am Ende
des Raumes und stotterte etwas Unverständliches in einem lurrischen
Dialekt. Sie gingen an den zurückweichenden Untergebenen vorbei und
sahen vorsichtig in den dunklen Gang hinein.
"Was zum...?" entfuhr es Migdo.
Im Schatten eines uralten Steinbogens stand
ein zierlicher Mann mit schiefer Nase und langem, schmierigem Haar. Sein
pockennarbiges Gesicht wurde noch zusätzlich von einem fleckigen Stoppelbart
verunstaltet, und von seinem rechten Ohr war nur noch knapp die Hälfte
übrig. Er war vornüber gebeugt und in eine Unterhaltung im Flüsterton
vertieft, und als die beiden die Neuankömmlinge bemerkten, war sein
Gegenüber der einzige, der noch überraschter wirkte als der Koch
selbst.
Es war Xergi.
Bevor jemand etwas sagen konnte, stieß
Lukar den Vulgoblin von sich und stürmte mit so erstaunlicher Geschwindigkeit
an ihnen vorbei, dass selbst Malcolm nicht rechtzeitig nach ihm greifen
konnte. Eine Spur der Verwüstung hinterlassend raste er im Zickzackkurs
durch die Küche und verschwand in einem weiteren Gewölbe, das
zuvor von einem Regal mit Kräutertöpfen verdeckt worden war.
"Migdo!" schrie Malcolm. "Schneid ihm an der
Treppe den Weg ab!" Damit verschwand er ebenfalls in dem dunklen Loch.
Der junge Zwerg tat wie ihm geheißen und rannte zurück zu der
Wache. Er konnte den Mann schon am Ende des Ganges sehen, als plötzlich
eine schattenhafte Gestalt aus der Wand zu brechen schien und ihn grob
anrempelte. Migdo fiel jedoch nicht und griff nach dem Bein des Verräters.
"Tut ihm nichts!" schrie plötzlich Xergi,
der, gefolgt von Zurgin, hinter ihm her gekommen war.
Lukar schubste den Zwerg grob beiseite und
stürmte auf die Treppe zu, als Roban aus einem Seitengang sprang und
ohne zu zögern mit seinem Schwert nach ihm schlug.
"NEIN!" schrie Xergi mit verzweifelter Wut
und warf sich zwischen die beiden viel größeren Menschen. Robans
Klinge traf ihn in die Seite und schlitzte seinen dürren Körper
auf. Dunkles Blut spritzte auf und weiches, rosa-graues Fleisch quoll ins
Freie. Der Vulgoblin wurde davongeschleudert und Robans Klinge nach rechts
abgelenkt, so dass sie sich bis zum Heft in Lukars Brust bohrte, als dieser
zur Seite springen wollte. Der dürre Hofdiener ächzte erschrocken
auf, starrte einen Moment lang an sich herab und sank tot zu Boden.
Roban zog benommen seine Waffe zurück,
während Kijena, die bei ihrer Suche nach Anthulius keinen Erfolg gehabt
hatte und deshalb zurückgekehrt war, zu Xergi eilte, der an der Seitenwand
lag und leise stöhnte. Seine Augen waren verdreht und er offensichtlich
im Delirium.
"Warum hat er das getan?" fragte Roban verdattert.
"Warum...?"
"Ist doch egal", wand Kijena ein. "Wir müssen
ihm helfen! Wo ist Lugerto?"
"Er ist unterwegs", gab Malcolm zurück.
"Kannst du die Blutung stoppen?"
"Ich versuche es. Aber ich bin nicht gut darin..."
In diesem Moment kam der Hofzauberer in den
Keller gerannt und ließ sich geradezu neben dem Goblin auf dem Boden
fallen. Seine Hände suchten Xergis Körper ab und formten komplexe
Muster über seinen blutverschmierten Wunden. Das graue Fleisch leuchtete
auf und der Goblin stieß einen markerschütternden Schmerzschrei
aus, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor.
"Ist er tot?" fragte Malcolm.
"Nein", murmelte Lugerto. "Er könnte
es schaffen... die Wunde ist tief... aber er könnte sich erholen..."
"Warum?" wand Roban tonlos ein und starrte
auf die winzige, gekrümmte Kreatur hinab. "Warum hat er das getan?"
-
Malcolm, Zurgin, Migdo und der Lordprotektor
saßen in dessen Gemach und sprachen über die jüngsten Vorfälle.
"Was sagt Lugerto?" fragte Anthulius. "Wird
der Goblin überleben? Wann können wir ihn verhören?"
"Er ist noch nicht wieder bei Bewusstsein",
antwortete Malcolm.
