Als Migdo die Augen aufschlug, war er etwas
überrascht über die schummerige Dunkelheit, die ihn umgab. Irgendwo
außerhalb seines Blickfelds flackerte eine Fackel, dumpfe Schläge
von Metall auf hartes Gestein ertönten.
"Komm schon", brummte jemand über ihm.
"Unsere Schicht fängt an!" Die Stimme kam ihm vertraut vor, wie eine
Erinnerung aus einer gar nicht allzu fernen Vergangenheit... wer war das...?
"Mach schon, Migdo, sonst kommen wir wieder zu spät! Der Chef hat
dich sowieso schon auf dem Kieker!"
Bevor er weiter überlegen konnte, stand
er auch schon und hatte sein Arbeitshemd an. Jurbi Eisenbrecher klopfte
ihm auf die Schulter und reichte ihm seinen Werkzeuggürtel.
"W-was mach ich hier...?" murmelte Migdo und
sah sich verirrt um.
"Na, wo wohl?" gab sein blondgelockter Kollege
zurück.
"Das... das ist die Mine...!"
"Was’n Blitzmerker!"
"Aber ich... ich dachte... wo ist Zurgin...?"
"Schon bei der Arbeit, nehm ich an. Er ist
doch immer der Erste."
"Aber..." stotterte er. "Die Zitadelle...
Malcolm... Kijena..."
"Von wem redest du?" Jurbi blieb stehen und
sah ihn abschätzend an. "Hast wieder zuviel gesoffen, was? Na, egal,
komm schon, der Schichtleiter ruft uns, hörst du nicht?"
"Migdo!" erklang tatsächlich eine seltsame
nahe Stimme. "Migdo!"
Er sah sich um. Wer rüttelte da an ihm?
Warum war ihm plötzlich so kalt um den Bart?
Und warum um alles in der Welt tat ihm sein
Hintern so weh?!?
-
"Migdo!" rief Ithul noch einmal und rüttelte
den jungen Zwerg, der vor ihm auf dem Pferd saß und just in diesem
Moment überrascht die Augen aufschlug.
"Was... was is passiert?" fragte er verwirrt.
"Ihr habt geschlafen, Herr", erklärte
der Soldat. "Lord Malcolm sagte, ich soll euch schlafen lassen."
Migdo stieß ein verstehendes Grunzen
aus und sah sich um.
Der Nebel füllte einen großen Teil
des Gebietes südlich der Hügelkette aus und kroch langsam wie
eine zähe Masse die flachen, spärlich bewachsenen Hänge
hinab, wobei einzelne Fäden hängen blieben wie bei einer ausgegossenen
Breischüssel. Der Wind strich Migdo über den Bart und unter den
Kragen. Eine leichte Gänsehaut machte sich in seinem Nacken breit.
Ithul gab dem Pferd leicht die Sporen und
brachte es dazu, den Hang an einer flachen Stelle hinab zu steigen. Es
hatte merklich Mühe, sicheren Tritt zu finden, aber dank seiner Erfahrung
mit diesem Gelände hielt es sich im Gleichgewicht.
"Wo zur Hölle stecken die bloß...?"
murmelte der junge Soldat. "Wir hätten sie längst einholen müssen..."
Migdo sah besorgt in die graue Wand hinab.
Sie waren nun schon vier Tage auf der Suche nach Malkors Garnison, hatten
aber nicht die geringste Spur gefunden. Xergi war am zweiten Tag zufällig
auf eine zerbrochene Streitaxt gestoßen, aber sonst nichts. Und dass
eine Armee auf dem Weg nachhause einige ihrer kaputten Waffen zurückließ,
war wirklich nicht ungewöhnlich.
"Wahrscheinlich haben sie schon vor Tagen
die Richtung gewechselt", meinte Malcolm. "Es muss etwas dazwischen gekommen
sein."
"Die Frage ist, was eine ganze uwarische Garnison
dazu bringen könnte, den Kurs zu wechseln", fügte Zurgin hinzu.
Betretenes Schweigen machte sich breit, während
sie den Hang hinab stiegen und an der anderen Seite des Tals nach einem
guten Aufstiegspunkt suchten.
