Götterblut von KeyKeeper
Teil 2

Noch etwas verwirrt zog sie die Tür hinter sich zu und fand sich in einem kleinen Vorraum wieder, der durch einen Vorhang abgetrennt war, an dessen unterem Ende Feuerschein auf den Boden fiel. 
Im Gegensatz zu dem, was später berichtet werden sollte, war die Zahl ihrer Anhänger im Clan noch nicht groß, dass sie selbst von übermäßiger Wichtigkeit gewesen wäre - es waren nur sieben Menschen anwesend gewesen, als vor zwei Tagen "die Göttin in sie fuhr". Zugegebenermaßen: es waren die richtigen sieben, denn unter ihnen waren die vier wichtigsten Leute des Clans: Asteran, die Anführerin der Jäger, Belíal, der Clanchef, die Druidin (die nur noch mit ihrem Ehrentitel, Haitanee, angesprochen wurde) und deren (inzwischen schon erwachsener) Gehilfe und Schüler,
Mirakal.
Deren Achtung hatte ihre Stellung wesentlich gehoben, wenn auch der Glaube an Kir'iri'jath sich keineswegs schon im ganzen Clan verbreitet hatte.
Dass sie, eine knapp Zwanzigjährige, ehemals Ausgestoßene, deswegen aber zu den Versammlungen der vier Clanführer gerufen wurde war fast schon ein wenig zuviel des Guten. Sie vermutete noch einen anderen Grund hinter der plötzlichen Freundlichkeit.

Sie hob den Vorhang beiseite und betrat den Raum dahinter: das bläuliche Dämmerlicht, das durch die drei kleinen Fensterlöcher fiel, wurde von dem orangenen Feuerschein in die Ecken gedrängt, die vier saßen schon wartend um die Flammen, die in der eingegrabenen Feuerstelle im Boden züngelten, tanzten und knackten.
Alle nickten ihr zu und Asteran wies auf das freie Sitzkissen aus glänzendem Fell, das neben ihr lag.

"Gut, da wir alle versammelt sind, möchte ich Vhawiin nun unsere Bitte an die Göttin vortragen", ergriff Belíal in seiner Eigenschaft als Clanchef das Wort. 
Die Druidin schien unterdessen von dem Vertrauen, das die anderen Drei in Vhawiin und ihre Göttin setzten, nicht sehr angetan, schwieg aber.
Vhawiin dagegen nickte ernst - 'keine Miene ziehen, immer ruhig bleiben!', gemahnte sie sich selbst, 'du bist die Stimme der Göttin und der Göttin ist alles bekannt, man kann sie nicht überraschen. Immer wissend lächeln...'
"Es ist nämlich so, dass uns schon seit längerem etwas beunruhigt", erklärte ihr Gegenüber weiter.
Dann machte er eine bedeutungsvolle Pause, holte Luft und erzählte:
"Seit einiger Zeit zeigen sich beängstigende Dinge aus dem Norden: oftmals steigt Rauch auf hinter dem Himmelsberg und die Erde bebt. Sogar das Wasser des Kristallflusses ist verflucht, es ist manchmal gelb und giftig und Asterans Sohn wurde krank, als er davon trank. Gewitter und Hagelschlag ziehen aus dem Norden heran und zerstören, unzählige Blitze bedrohen unseren Wald - ein Waldbrand wäre unser aller Ende.
Wir befürchten, dass die Götter zürnen und haben Angst vor ihrer Wut, da wir nicht wissen, was wir falsch machen. Nun möchten wir Kir'iri'jath, die Sendbotin der Ewigkeit, bitten, die anderen Götter zu besänftigen und uns zu sagen, was wir tun oder opfern sollen, um sie zu erfreuen."

Natürlich hatte Vhawiin diese "Ereignisse" ebenfalls bemerkt - aber sie schienen ihr keineswegs göttlichen Ursprungs gewesen zu sein. Was allerdings egal war, solange die Dorfbewohner daran glaubten...

Sie nickte abermals und setzte zur Erwiderung an, wurde in ihrer Antwort jedoch von der Haitanee unterbrochen:
"Ich hoffe doch, dass Kir'iri'jath genug Macht besitzt, um unser Dorf zu schützen!"
Die Drohung in diesen Worten war offensichtlich. Die Druidin hatte Angst um ihre Stellung als Mittlerin zwischen Göttern und Menschen...
Vhawiin wartete einen Moment, wie um sicher zu gehen, dass die Haitanee ausgeredet hatte, und erklärte dann:
"Ich werde die Göttin fragen und sie um ihre Hilfe für uns bitten, doch dafür muss ich mich zurückziehen. Außerdem sind die Wege von Kir'iri'jath geheimnisvoll und manchmal unverständlich, deshalb dürft ihr nicht unbedingt eine klare Antwort erwarten. Aber ich bin überzeugt, dass die Göttin uns helfen wird, da wir ihre treuen Diener sind" - sie lächelte die Anwesenden zuversichtlich an, ohne im Mindesten auf die Drohung der Druidin einzugehen.
Erleichtert schüttelten die anderen drei ihre Spannung zaghaft ab und begannen zu lächeln.

