Noch etwas verwirrt zog sie die Tür hinter sich zu und fand
sich in einem kleinen Vorraum wieder, der durch einen Vorhang abgetrennt
war, an dessen unterem Ende Feuerschein auf den Boden fiel.
Im Gegensatz zu dem, was später berichtet werden sollte, war
die Zahl ihrer Anhänger im Clan noch nicht groß, dass sie selbst
von übermäßiger Wichtigkeit gewesen wäre - es waren
nur sieben Menschen anwesend gewesen, als vor zwei Tagen "die Göttin
in sie fuhr". Zugegebenermaßen: es waren die richtigen sieben, denn
unter ihnen waren die vier wichtigsten Leute des Clans: Asteran, die Anführerin
der Jäger, Belíal, der Clanchef, die Druidin (die nur noch
mit ihrem Ehrentitel, Haitanee, angesprochen wurde) und deren (inzwischen
schon erwachsener) Gehilfe und Schüler,
Mirakal.
Deren Achtung hatte ihre Stellung wesentlich gehoben, wenn auch
der Glaube an Kir'iri'jath sich keineswegs schon im ganzen Clan verbreitet
hatte.
Dass sie, eine knapp Zwanzigjährige, ehemals Ausgestoßene,
deswegen aber zu den Versammlungen der vier Clanführer gerufen wurde
war fast schon ein wenig zuviel des Guten. Sie vermutete noch einen anderen
Grund hinter der plötzlichen Freundlichkeit.
Sie hob den Vorhang beiseite und betrat den Raum dahinter: das bläuliche
Dämmerlicht, das durch die drei kleinen Fensterlöcher fiel, wurde
von dem orangenen Feuerschein in die Ecken gedrängt, die vier saßen
schon wartend um die Flammen, die in der eingegrabenen Feuerstelle im Boden
züngelten, tanzten und knackten.
Alle nickten ihr zu und Asteran wies auf das freie Sitzkissen aus
glänzendem Fell, das neben ihr lag.
"Gut, da wir alle versammelt sind, möchte ich Vhawiin nun unsere
Bitte an die Göttin vortragen", ergriff Belíal in seiner Eigenschaft
als Clanchef das Wort.
Die Druidin schien unterdessen von dem Vertrauen, das die anderen
Drei in Vhawiin und ihre Göttin setzten, nicht sehr angetan, schwieg
aber.
Vhawiin dagegen nickte ernst - 'keine Miene ziehen, immer ruhig
bleiben!', gemahnte sie sich selbst, 'du bist die Stimme der Göttin
und der Göttin ist alles bekannt, man kann sie nicht überraschen.
Immer wissend lächeln...'
"Es ist nämlich so, dass uns schon seit längerem etwas
beunruhigt", erklärte ihr Gegenüber weiter.
Dann machte er eine bedeutungsvolle Pause, holte Luft und erzählte:
"Seit einiger Zeit zeigen sich beängstigende Dinge aus dem
Norden: oftmals steigt Rauch auf hinter dem Himmelsberg und die Erde bebt.
Sogar das Wasser des Kristallflusses ist verflucht, es ist manchmal gelb
und giftig und Asterans Sohn wurde krank, als er davon trank. Gewitter
und Hagelschlag ziehen aus dem Norden heran und zerstören, unzählige
Blitze bedrohen unseren Wald - ein Waldbrand wäre unser aller Ende.
Wir befürchten, dass die Götter zürnen und haben
Angst vor ihrer Wut, da wir nicht wissen, was wir falsch machen. Nun möchten
wir Kir'iri'jath, die Sendbotin der Ewigkeit, bitten, die anderen Götter
zu besänftigen und uns zu sagen, was wir tun oder opfern sollen, um
sie zu erfreuen."
Natürlich hatte Vhawiin diese "Ereignisse" ebenfalls bemerkt
- aber sie schienen ihr keineswegs göttlichen Ursprungs gewesen zu
sein. Was allerdings egal war, solange die Dorfbewohner daran glaubten...
Sie nickte abermals und setzte zur Erwiderung an, wurde in ihrer
Antwort jedoch von der Haitanee unterbrochen:
"Ich hoffe doch, dass Kir'iri'jath genug Macht besitzt, um unser
Dorf zu schützen!"
Die Drohung in diesen Worten war offensichtlich. Die Druidin hatte
Angst um ihre Stellung als Mittlerin zwischen Göttern und Menschen...
Vhawiin wartete einen Moment, wie um sicher zu gehen, dass die Haitanee
ausgeredet hatte, und erklärte dann:
"Ich werde die Göttin fragen und sie um ihre Hilfe für
uns bitten, doch dafür muss ich mich zurückziehen. Außerdem
sind die Wege von Kir'iri'jath geheimnisvoll und manchmal unverständlich,
deshalb dürft ihr nicht unbedingt eine klare Antwort erwarten. Aber
ich bin überzeugt, dass die Göttin uns helfen wird, da wir ihre
treuen Diener sind" - sie lächelte die Anwesenden zuversichtlich an,
ohne im Mindesten auf die Drohung der Druidin einzugehen.