"Wenn er wieder zu sich kommt, wird er uns
erklären müssen, warum er den Verräter schützen wollte..."
"Ich kann mir immer noch nicht vorstellen,
dass Xergi ein Verräter ist", wand Migdo ein. "Er ist zwar eine widerliche
kleine Made, aber das..." Er ließ das Ende des Satzes offen und sah
zu Zurgin hinüber, aber der Meisteringenieur schwieg.
"Was habt ihr über den Koch herausbekommen?"
fragte Anthulius weiter.
Malcolm erläuterte: "Seine ganze Familie
wurde bei einem Überfall umherziehender Räuber auf sein Dorf
getötet. Der Dorfälteste hatte bei uns um Hilfe ersucht, aber
wir konnten nicht rechtzeitig reagieren, da die meisten unserer Truppen
gerade gegen die Dunkelelben kämpften. Alle wurden abgeschlachtet,
nur Lukar überlebte."
Sie schwiegen einen Moment lang.
"Er hasste uns", meinte der Lordprotektor
schließlich. "Er muss uns schon gehasst haben, als er zum ersten
Mal hierher kam."
"Dummerweise hat zu diesem Zeitpunkt niemand
auf seine Vorgeschichte geachtet."
"Dann hat er sich mit Xergi verbündet,
bevor dieser in den Dienst der Mine trat?" meinte Migdo. "Diese Verschwörung
ist ja von geradezu absurd langer Hand geplant..."
"Nicht unbedingt."
Der überraschende Einwand kam von Zurgin,
der bisher stoisch geschwiegen hatten.
"Was meint ihr?" fragte Malcolm.
"Nun..." gab der alte Zwerg zurück und
sah auf seine dicken Finger hinab. "Ich muss euch einige Dinge berichten,
die Xergi betreffen... und den Verräter, nach dem wir suchen..."
-
Der Krankenflügel der Zitadelle von Hamarsburg
war nach dem letzten Angriff der Dunkelelben hoffnungslos überlastet,
so dass Xergi in einem separaten Zimmer untergebracht war. Ein Wachmann
stand vor der einzigen Tür, wurde aber kurz nach Mitternacht abgezogen,
da der allergrößte Teil der Bewohner schlief und alle Tore geschlossen
waren.
Eine knappe halbe Stunde später huschte
eine vermummte Gestalt durch den dunklen Gang und trat mit schnellen Schritten
an die Tür des Krankenzimmers. Das Schloss knackte leise, dann schob
der Eindringling die Tür ein Stück weit auf und verschwand im
Inneren. Das Zimmer war relativ groß und mit mehreren Schränken
sowie einem schmucklosen Krankenbett ausgestattet. Eine einzelne Pyrolitkerze
stand daneben und warf ihr rötliches Licht auf Xergis blasses Gesicht.
Der Goblin wirkte noch kleiner als sonst, und seine Haut war wie Wachs.
Ohne lange zu zögern zog der Eindringling
einen kurzen Dolch und stieß ihn viermal hintereinander tief in die
Brust des aschhäutigen Winzlings, der ohne einen Ton erschlaffte.
Mit einer zufriedenen Bewegung ließ
der Vermummte seine Waffe in seinem Umhang verschwinden und wandte sich
zum Ausgang.
"Einen Moment noch", ließ Malcolm vernehmen
und stellte sich breitbeinig in die Tür.
Kijena trat neben ihn und fügte hinzu:
"Du willst doch nicht schon gehen, oder, Roban?"
Der junge Unteroffizier erstarrte und zog
zögernd seine Kapuze zurück.
"Ihr hattet Recht, Meister Zurgin", meinte
Kijena, während der alte Zwerg sich zwischen ihr und Malcolm hindurch
schob.
"Ich wollte ihn nur aus dem Weg schaffen!"
rief Roban und deutete auf das Krankenbett. "Er wollte uns verraten und..."
Bevor er weitersprechen konnte, schnippte
Zurgin einmal kräftig mit den Fingern und der tote Vulgoblin verpuffte
zu einer Wolke winziger, glitzernder Sterne. Die Bettdecke sank herab,
als plötzlich nichts mehr da war, das sie bedecken konnte.
Roban starrte das leere Bett noch einen Moment
lang an, dann wandte er sich wieder den Anderen zu. Ein begreifendes Lächeln
umspielte seine Lippen.
"Ein magischer Zwilling", knurrte er.