-
Als der Abend kam, machten sie in der Nähe
eines abgestorbenen Nussbaumhains ein Feuer und ließen die Pferde
ausruhen. Kijena hatte unterwegs eine Hirschkuh erlegt, die Malcolm und
Zurgin nun mit viel Genuss ausweideten und in mundgerechte Stücke
zerlegten, die sie in einem komplexen Geflecht aus Zweigen und dünnen
Metallstreben über das Feuer hängten.
"Also, das muss man den Zwergen lassen", meinte
Ithul schmatzend, nachdem er eine halbe Stunde später von seinem Stück
probiert hatte. "Vom Fleischbraten haben sie echt Ahnung."
"Wenn euch das gefallen hat," meinte Zurgin
und streute dem jungen Uwarier etwas von einer roten Gewürzmischung
auf sein Fleisch, "dann probiert es erst einmal jetzt!"
Während Ithul in den folgenden Minuten
weitere Lobeshymnen auf die zwergische Küche sang, rückte Migdo
näher an Xergi heran und reichte ihm eine Flasche Starkbier. Der Vulgoblin
betrachtete das Gefäß einen Moment lang misstrauisch.
"Nimm schon, du kleine Missgeburt", knurrte
Migdo. "Bevor ich’s mir anders überlege."
Dies schien Xergi mehr von der Aufrichtigkeit
seiner Absichten zu überzeugen als jeder Versuch von Freundlichkeit,
und so schnappte er sich die Flasche und nahm einen tiefen Zug. Sein winziger,
lederner Bauch blähte sich regelrecht über der einströmenden
Flüssigkeit. In Migdo stieg leichter Ekel auf, er blickte weg und
fragte: "Was hast du eigentlich mit dem Koch besprochen?"
Das Thema war dem Goblin sichtlich unangenehm,
er antwortete dennoch: "Ich hatte mich zu ihm durchgefragt. Meister Zurgin
hatte es mir aufgetragen, und die Leute fanden mich harmlos genug, um zwanglos
mit mir zu sprechen. Sie trauen uns Goblins nicht zu, dass wir etwas Komplizierteres
als einen Gang zum Klo planen könnten." Er blickte in das Feuer. Mittlerweile
waren alle zur Ruhe gekommen und lauschten ihm mit ernsten Gesichtern.
"Er hatte solche Angst", hauchte der Goblin. "Er hasste die Grenzer und
wünschte ihnen nur das Schlimmste... aber er hatte bemerkt, dass das,
auf das er sich da eingelassen hatte, zu schrecklich war und zu viele Menschen
ins Unglück stürzen würde... wenn ich noch etwas mehr Zeit
gehabt hätte... er hätte mir alles erzählt... er hatte so
furchtbare Angst..."
"Mach dir keine Vorwürfe", wand Malcolm
ein. "Du konntest nicht wissen, was Roban vorhatte."
"Und du warst sehr mutig", fügte Kijena
hinzu. "Nicht jeder hätte so selbstlos sein Leben für unsere
Sache riskiert."
Xergi schnaubte. "Das war wohl mehr unüberlegt
als mutig..."
"Hat er wirklich nichts über die Absichten
seiner Auftraggeber gesagt?" fragte Migdo.
"Nein... er sagte nur, er hätte große
Angst vor seinem Kontaktmann... ich glaube, er wusste selbst kaum, worum
es eigentlich ging..."
"Roban dagegen schon", knurrte Zurgin. "Und
er kann uns nichts mehr sagen..."
"Habt ihr etwas über diese Namen herausgefunden,
von denen er kurz vor seinem Tod sprach? Uglak und Ankta?"
"Nichts", sagte der Meisteringenieur. "Aber
ich hoffe, dass wir am uwarischen Hof jemanden treffen, der uns da weiterhelfen
kann."
Alle sahen ihn fragend an, aber er hatte offenbar
nicht vor, ihnen weitere Einzelheiten mitzuteilen.
Plötzlich ruckten Kijenas, Ithuls und
Malcolms Kopf gleichzeitig herum, sie starrten angespannt in Richtung Nordosten.
"Was ist los?" fragten die beiden Zwerge fast
gleichzeitig.
"Da kommt jemand..." sagte Kijena leise.
"Mehrere Krieger", fügte Ithul hinzu.
"Mindestens vier, wahrscheinlich fünf. Einer der Männer hat eine
kaputte Beinschiene. Sie klappert."