Erleichtert schüttelten die anderen drei ihre Spannung zaghaft
ab und begannen zu lächeln.
"Lasst uns essen", forderte der Clanchef auf, der ihr Gastgeber war,
"da wir nun auf die Hilfe der Göttin hoffen dürfen."
Vhawiin war sehr zufrieden: ihre Stellung als "Priesterin" trug
ihr eine ordentliche Portion Fleisch ein und da sie Stimme, Auge und auch
Zunge der Göttin lieh, durfte sie auch noch das beste Stück als
Opfer verspeisen. Die gierigen Seitenblicke der Druidin nahm sie schweigend
zur Kenntnis.
***
Es war schon einige Stunden dunkel als sich die vier Gäste des
Clanchefs verabschiedeten und in ihre eigenen Hütten zurückkehrten.
Vhawiin allerdings schlug einen anderen Weg ein: sie folgte dem schmalen
Pfad zur Götterstatue und ließ sich vor dem hellen Stein nieder,
den Rücken an einen moosigen Baumstamm gelehnt. Während sie gedankenverloren
eine im Mondschein silberweiß glühende Blüte betrachtete,
bedachte sie ihre Situation.
Zuerst war die Gottheit nur ein kluger Ausweg aus einer Misere gewesen.
Dann hatte sie darüber gelacht, was die Menschen zu tun bereit waren.
Schließlich hatte sie die Leichtgläubigkeit der Dorfbewohner
ausgenutzt, um ihre Stellung im Clan zu verbessern. Sie hatte sich darüber
Gedanken gemacht, wie sie auftreten und was sie tun musste, damit ihr Schwindel
nicht aufflog und sie würdig und geheimnisvoll wirkte.
Über ihr Ziel war sie sich aber noch nicht im Klaren gewesen
- sie hatte einfach getan, was nötig war, um die Situation zu nutzen.
Aber wohin sollte das führen? Wohin wollte sie kommen? Was war das
Ziel dieses Schwindels? Ein Leben als Dorfpriesterin? Oder der Weg zur
Gottheit? Das Leben - oder gar die Götter? - hatte sie vor eine Herausforderung
gestellt: sie musste den Grund der üblen Omen aufspüren und etwas
tun, damit die Leute das Gefühl hatten, die Göttin habe ihnen
geholfen. Mehr als das: die Menschen sollten Kir'iri'jath als ihre oberste
Beschützerin verehren - und mit ihr Vhawiin. Das war es, was sie wollte!
Außerdem wusste sie jetzt, dass die bereitwillige Gläubigkeit
der Clanführer noch einen anderen Grund gehabt hatte, als einfache
Naivität: die Bedrohung durch den Zorn der fremden Götter hatte
sie nach dem erstbesten Strohhalm greifen lassen, der Hilfe bedeuten konnte
- Kir'iri'jath. Wenn Vhawiin jetzt nichts anstelle der Göttin unternahm,
wäre ihre neu errungene Position schon wieder verloren.
Sie wollte und durfte sich nicht mit dem Erreichten zufrieden geben.
Doch wie war Göttlichkeit zu erreichen?
Während ihre Finger über das feuchte Moos strichen, ließ
sie sich diese Frage durch den Kopf gehen.
Allmacht und Allwissenheit. Sie besaß zwar weder das eine
noch das andere, aber das war vollkommen gleichgültig, solange die
Clanmitglieder daran glaubten.
Alle Talente die sie hatte, musste sie schulen und ausbauen und
neue Fertigkeiten erwerben.
Alles was im Clan im Geheimen vorging, was die Leute dachten und
fühlten, musste sie erfahren.
Zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt, würde dies den Anschein
von Allmacht und Allwissenheit erzeugen. Und im gleichen Maße, wie
sie Fähigkeiten und Informationen sammelte, würde sie immer mächtiger
und wissender werden.
Lernen war jetzt das wichtigste.
Von den Jägern musste sie sich im Umgang mit Speer und Bogen
ausbilden lassen und der Druidin musste sie deren letzte Geheimnisse entlocken.
Was sie bei ihrer einmonatigen "Ausbildung" in der Druidenkunst
gelernt hatte, war wenig magisch gewesen, das hatte sie schnell gemerkt.
Viel Gestik und Gemurmel diente nur zur Einschüchterung der übrigen
Dorfbewohner und die pflanzlichen Heilmittel halfen auch ohne dieses Getue.