"Ganz recht", gab der alte Meisteringenieur
zurück, während hinter ihm Lordprotektor Anthulius und ein Dutzend
Wachen den Gang füllten. "Der echte Xergi ist in meinem Labor und
erholt sich sehr schnell, dank Lugertos Heilkunst. Und wenn er das Bewusstsein
wiedererlangt hat, wird er uns zweifellos berichten, dass er mit Lukar
gesprochen hat, wie ich es ihm aufgetragen hatte - und dass der Koch ihm
verraten hat, wer sein Verbindungsmann war."
"Das ist alles Unsinn", blaffte Roban. "Ihr
habt keinen Beweis!"
"Wir haben Indizien", gab Malcolm zurück.
"Du hast unsere Abreise aus dem Talposten
verzögert", meinte Kijena. "Hätte Malcolm nicht darauf bestanden,
trotz des Sturms weiter zu reiten, wären wir mitten in den Überfall
der Dunkelelben auf Kel Utaz geraten."
Der Lordprotektor nickte. "Und unser Hilferuf
hätte Meister Zurgin nie erreicht."
"Das... das ist doch Unsinn", stotterte Roban
und spielte nervös an seinem Schwertgriff. "Ich würde nie..."
"Du warst mit Zurgin im Freien, als wir anderen
Kel Utaz durchsucht haben!" fuhr Migdo ihm ins Wort. "Trotz deiner hervorragenden
Ausbildung willst du nichts von den Dunkelelben bemerkt haben, die euch
umstellten."
"Ja..." meinte Zurgin. "Ihr hattet nur Augen
für mein magisches Feuer - obwohl Pyrolit hier genauso oft verwendet
wird wie in meiner Mine und ihr ohne Zweifel schon öfter welches gesehen
hattet."
"Und als wir dann gegen die Dunkelelben kämpften,
hättest du Zurgin fast getötet - genau wie Kijena bei dem Kampf
auf der Westebene."
Die junge Frau nickte. "Du wusstest, dass
ich dich am besten kenne und am ehesten Verdacht schöpfen würde.
Deshalb wolltest du mich loswerden."
"Das war der Grund", fügte Meister Lugerto,
der gerade dazu kam, hinzu, "warum der Koch den zweiten Kristall sabotierte:
damit wir bei unserer Suche nach dem Verräter euch von vornherein
ausschlossen, da ihr ja mit Malcolm und Zurgin im Gebirge wart, als es
zu dem Ausfall kam."
Angesichts all dieser Anklagen wich der schlanke
Soldat immer weiter zurück, sein Schwert glitt langsam aus der Scheide.
Die Wachen zogen ebenfalls ihre Waffen, aber bevor einer von ihnen sich
Roban nähern konnte, schleuderte dieser etwas zu Boden und ein gleißender
Lichtblitz erfüllte den Raum. Alle schrieen erschrocken und geblendet
auf, Migdo wurde von irgendwem umgerempelt und stieß gegen die Tür.
"Verdammt!" kläffte er. "Was war das?"
"Ein Ortswechselzauber!" gab Zurgin von irgendwo
her zurück. "Teleportationsmagie!"
"Wo ist er hin?" fragte Malcolm. "Raus auf
die Ebene?"
"So groß ist die Reichweite des Zaubers
nicht! Er muss noch irgendwo in der Zitadelle sein."
Die Wirkung des Blitzes ließ langsam
nach. Alle begannen sich wieder zu orientieren.
"Ich denke, ich weiß, wo er hin ist..."
meinte Malcolm.
-
Der diensthabende Soldat auf dem Kristallring
wurde von dem plötzlichen Lichtblitz geblendet und sah den Angreifer
nicht einmal, der ihm zuerst seine Klinge in den Hals stieß, um ihn
dann mit einem Tritt über den Rand der Konstruktion in den Abgrund
zu befördern. Noch bevor er unten aufschlug, hatte Roban nach einem
kurzen Zweikampf auch Wachmann Jukosh überwältigt und getötet.
Dann wandte er sich den Kristallen zu, die sanft pulsierend in die Nacht
hinausragten.
Vom Treppenaufgang her ertönten laute
Rufe und Getrampel, dann erschien Malcolm mit Kijena und Migdo, gefolgt
von Lugerto, dem Lordprotektor und einem halben Dutzend Wachsoldaten.
"Roban! Ergib dich!" rief Malcolm streng.
"Träum weiter!" gab er höhnisch
zurück und ließ seine blutige Klinge in Richtung seiner Gegner
kreisen.
"Roban, was auch immer du getan hast, wir
können darüber reden! Tu jetzt nichts Unüberlegtes!"
"Mach dich nicht lächerlich..."
"Komm hierher. Niemand wird dir etwas tun,
und wenn du uns verrätst, wer dich beauftragt hat, werden wir dich
vor ihm beschützen..."
