Durch das Unterholz, ein Sprung hinab, stolpern, stürzen. Fluchen
und Grollen hinter ihr, aufspringen, weiterhetzen, nochmal stolpern, hinter
die Steinstatue krabbeln, keuchend verschnaufen.
"Wo bist du, diebisches Miststück! Kleines Biest, komm heraus!
Du hast meine Kette gestohlen!"
Denken, denken, denken, schnell!
Plötzlich stutzte die Verfolgerin - sie hatte die Statue bemerkt.
"Asteran, wenn du deine Halskette suchst, so sieh in der Hütte
deines älteren Bruders nach und jage nicht hier im Wald herum!"
Hatte da eben die Statue gesprochen? Eine rauhe weibliche Stimme
die aus allen Richtungen zugleich kam? Dies war doch hoffentlich nicht
einer der alten Plätze, wo früher die Götter gewandelt
waren?!
"Bevor du fragst, wer ich bin! Man nannte mich Kir’iri’jath! Ich
warte hier schon lange auf dich. Geh zu deinem Bruder, deine Kette wirst
du dort finden, aber viel wichtiger ist, dass du mich hier gefunden hast!"
Möglichst unauffällig blickte Asteran zweifelnd noch einmal
ins Gebüsch, ob sich Vhawiin, die kleine Diebin, nicht hier versteckt
hatte, dann drehte sie sich zögernd um und ging vorsichtig ins Dorf
zurück – die Angst vor dem unnatürlichen Wesen war stärker,
Fragen zu stellen konnte unbequem werden...
Vhawiin fuhr hoch und hetzte in eine andere Richtung davon - sie
musste noch vor Asteran am Haus des Bruders sein und die Kette dort verstecken!
Nur einen kurzen Blick warf sie zurück auf die Statue: eine
aufrechte weibliche Figur, riesige Drachenflügel stolz emporgestreckt,
die Krallen der Raubkatzenbeine in den Stein geschlagen, das sanfte Gesicht
von schlanken Widderhörnern umrahmt und von einer unirdischen Kraft
erfüllt.
Dem schönen toten Stein eine überirdische Stimme zu verleihen
war nicht schwer gewesen für Vhawiin, die auch sonst noch einige ungewöhnliche
Tricks auf Lager hatte - warum sie ihre Stimme so verstellen konnte wusste
sie selbst nicht. Der Lehrling der Druidin war der Meinung gewesen, es
stecke Magie dahinter. Aber ein Findelkind wie Vhawiin durfte einfach keine
Magie wirken können... dafür waren allein die Druiden zuständig!
Die junge Frau drehte sich um und lief so schnell sie konnte - und
sie erreichte die Hütte des Bruders noch vor Asteran.
***
Sie lag auf dem gebogenen Ast und schmunzelte. Dann nahm sie einen
Schluck aus der ausgehöhlten Weneq-Wurzel, die vergorenen Weneq- Wurzel-
Saft enthielt und erinnerte sich selbstgefällig an ihr erfolgreiches
Manöver.
Asteran hatte der Statue geglaubt, die Kette in der Hütte des
Bruders gefunden und dieser sprach von einem gedankenlosen Versehen - die
Sache war geklärt.
Und! Asteran hatte sich bei Vhawiin entschuldigt und ihr die Weneq-Wurzel
geschenkt!
Im Nachhinein empfand sie tatsächlich so etwas wie Reue für
ihren Diebstahl aber diese wurde bei weitem durch die Freude über
den Erfolg übertroffen.
Unter ihrem Baum stöhnte es wild - das war das Einzige, das
sie störte: Tebach trieb es wiedermal mit einer anderen Frau anstatt
seiner eigenen bei der Arbeit zu helfen und verschenkte dafür auch
noch deren Eigentum – Essen, Felle und Stoffe. Seine wieselhafte,
aalglatte Art und sein schäbiges Verhalten ekelten Vhawiin an, doch
keiner der anderen Dorfbewohner wusste davon und wer hörte schon auf
ein Findelkind...
'Auf ein Findelkind hören sie nicht, aber auf eine tote Steinstatue',
dachte Vhawiin kopfschüttelnd bei sich.
'Wenn ich die Statue davon sprechen ließe, würden sie
es glauben', setzte sie den Gedanken fort.
'Ich könnte ihnen alles mögliche erzählen! Na gut,
erstmal müssten sie wohl Vertrauen zu der Statue fassen, dann könnte
ich ihnen alles erzählen', sie lachte in sich hinein und amüsierte
sich königlich.