Eine Handvoll Beschwörungen hatte sie allerdings schon gelernt:
Mit Hilfe eines gekauten Rik-Baum Rindenstückes, das leicht
berauschende Wirkung hatte, Magie als Nebelschleier um Menschen und Gegenstände
erkennen; Magie in Amulette hineinweben und aus Amuletten heraus in ihren
Geist ziehen; Schutzzauber gegen böse Geister und die Flüche
anderer Druiden zu wirken; und "übernatürliche" Geräusche
erzeugen natürlich - ähnlich der "göttlichen" Stimme, die
sie sich ja auch zuvor schon anzaubern konnte.
Wobei die Druidin allerdings das Nachahmen von Stimmen nicht beherrschte
und Vhawiin einen Dreck tat, um die Alte von ihren Fähigkeiten wissen
zu lassen! Die Haitanee ahnte vermutlich sowieso schon zuviel über
die "Sendbotin der Ewigkeit" und ihre "Stimme". Aber ohne ihre eigenen
Betrügerein zu verraten, konnte sie glücklicherweise nichts gegen
Vhawiin tun.
Um Informationen zu sammeln, musste "die Stimme" die Untersten des
Clans - zu denen sie jetzt nicht mehr gehörte - zu ihren Augen und
Ohren machen, denn diese sehen die dunklen Seiten der Gemeinschaft am deutlichsten.
Hatte Tebach sich darum geschert, ob Vhawiin wusste, dass er seine Ehe
brach?
Tebach... den musste sie auch noch loswerden. Er war ein unwichtiges
Clanmitglied, aber er konnte darauf kommen, wer auf ganz irdische Weise
von seinem Betrug wusste.
Ebenso die Druidin: sie war die einzige, die Vhawiin erfolgreich
ihre Position als Vermittlerin zwischen der göttlichen und menschlichen
Sphäre streitig machen konnte. Die alte Frau war mit allen Wassern
gewaschen und verstand es, Macht auf sich zu ziehen. Mirakal war zwar -
so hatte sie während der Lehrzeit im Hause der Haitanee festgestellt
- magisch wesentlich begabter als die Druidin selbst, begriff die Wichtigkeit
von Glauben und Macht allerdings noch nicht. Sich ihn zum Diener oder zumindest
zum Verbündeten zu machen, war sehr wichtig.
Asteran war zwar gefährlich, weil sie Vhawiin mit dem ersten
Auftreten von Kir'iri'jath in Verbindung bringen konnte, aber wenn die
Erste Jägerin nur genug von der neuen Göttin profitierte, würde
sie gar nicht darüber nachdenken, ob die Göttlichkeit echt war.
Außerdem musste sie das Problem mit den fremden "Göttern"
lösen, wenn es denn überhaupt welche waren.
Vhawiin überlegte...
***
Zwar hatte sie versucht, möglichst lautlos in Dhadsheras Hütte
zu schleichen, in der sie schon wohnte, seit sie denken konnte, aber Winnaé,
Dhadsheras jüngste Tochter, hatte sie dennoch gehört.
"Vhawiin, warum kommst du erst so spät?", flüsterte die
Achtjährige verschlafen.
Zuerst wollte Vhawiin die Kleine beruhigen und wieder schlafen schicken,
dann kam ihr jedoch ein Gedanke.
"Komm mit mir", flüsterte sie zurück.
Winnaé krabbelte müde aus ihren Decken und wäre
nur in ihrem dünnen Kittel in die kühle Nachtluft hinausgestapft,
wenn Vhawiin ihr nicht ein Tuch um die Schultern gelegt hätte.
Nachdem sie einige Schritte zum Rande des Dorfes gegangen waren,
begann die junge Frau leise:
"Hör mal zu, Winnaé: Bald werde ich aufbrechen um im
Namen meiner Göttin zu den anderen Göttern im Norden zu reisen
und mit ihnen zu reden", das Mädchen machte große Augen, "und
deshalb musst du dann genau Acht geben, was im Dorf passiert, damit du
es mir hinterher erzählen kannst. Am besten verrätst du niemandem,
was du gesehen hast, nur mir, in Ordnung? Schließlich muss ja jemand
aufpassen!"
In Winnaés Gesicht machte die Müdigkeit dem Stolz Platz.
"Ich werde sehen, dass ich dir etwas schönes aus dem Norden
mitbringe", versprach Vhawiin freundlich.
Freude gesellte sich zum Stolz und das Mädchen nickte eifrig.
Ein Kind war der ideale Spion: niemand würde es beachten oder
ernstnehmen und es würde mit Naivität die ganze Wahrheit berichten.
Außerdem mochte Vhawiin Winnaé, weil diese schon früher
immer zu ihr aufgesehen hatte, wie zu einer großen Schwester und
ihr das Gefühl gegeben hatte, jemand wichtiges zu sein.
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