Migdo und Zurgin warfen sich einen vielsagenden
Blick zu, obwohl sie beide nicht sicher waren, ob der junge Soldat das
ernst meinte oder sie nur veräppelt wurden. Aber die ernsten Gesichter
ihrer Gefährten ließen auf Ersteres schließen.
Malcolm machte einige Zeichen mit den Händen,
worauf Kijena und Ithul ihre Waffen zückten und sich in zwei Richtungen
davonmachten. Kurz darauf ertönte jedoch ein hoher Pfeifton, gefolgt
von einem mehrmaligen dumpfen Pochen, ähnlich einem lauten Herzschlag.
"Das Signal", flüsterte Malcolm.
Wenige Minuten später traf eine erbärmliche
kleine Gruppe an ihrem Lager ein: es waren vier uwarische Soldaten und
ein junger Unteroffizier namens Lakor, der fast aus seiner zerbeulten Rüstung
kippte, als er Malcolm erkannte.
"Mylord", japste er und fiel auf die Knie.
Seine Männer taten es ihm gleich.
Der Prinz zog den jungen Offizier mit einem
wütenden Ruck wieder auf die Füße und sah ihm fest in die
Augen. "Was ist passiert, Mann? Bericht!"
"W-wir wurden überfallen... Mylord...
von Dunkelelben... und Trollen..."
Alle sprangen entsetzt auf.
"Wie kann das sein? Wo?" herrschte Kijena
den Jungen an.
"Auf der Ebene, nordöstlich von hier...
wir waren bei der Nachhut von Hauptmann Malkors Truppe... plötzlich
waren überall Elben und Trolle und... wir haben wie wild auf alles
eingedroschen, was sich bewegte, aber..."
"Wie kann das sein?" wiederholte Kijena mit
hörbarem Entsetzen in der Stimme. "Wir kommen gerade von Hamarsburg,
und die Zitadelle steht noch. Einen anderen Zugang zu den östlichen
Reichen gibt es nicht!"
Eine bedrückende Stille trat ein, als
allen die schockierende Konsequenz ihrer Worte bewusst wurde.
"Das kann nicht sein..." stammelte sie. "Das
kann
nicht sein!"
"Es muss so sein", gab Malcolm zurück.
"Die Schrecken müssen einen anderen Weg gefunden haben, die schwarzen
Gipfel zu überwinden."
Migdo verstand nicht. "Aber Kel Utaz wurde
doch auch von Dunkelelben attackiert. Die müssen doch auch über
die Berge gekommen sein."
"Ja", erklärte Kijena, "aber das ist
etwas anderes: oberhalb von Kel Utaz fließt ein unterirdischer Eisfluss
durch das Gebirge. Manchmal stürzen sich einige Elben hinein und lassen
sich mitreißen. Die meisten krepieren elend, aber einige kommen manchmal
durch, rotten sich zusammen und greifen an. Nur deshalb haben wir den Talposten
ja errichtet."
"Aber das hier..." fügte Malcolm hinzu.
"...ist offenbar eine große Streitmacht. Sie kann unmöglich
durch irgendeine kleine Öffnung gekommen sein. Es muss ein größerer
Durchgang entdeckt worden sein."
"Wenn das stimmt, sind wir alle tot", bemerkte
Xergi tonlos.
Migdo gab jedoch nicht auf. "Es könnte
doch sein, dass sie sich um das Hamartal schlichen, während wir gegen
die anderem gekämpft haben."
"Nein, Herr", wand Unteroffizier Lakor ein.
"Das war eine große Streitmacht, gut zweihundert Dunkelelben und
mindestens ein Dutzend Trolle. Sie haben uns zersprengt wie Vieh... die
hätten sich nie unbemerkt durch das Hamartal schleichen können."
"Wo ist der Rest der Truppe?" fragte Malcolm,
die schlimmsten Befürchtungen schwangen in seiner Stimme mit.
"Wir sind überall verstreut worden, Mylord.
Ich weiß nicht, wie viele es geschafft haben. Der Hauptmann hat mit
seiner Garde einer Reitergruppe den Weg freigekämpft, die vorausreiten
und Mul Uwar informieren sollte. Danach habe ich ihn aus den Augen verloren.
Es wurde dunkel, und die Elben jagten uns über die Hügel wie
die Hasen... ich habe noch drei Mann auf dem Weg verloren..."