"Lasst uns essen", forderte der Clanchef auf, der ihr Gastgeber war, "da wir nun auf die Hilfe der Göttin hoffen dürfen."
Vhawiin war sehr zufrieden: ihre Stellung als "Priesterin" trug ihr eine ordentliche Portion Fleisch ein und da sie Stimme, Auge und auch Zunge der Göttin lieh, durfte sie auch noch das beste Stück als Opfer verspeisen. Die gierigen Seitenblicke der Druidin nahm sie schweigend zur Kenntnis.

***

Es war schon einige Stunden dunkel als sich die vier Gäste des Clanchefs verabschiedeten und in ihre eigenen Hütten zurückkehrten. Vhawiin allerdings schlug einen anderen Weg ein: sie folgte dem schmalen Pfad zur Götterstatue und ließ sich vor dem hellen Stein nieder, den Rücken an einen moosigen Baumstamm gelehnt. Während sie gedankenverloren eine im Mondschein silberweiß glühende Blüte betrachtete, bedachte sie ihre Situation.
Zuerst war die Gottheit nur ein kluger Ausweg aus einer Misere gewesen. Dann hatte sie darüber gelacht, was die Menschen zu tun bereit waren. Schließlich hatte sie die Leichtgläubigkeit der Dorfbewohner ausgenutzt, um ihre Stellung im Clan zu verbessern. Sie hatte sich darüber Gedanken gemacht, wie sie auftreten und was sie tun musste, damit ihr Schwindel nicht aufflog und sie würdig und geheimnisvoll wirkte.
Über ihr Ziel war sie sich aber noch nicht im Klaren gewesen - sie hatte einfach getan, was nötig war, um die Situation zu nutzen. Aber wohin sollte das führen? Wohin wollte sie kommen? Was war das Ziel dieses Schwindels? Ein Leben als Dorfpriesterin? Oder der Weg zur Gottheit? Das Leben - oder gar die Götter? - hatte sie vor eine Herausforderung gestellt: sie musste den Grund der üblen Omen aufspüren und etwas tun, damit die Leute das Gefühl hatten, die Göttin habe ihnen geholfen. Mehr als das: die Menschen sollten Kir'iri'jath als ihre oberste Beschützerin verehren - und mit ihr Vhawiin. Das war es, was sie wollte!

Außerdem wusste sie jetzt, dass die bereitwillige Gläubigkeit der Clanführer noch einen anderen Grund gehabt hatte, als einfache Naivität: die Bedrohung durch den Zorn der fremden Götter hatte sie nach dem erstbesten Strohhalm greifen lassen, der Hilfe bedeuten konnte - Kir'iri'jath. Wenn Vhawiin jetzt nichts anstelle der Göttin unternahm, wäre ihre neu errungene Position schon wieder verloren. 
Sie wollte und durfte sich nicht mit dem Erreichten zufrieden geben.

Doch wie war Göttlichkeit zu erreichen?
Während ihre Finger über das feuchte Moos strichen, ließ sie sich diese Frage durch den Kopf gehen.
Allmacht und Allwissenheit. Sie besaß zwar weder das eine noch das andere, aber das war vollkommen gleichgültig, solange die Clanmitglieder daran glaubten.
Alle Talente die sie hatte, musste sie schulen und ausbauen und neue Fertigkeiten erwerben.
Alles was im Clan im Geheimen vorging, was die Leute dachten und fühlten, musste sie erfahren.
Zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt, würde dies den Anschein von Allmacht und Allwissenheit erzeugen. Und im gleichen Maße, wie sie Fähigkeiten und Informationen sammelte, würde sie immer mächtiger und wissender werden.
Lernen war jetzt das wichtigste.