"Nein!" schrie er. "Es ist sinnlos, versteht
ihr das nicht? Wir können uns Uglak und Ankta nicht widersetzen! Sie
sind zu mächtig!"
Malcolm trat einen Schritt vor, stoppte aber
sofort, als sein alter Kampfgefährte zitternd sein Schwert hob. "Von
wem sprichst du, Roban?" fragte er. "Wer sind diese Leute?"
Roban schlotterte mittlerweile am ganzen Leib,
seine Augen waren vor Angst geweitet. "Sie sind Götter..."
zischte er fast unhörbar, und es klang wie ein Gebet. "Sie sind böse
Götter!"
"Wer sind sie?"
"Böse Götter... böse Götter..."
"Roban, komm zu dir!" befahl Malcolm im Ton
eines vorgesetzten Offiziers. "Reiß dich zusammen und sag mir, von
wem du sprichst!"
Der Blick des jungen Mannes wurde wirr. "Allañto
nuhan kirejas", murmelte er, seine Hände schienen sich zum Gebet
falten zu wollen. Seine Lippen formten weitere fremdartige Worte, aber
es war kaum ein Laut zu hören.
"Was redet er da?" fragte Kijena irritiert.
Malcolm starrte seinen früheren Adjutanten
an und meinte: "Das ist inschalai, die Staatssprache der Titanen... ich
verstehe sie zwar kaum, aber er sagt irgendetwas über den Tod..."
Migdo staunte wieder einmal über die Bildung seines Freundes. In ganz
Mul Añwar gab es so gut wie niemanden mehr, der auch nur ein Wort
aus der Sprache der alten Götter kannte.
Roban wandte sich weiter von einem zum anderen,
seine Augen schienen nach Unterstützung zu suchen. Bis er schließlich
erkannte, dass er hier keine Verbündeten finden würde. Plötzlich
brach er nach links aus und stürmte auf den erst kürzlich reparierten
Schutzkristall zu.
"Haltet ihn auf!" rief Zurgin, aber niemand
war nahe genug, um Roban noch zu stoppen. "Goñisha-Narifi risanas
Allañto nuhan!" kreischte er, dann stieß sein Körper
gegen die massive Wand aus blutrotem Zauberglas.
Die nachfolgende Explosion war so gewaltig,
dass jeder der Anwesenden mehrere Meter weit zurückgeschleudert wurde,
der nächtliche Himmel wurde von einem tiefroten Feuerball erhellt.
Einer der Wachleute wurde von der Druckwelle über den Rand des Kristallrings
geblasen und verschwand panisch schreiend in der Tiefe. Zwei scharfe Glassplitter
sausten an Migdos Gesicht vorbei, einer ritzte die Haut an seiner Wange,
dann wirbelte der junge Zwerg gegen eine Wand und glitt zu Boden.
Als er sich wieder erhob, hatte sich der dunkle
Rauch soweit verzogen, dass er die Halterung des Schutzkristalls sehen
konnte. Es war kaum noch etwas davon übrig. Dann sah er sich um. Bis
auf den Wachmann war offenbar niemand von dem Ring gefallen, aber mehrere
seiner Gefährten lagen blutverschmiert und gekrümmt auf der spiegelglatten
Oberfläche.
Meister Lugerto lag auf dem Rücken, in
seiner Brust steckte ein zapfenförmiges, scharfkantiges Kristallfragment.
Blut quoll aus seinem Mund.
"Oh mein Gott", schnaufte Kijena und stolperte
zu dem alten Zauberer hinüber. Als sie den Splitter herausziehen wollte,
hielt der Lordprotektor sie zurück und beugte sich hinab. Malcolm
war bereits ins Innere des Turms gelaufen und rief nach einem Arzt. Migdo
kroch zu den Anderen hinüber, die nach Kräften versuchten, die
Blutung zu stoppen. Kijenas Gesicht war mit roten Schrammen übersäht,
sie presste einen abgerissen Ärmel ihres Gewandes auf Lugertos Brust,
die sich unregelmäßig hob und senkte.
"Meister Zurgin, könnt ihr etwas tun?"
fragte Anthulius. "Versteht ihr euch auf heilende Magie?"
Der alte Zwerg schüttelte den Kopf. "Darin
bin ich völlig unbegabt... und es würde auch nichts mehr nützen..."
Sie blickten auf Lugerto hinab. Seine Brust
hatte aufgehört, sich zu bewegen, seine blassen Augen starrten leer
in die Ferne. Der Hofzauberer von Hamarsburg war tot.
© Imladros
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