Inzwischen hatten sich alle niedergelassen
und Kijena und Zurgin versorgten die Wunden der Männer. Einer von
ihnen hatte tatsächlich eine kaputte Beinschiene, aber viel schlimmer
war, dass auch das Bein, das sie schützen sollte, zerschmettert worden
war. Der rothaarige Jüngling hatte schon viel Blut verloren und erinnerte
in seiner Blässe und mit den zahllosen tiefroten Schrammen auf seinem
Gesicht beängstigend an die Leichen der Männer, die sie kaum
eine Woche zuvor verbrannt hatten. Wahrscheinlich würde er den nächsten
Sonnenaufgang nicht mehr erleben.
"Wie weit habt ihr euch vom Schlachtfeld entfernt?"
fragte Malcolm.
"Nicht mehr als ein paar Meilen, Mylord...
ich glaube, wir sind eine Weile im Kreis gelaufen."
"Wir sollten zusammen weiterziehen", meinte
Kijena. "Ihr könnt uns um die Schlachtzone ungefähr herumführen..."
"Nein!" fuhr Malcolm dazwischen. "Ich befehle
euch, sofort nach Hamarsburg zurückzukehren. Informiert den Lordprotektor
über das Geschehen und sagt ihm, dass wir versuchen werden, uns nach
Norden durchzuschlagen. Ithul, du wirst sie begleiten!"
Der junge Soldat widersprach: "Aber Mylord!
Ich habe Befehl, euch nach Mul Uwar zu führen."
"Unsinn! Ich kenne den Weg zum Haus meines
Vaters gut genug - und die Umwege, die wir wahrscheinlich nehmen müssen,
sogar sehr viel besser als ihr. Setzt den am schwersten Verletzten auf
euer Pferd und macht euch so bald wie möglich auf den Weg."
Zurgin trat vor und zog einen Kompass aus
seiner Tasche, den er dem Jungen reichte. "Hier, mein Freund. Geht nach
Südwesten, immer knapp entgegen gesetzt zur Richtung der Nadel. Dann
kommt ihr sicher zur Zitadelle zurück."
Ithul war mehr als überrascht über
dieses kostbare Geschenk. "Danke, Herr Muspelmeister, ich danke euch."
Dann wandte er sich um und half Lakor, den halb toten Rotschopf auf sein
Pferd zu heben.
"Das ist ziemlich hart", sagte Kijena halblaut.
"Der Junge wird den Ritt nie überstehen."
"Wäre er etwas älter, hätte
er sich längst selbst in sein Schwert gestürzt", gab Malcolm
mit belegter Stimme zurück. Alle sahen ihn überrascht an. "Das
uwarische Volk ist hart geworden im Laufe der Jahrhunderte, die es schon
gegen die Schrecken hinter den schwarzen Gipfeln kämpft", erklärte
er. "Normalerweise würde ein Krieger sich selbst an Arthors Tafel
berufen, wenn er durch seine Verletzungen eine wichtige Mission behindert
oder seine Kameraden aufhält."
Migdo brummte: "Du nimmst es mir hoffentlich
nicht übel, wenn mich diese Denkweise abstößt."
"Mich auch", sagte Malcolm und ging zum Lagerfeuer
zurück.
-
Knapp zwei Stunden später, nachdem sie
die Spuren ihres Lagers verwischt und Lakors Truppe verabschiedet hatten,
ritten sie einen von Süd nach Nord verlaufenden Hügelkamm hinab
und beobachteten dabei aufmerksam den Nebel, der sich krampfhaft hielt,
als würde etwas ihn daran hindern, sich zu lichten. Nach etwa einer
Meile stießen sie auf einen riesigen Uwarier mit Armen wie Baumstämmen,
der mit dem Gesicht nach unten an einem mit Unkraut überwucherten
Hang lag. In seinem Rückgrat steckte eine tiefschwarze, gezackte Streitaxt.
Kijena stieg ab und untersuchte den Mann und
die Umgebung kurz, aber der Rest der Gruppe ritt ohne Unterlass weiter.
Malcolm trieb sie von Hügel zu Hügel und schien dabei einem unsichtbaren
Pfad zu folgen. Sein Pferd musste nun auch Migdos Gewicht tragen, da Ithuls
schwarzer Hengst ihnen fehlte. Das Tier kam aber offenbar ganz gut zurecht
und wusste sich in dem unwirtlichen Gelände hervorragend zu behaupten.