***
Asteran lief in den Wald, aber sie hatte ihren Bogen nicht dabei?
Was tat die Jägerin so früh am Morgen ohne Waffen im Wald? Vhawiin
folgte ihr auf leisen Sohlen. Und als sie die Richtung erkannte, in der
sie liefen, begann sie zu schaudern. Als die ältere Frau schließlich
vor der Statue stehenblieb und leise zu ihr sprach wurde die Vermutung
Gewissheit: Vhawiin hatte eine neue Göttin geschaffen. Zunächst
noch bezweifelt und auch nur für eine Person. Aber das Bildnis mit
unbekanntem Namen war zur Göttin geworden. Was sie für einen
Scherz gehalten hatte, war hier Wirklichkeit.
Vhawiin zog sich erschrocken zurück und rannte dann in den
Wald davon. Sobald sie auf einem Baum in sicherer Entfernung saß,
begann sie nachzudenken.
***
Fünf Tage aber hatte Kir’iri’jath, die Sendbotin der Ewigkeit,
geschwiegen, als sie das Wort wieder zur Erwählten Asteran erhob.
Die Erwählte wurde abermals geprüft und empfing sodann den Segen
der Göttin. Außerdem erhielt sie den Auftrag, Tebach, den Falschen,
zu warnen ob seiner Unzucht und Falschheit. Dieser wurde blass und erschrak,
da die Botin von seinem Unrecht wusste und fürchtete Strafe. Jedoch
die Göttin hatte geboten, Tebach nicht zu bestrafen sondern nur zu
verwarnen und so geschah es.
Am Tage darauf trat nicht nur Asteran vor das Bildnis der Göttin
sondern mit ihr auch ihr Bruder und der Clanchef. Doch wieder schwieg die
Göttin und die drei warteten drei Tage, bevor sie die Stimme abermals
erhob.
***
Vhawiin saß inzwischen nicht mehr direkt hinter der Statue
sondern hatte sich einen sichereren Platz auf einem riesigen Baum in der
Nähe gesucht. Sie musste jedesmal, wenn sie zu dem Bildnis lief, höllisch
aufpassen, dass sie keiner entdeckte und auch wenn sie schon dort auf ihre
Gläubigen wartete darauf achtgeben, sich nicht zu verraten!
Asteran hatte schon Vertrauen zu der Göttin gefasst nachdem
diese über Tebach sehr genau Bescheid wusste und er sich seiner Schuld
bewusst gewesen war. Auch der Clanchef und Asterans Bruder waren bereit,
zu glauben. Allerdings warteten sie jetzt schon den dritten Tag und begannen
zu zweifeln. Dennoch musste der Plan gut überlegt sein - es durfte
keinen Anlass geben, hinter der göttlichen Kir’iri’jath die überaus
irdische Vhawiin zu vermuten!
Vhawiin hörte Rascheln und leise Stimmen, offenbar kamen ihre
Gläubigen auch heute rechtzeitig - sie lächelte zufrieden.
Die drei knieten vor dem Bildnis nieder und richteten einen ehrerbietigen
Gruß an es. Vhawiin wartete einige gespannte Herzschläge, dann
ließ sie die rauhe, zeitlos junge Götterstimme aus allen Richtungen
zugleich auf ihr Anhänger einflüstern:
"Gut dass ihr gekommen seid! Zweifelt nicht an mir, dann werde ich
nicht an euch zweifeln!"
Sie schwieg einige Augenblicke. Dann erhob sie die Stimme lauter:
"Ich segne euch"
Wieder machte sie eine bedeutungsvolle Pause - und hoffte, dass
den dreien in den nächsten Tagen etwas Gutes widerfuhr.
"Es ist für mich sehr anstrengend, in diesem Körper
aus totem Stein zu leben und noch anstrengender damit zu sprechen", erklärte
die Göttin plötzlich, "Wenn ihr mir einen wertvollen Dienst erweisen
wollt, dann sucht mir eine Stimme!"
Betretenes Schweigen folgte bis sich Asteran zu fragen traute:
"Eine Stimme, oh Göttin? Ich verstehe nicht, was du in deiner
unendlichen Weisheit von uns verlangst! Es gibt keine Stimme ohne Körper"
"Hier jedenfalls nicht, da hast du sehr recht, meine kluge Freundin!"