Von den Jägern musste sie sich im Umgang mit Speer und Bogen ausbilden lassen und der Druidin musste sie deren letzte Geheimnisse entlocken. 
Was sie bei ihrer einmonatigen "Ausbildung" in der Druidenkunst gelernt hatte, war wenig magisch gewesen, das hatte sie schnell gemerkt. Viel Gestik und Gemurmel diente nur zur Einschüchterung der übrigen Dorfbewohner und die pflanzlichen Heilmittel halfen auch ohne dieses Getue. Eine Handvoll Beschwörungen hatte sie allerdings schon gelernt:
Mit Hilfe eines gekauten Rik-Baum Rindenstückes, das leicht berauschende Wirkung hatte, Magie als Nebelschleier um Menschen und Gegenstände erkennen; Magie in Amulette hineinweben und aus Amuletten heraus in ihren Geist ziehen; Schutzzauber gegen böse Geister und die Flüche anderer Druiden zu wirken; und "übernatürliche" Geräusche erzeugen natürlich - ähnlich der "göttlichen" Stimme, die sie sich ja auch zuvor schon anzaubern konnte.
Wobei die Druidin allerdings das Nachahmen von Stimmen nicht beherrschte und Vhawiin einen Dreck tat, um die Alte von ihren Fähigkeiten wissen zu lassen! Die Haitanee ahnte vermutlich sowieso schon zuviel über die "Sendbotin der Ewigkeit" und ihre "Stimme". Aber ohne ihre eigenen Betrügerein zu verraten, konnte sie glücklicherweise nichts gegen Vhawiin tun.

Um Informationen zu sammeln, musste "die Stimme" die Untersten des Clans - zu denen sie jetzt nicht mehr gehörte - zu ihren Augen und Ohren machen, denn diese sehen die dunklen Seiten der Gemeinschaft am deutlichsten. Hatte Tebach sich darum geschert, ob Vhawiin wusste, dass er seine Ehe brach?

Tebach... den musste sie auch noch loswerden. Er war ein unwichtiges Clanmitglied, aber er konnte darauf kommen, wer auf ganz irdische Weise von seinem Betrug wusste.
Ebenso die Druidin: sie war die einzige, die Vhawiin erfolgreich ihre Position als Vermittlerin zwischen der göttlichen und menschlichen Sphäre streitig machen konnte. Die alte Frau war mit allen Wassern gewaschen und verstand es, Macht auf sich zu ziehen. Mirakal war zwar - so hatte sie während der Lehrzeit im Hause der Haitanee festgestellt - magisch wesentlich begabter als die Druidin selbst, begriff die Wichtigkeit von Glauben und Macht allerdings noch nicht. Sich ihn zum Diener oder zumindest zum Verbündeten zu machen, war sehr wichtig.
Asteran war zwar gefährlich, weil sie Vhawiin mit dem ersten Auftreten von Kir'iri'jath in Verbindung bringen konnte, aber wenn die Erste Jägerin nur genug von der neuen Göttin profitierte, würde sie gar nicht darüber nachdenken, ob die Göttlichkeit echt war.
Außerdem musste sie das Problem mit den fremden "Göttern" lösen, wenn es denn überhaupt welche waren.
Vhawiin überlegte...

***

Zwar hatte sie versucht, möglichst lautlos in Dhadsheras Hütte zu schleichen, in der sie schon wohnte, seit sie denken konnte, aber Winnaé, Dhadsheras jüngste Tochter, hatte sie dennoch gehört.
"Vhawiin, warum kommst du erst so spät?", flüsterte die Achtjährige verschlafen.
Zuerst wollte Vhawiin die Kleine beruhigen und wieder schlafen schicken, dann kam ihr jedoch ein Gedanke.
"Komm mit mir", flüsterte sie zurück.
Winnaé krabbelte müde aus ihren Decken und wäre nur in ihrem dünnen Kittel in die kühle Nachtluft hinausgestapft, wenn Vhawiin ihr nicht ein Tuch um die Schultern gelegt hätte.
Nachdem sie einige Schritte zum Rande des Dorfes gegangen waren, begann die junge Frau leise:
"Hör mal zu, Winnaé: Bald werde ich aufbrechen um im Namen meiner Göttin zu den anderen Göttern im Norden zu reisen und mit ihnen zu reden", das Mädchen machte große Augen, "und deshalb musst du dann genau Acht geben, was im Dorf passiert, damit du es mir hinterher erzählen kannst. Am besten verrätst du niemandem, was du gesehen hast, nur mir, in Ordnung? Schließlich muss ja jemand aufpassen!"
In Winnaés Gesicht machte die Müdigkeit dem Stolz Platz.
"Ich werde sehen, dass ich dir etwas schönes aus dem Norden mitbringe", versprach Vhawiin freundlich.
Freude gesellte sich zum Stolz und das Mädchen nickte eifrig.

Ein Kind war der ideale Spion: niemand würde es beachten oder ernstnehmen und es würde mit Naivität die ganze Wahrheit berichten. Außerdem mochte Vhawiin Winnaé, weil diese schon früher immer zu ihr aufgesehen hatte, wie zu einer großen Schwester und ihr das Gefühl gegeben hatte, jemand wichtiges zu sein.
 

Und hier geht es zu Götterblut - Teil 3!
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