Xergi, der mehr auf Migdo als vor ihm saß,
schnarchte ununterbrochen, und so boten die drei trotz ihrer ernsten Lage
ein recht lächerliches Bild, das Kijena und Zurgin nur allzu gern
zum Anlass manch einer gehässigen Bemerkung nahmen.
Als der Vulgoblin schließlich erwachte,
streckte er sich umständlich und wäre dabei beinahe vom Pferd
gefallen. Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, war, sich am
nächstbesten in Reichweite festzuhalten.
Und das war dummerweise Migdos Bart.
"Uaaah!!! Du kleines Ungeheuer!!!" donnerte
der junge Zwerg, als die Klaue des Goblins sich in seine dunklen Locken
vergrub und hart an seinem Gesicht riss. "Ich bring dich um!!! Ich reiß
dir deine hässlichen Ohren ab, du...!"
Malcolms flache Hand klatschte ihm über
den Hinterkopf und erinnerte ihn an ihre gefährliche Situation. Brummend
lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Brust des Prinzen und
glättete zärtlich seinen gequälten Bart.
"Oh!" stellte Xergi erfreut fest. "Wir reiten
ja zu mir nachhause!"
Migdo konnte regelrecht hören,
wie Malcolms Mundwinkel zuckten. Fragend wandte er sich um.
Der Prinz nickte. "Er hat Recht. Das Risiko,
auf Dunkelelben zu treffen, ist zu groß, wenn wir direkt durch das
Hügelland reiten. Deswegen reiten wir nach Norden. Zu den Aschehügeln."
"Und dort", fügte der Vulgoblin feierlich
hinzu, "werde ich euch das größte aller Wunder zeigen! Ihr werdet
den Eikebaumhügel sehen!"
Eine peinliche Pause entstand. Migdo erinnerte
sich zwar, dass dieser Name schon einmal gefallen war, aber er hatte vergessen,
in welchem Zusammenhang. Auch Malcolm ließ sich zu keinerlei Reaktion
hinreißen. Für die nächsten Minuten schwieg Xergi beleidigt,
so dass Migdo sich einem der Papierbögen widmen konnte, die Zurgin
ihm bei ihrer Abreise in die Tasche gepackt hatte. Es war ein verwaschener
Schaltplan einer technischen Anlage, die entfernt an das Innenleben des
Kristallturms von Hamarsburg erinnerte. "Setze deine Studien fort", hatte
der alte Meisteringenieur gesagt. "Du wirst sie noch brauchen..."
Er fuhr an den alten Tintenlinien entlang
und gab sich Mühe, die unleserlichen Notizen zu entziffern, die aussahen,
als hätte Kolbi Sauerbroch sie noch persönlich hingekritzelt.
Die abgebildete Anlage ähnelte entfernt dem Abwehrturm der Mine am
Berg Weltenwut, war aber um einiges größer und technisch viel
komplexer. Eine nachträglich eingefügt Linie teilte das Gebäude
in halber Höhe, und Migdo brauchte eine Weile, bis er heraus hatte,
dass sie den Erdboden darstellte; der Rest der Anlage war offenbar unterirdisch.
Interessiert zückte er ein kleines Notizbuch und fertigte eine Skizze
an, die nur den überirdischen Teil zeigte. Das Ergebnis ähnelte
jedoch keiner Konstruktion, die er je gesehen hatte...
"Könntest du das Ding aus meinem Rücken
nehmen?" kläffte Xergi. Erst jetzt merkte Migdo, dass er das Büchlein
beim Schreiben gegen die Schultern des Goblins gedrückt hatte.
"Sei froh, dass du keinen Bart hast", knurrte
er und klappte das Buch zu.
-
Bis zum Mittag des nächsten Tages veränderte
sich die Landschaft kaum, und Migdo verstand immer mehr, warum man sie
die Hügelländer nannte; außer ein paar verkrüppelten
Bäumen und Sträuchern gab es nämlich nichts anderes als
Hügel.