Pausen, so hatte Vhawiin festgestellt, waren sehr wichtig - man
musste den Leuten ja auch Zeit geben, etwas geheimnisvolles hinter den
Worten der Göttin zu ahnen.
"Aber nachdem ich nicht lange warten kann, soll mir auch eine Stimme
mit Körper recht sein.
Der Körper muss jung sein - ich möchte möglichst
wenig mit den Schwächen des menschlichen Daseins behelligt werden!
Außerdem weiblich: ich bin eine Göttin und möchte nicht
mit einer männlichen Stimme sprechen! Und als dritte Bedingung", Zahlensymbolik,
auch das hatte Vhawiin schon vor einiger Zeit beim Beobachten der Vorgehensweise
der Druidin gelernt, war ebenfalls sehr wichtig, "muss die Frau, deren
Körper ich brauche, den magischen Funken in sich tragen!"
Die drei Gläubigen überlegten. Dann fragte der Clanchef
leise:
"Wer soll das sein? In meinem Clan gibt es niemanden, der diese
Bedingungen alle erfüllen könnte. Nur die Druidin ist magisch
bewandert und eine Frau - aber sie ist nicht jung. Und ihr Lehrling ist
jung und beherrscht Magie - aber ein Mann!"
"Es ist mir egal, wo ihr die Stimme hernehmt!", antwortete die Göttin
scharf.
Dann, etwas sanfter: "Habt keine Angst. Ich bin sicher, dass ihr
mir eine Stimme bringen könnt, wenn ihr euch wirklich bemüht"
Die drei blickten sich verwundert an.
"Vertraut mir, euer Lohn soll unvorstellbar sein!", versprach die
Göttin sanft und ihre Stimme verhallte in die Stille.
Als Asteran sich vorsichtig erhob, waren ihr Gedanken schon vollkommen
darauf gerichtet, die Stimme zu finden.
***
"Vhawiin, wo bist du!", rief der Clanchef laut in den Wald. Sie beeilte
sich, aus dem Gebüsch zu klettern und schnell zur Stelle zu sein -
anderes Verhalten hätte wohl für die im Moment so ungöttliche
junge Frau unangenehme Konsequenzen gehabt!
"Ich suche dich schon eine Weile!", erklärte der Anführer
mahnend. Und etwas sanfter setze er hinzu: "Ich brauche deine Hilfe. Der
Lehrling der Druidin sagt, du hättest den Funken des Magischen in
dir, stimmt das?"
Sie zögerte mit der Antwort: "Ich... ich weiß nicht.
Manchmal geschehen komische Dinge um mich, aber die Druidin meinte, ich
könne nicht bei ihr ausgebildet werden..."
"Egal, du bist unsere einzige Hoffnung, komm mit!"
Das Findelkind zog erstaunt die Augenbrauen hoch, doch in ihrem
Innersten lächelte sie zufrieden.
***
Die Göttin aber sah die Stimme, die ihr gebracht worden war
und ehrerbietig vor ihr kniete, den Kopf bis zum Boden gesenkt.
"Diese ist noch nicht bereit!", rief sie nur und schwieg. Erst
am nächsten Morgen sprach sie wieder zur Erwählten Asteran, die
alleine vor dem Bildnis betete:
"Asteran, die Stimme, die du mir dargebracht hast, ist noch nicht
bereit! Ihre Magie ist nicht stark genug! Dies ist aber nötig, damit
sie meinen Geist aufnehmen kann, ohne sofort zu vergehen! Jemand muss sie
ausbilden und dies geschehe schnell, meine Zeit ist begrenzt!"
Die Druidin des Clans weigerte sich zunächst, die Stimme
der Göttin zu unterrichten, doch als die Erwählte und die anderen
Erleuchteten ihr erklärten, welch große Wichtigkeit dies hatte,
gab sie schließlich nach.
Nach einem Monat aber hatte die Stimme der Göttin alles
erlernt, was die Druidin ihr beibringen konnte - die Dringlichkeit und
die Kraft der Göttin hatte beide bei ihrem Tun beflügelt.
Dann aber war der große Tag gekommen:
Die Stimme wurde vor die Sendbotin der Ewigkeit gebracht und
diese trat in den Geist der jungen Frau ein. Sie aber verlor das Bewusstsein
und schwere Krämpfe und ein Fieber schüttelten ihren Körper.
Da sie aber wieder zu klarem Verstande kam, sprach sie zu dem versammelten
Clan mit göttlicher Macht:
"Es ist vollbracht!"
Und die Menschen fielen auf die Knie und jubelten.
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