In einer von dunkelgelben Gräsern überwucherten
Talsenke machte Kijena eine weitere schockierende Entdeckung. Ein uwarischer
Feldwebel und ein narbengesichtiger Dunkelelb lagen in einer schlammigen
Pfütze aus Blut und Erdreich, die Gliedmaßen ineinander gekrallt
und mit einem fürchterlichen Ausdruck in den Gesichtern. Dem
Menschen fehlte ein Teil des Gesichts, und als Migdo klar wurde, dass sein
Gegner es ihm abgebissen haben musste, wandte er sich ab und würgte
mit lautem Stöhnen sein Frühstück heraus.
"Wie lange liegen sie schon hier?" fragte
Zurgin.
"Erst einen halben Tag", gab Malcolm zurück.
"Die Erde ist noch feucht und es ist kaum Getier an ihnen."
"Wir sind doch inzwischen weit weg von der
Marschroute der Armee, und auch vom Schlachtfeld", wand Migdo ein, während
er sich mit einer Wasserflasche den Mund spülte.
Malcolm nickte. "Die beiden müssen sich
den ganzen letzten Tag über durch die Landschaft gejagt haben."
"Und dann haben sie sich gegenseitig den Hals
umgedreht", fügte Kijena hinzu. "Meister Zurgin, habt ihr eine Pyrolit-Fackel?"
Der alte Meisteringenieur nickte verstehend
und reichte ihr einen fingerdicken Stab von etwa fünfzehn Zentimetern
Länge. Die stämmige Kriegerin entzündete sie fachmännisch
durch Abbrechen der Spitze und rammte sie in das nackte, blutverschmierte
Fleisch am Hals des uwarischen Soldaten. Im Nu verwandelte sich dessen
Oberkörper in ein kochendes, brutzelndes Inferno, dann gingen die
steifen Körper der beiden Toten lichterloh in Flammen auf. Rote und
weiße Funken zuckten aus dem kleinen Scheiterhaufen und verbrannten
ihn innerhalb von Minuten zu Asche, ohne dass auch nur ein Wölkchen
Rauch in den Himmel stieg.
"Ruhe in Frieden, Bruder", murmelte Malcolm
und legte die Hand auf die Brust. "Ruhe in Frieden und erwarte unser Wiedersehen
an Arthors Tafel..."
In diesem Moment ertönte ein wildes Heulen
von Osten her. Ihre Köpfe ruckten herum, Migdo erkannte einige gebückt
gehende Gestalten, die gerade über eine nahe Anhöhe kamen.
"Dunkelelben", zischte Kijena.
"Sollen wir kämpfen?" fragte Migdo.
"Zu viele", schnappte Malcolm und setzte den
Zwerg mit Schwung wieder auf sein Pferd, Xergi kletterte selbstständig
am Sattel hinauf, während der Prinz Zurgin zu Kijena aufs Pferd half.
Kaum eine halbe Minute später galoppierten die Tiere schnaufend den
Westhang des Hügels hinab.
"Es sind viele", rief Kijena. "Sie kreisen
uns ein!"
"Nein", gab Malcolm zurück. "Sie treiben
uns!"
Als sie den Fuß des Hügels erreichten,
wären die Pferde beinahe gestürzt, nur dank der Reitkünste
von Malcolm und Kijena ging die Flucht ohne Unterbrechung weiter. Die Hufe
der Tiere peitschten über den Boden, faustgroße Erdbrocken flogen
durch die Luft.
-
In den nächsten Minuten hetzten sie über
das Land auf die himmelhohen Gipfel des Weltenwutgebirges zu, dessen erste
Ausläufer ihnen schon ganz nah waren. Migdo hatte gar nicht bemerkt,
wie nahe sie den Bergen inzwischen wieder gekommen waren.
Die Pferde hatten mittlerweile merklich an
Kraft verloren, ihre Venen pochten wie wild und ihr Schnaufen überdeckte
sogar noch das wilde Getrampel ihrer Hufe. Malcolms Tier riss immer wieder
den Kopf herum, und der panische Ausdruck in seinen dunklen Augen erschreckte
Migdo zutiefst. Malcolm war derweil damit beschäftigt, allen überflüssigen
Ballast abzuwerfen, darunter mehrere Ersatzwaffen und den größten
Teil ihres Trockenproviants.
"Sie kommen näher!" kreischte Xergi.
Migdo lehnte sich zur Seite und sah an Malcolm
vorbei nach hinten. Die Horde schwarzhäutiger Kreaturen kam zusehends
näher, ihr Tempo war erschreckend; sie schafften es, zu Fuß
mit den Pferden mitzuhalten. Ein muskelbepackter Dunkeltroll war mittlerweile
etwas zurückgefallen und schwang heulend einen zur Keule umfunktionierten
Baumstamm.
"Wir müssen es zu den Bergen schaffen",
keuchte der Prinz. "In den Höhlen können wir sie abhängen."
"Und wenn es die Höhlen sind, durch die
sie hergekommen sind?" wand der Vulgoblin ein.
"Das Risiko müssen wir eingehen. Die
Höhlen sollen sehr verzweigt sein, wir können uns dort bestimmt
verstecken."
"Das ist kein so toller Plan..."
"Hast du einen besseren?"
Einer der Dunkelelben stieß wie auf
Kommando einen schrillen Wutschrei aus. Xergi sah über die Schulter
zurück. "Punkt für dich."
Mit einem letzten Kraftakt überwanden
die Pferde die letzte Anhöhe vor dem Gebirge und trabten in eine Senke
hinein, die von zwei scharfkantig gezackten Felsmauern eingerahmt wurde,
die von unzähligen Rissen und Spalten durchsetzt waren. Kijena lenkte
ihr Tier auch sogleich auf eines der dunklen Löcher zu. Malcolm folgte
ihr, obwohl sein Pferd völlig am Ende war und jeden Moment tot umfallen
konnte.
"Schnell!" rief die stämmige Menschenfrau
und hob Zurgin aus dem Sattel, noch ehe sie selbst auf die Erde sprang.
"Sie sind fast da!"
"Ich brauche mein Gepäck", rief der alte
Meisteringenieur mit leichter Panik in der Stimme. "Wir brauchen es später
unbedingt!"
Rasch begannen sie die verbliebenen Pakete
von den Pferden zu laden und sie sich gegenseitig auf die Schulter zu hieven.
Migdo und die beiden Menschen übernahmen den Löwenanteil, während
Zurgin und Xergi die empfindlicheren Teile der Ausrüstung in den Händen
trugen. Dann nahm Malcolm die Pferde an der Leine und führte sie an
die Felsen heran.
"Sie sind gleich da!" kreischte Xergi entsetzt.
Ein Dutzend Dunkelelben rutschte den Hügel
hinab, der vorderste von ihnen war schon auf etwa fünfzig Meter heran.
Kijena zog in einer blitzschnellen Bewegung ihren Bogen hervor, legte eine
gefiederten Pfeil auf und -
Mit einem gewaltigen Krachen donnerte ein
tonnenschwerer Felsblock auf die schwertschwingende Abscheulichkeit hinab
und zertrümmerte buchstäblich jeden Knochen in ihrem Leib. Das
schwarze Zackenschwert segelte durch die Luft und bohrte sich in den brachen
Boden. Einige der anderen Angreifer gerieten ins Straucheln, einer von
ihnen prallte sogar beinahe gegen den in den Boden gebohrten Felsen. Im
letzten Moment warf er sich zur Seite.
Im selben Augenblick ließ Kijena den
Pfeil von der Sehne schnellen.
Der Dunkelelb wurde zwischen seine gewaltigen
Brustmuskeln getroffen und mehrere Meter weit zurückgeschleudert,
wo er reglos liegen blieb.
"Kommt schon!" schrie Malcolm von der Höhle
her. "Schnell!"
Alle in der Senke überwanden gleichzeitig
ihren Schreck; Kijena und die Zwerge stürzten der Felsspalte entgegen,
und die geifernden Abscheulichkeiten hinter ihnen folgten nach. Im nächsten
Moment jedoch segelte ein dunkler Schatten durch die Luft und ein weiterer
Elb wurde von einem mannshohen Steinbrocken hinweggefegt. Weitere kleinere
Blöcke folgten nach, und obwohl die meisten ihr Ziel verfehlten, richtete
der unerwartete Angriff von den höheren Berghängen verheerende
Schäden an. Wer immer ihre unbekannten Retter waren, sie mussten über
gewaltige Kräfte verfügen, um einen solch apokalyptischen Steinhagel
zu verursachen.
Migdo sah gerade noch, wie ein weiterer Elb
zerschmettert wurde, dann packte Malcolm ihn und zerrte ihn in die Tiefe
des Berges.
© Imladros
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