Götterblut von KeyKeeper
Teil 3

Vhawiin erwachte erst spät am nächsten Morgen, die Sonne war auf ihrem Weg zum höchsten Punkt ihrer Bahn schon zur Hälfte vorgerückt. Das lange Schlafen war ungewohnt für sie und dadurch um so mehr ein Genuss. Dhadsheras Hütte war menschenleer und schattig, die Schlafdecken der anderen waren in einer geflochtenen Korbkiste verschwunden. Während Vhawiin ihre Decken ausschüttelte und ebenfalls in den Korb räumte, wie schon so oft zuvor, dachte sie bei sich: 'Eigentlich müsste ich das jetzt nicht mehr tun. Dhadshera glaubt an mich. Aber selbst junge Götter sollten wohl nicht allzu arrogant sein. Außerdem muss man als Gott ja nicht unbedingt ein Ekel sein, genauso wenig wie Dhadshera unfreundlich zu mir war, als ich nichts weiter als ein Findelkind war.'
Danach trat sie hinaus vor die Hütte ins helle Sonnenlicht und sah Dhadshera und ihre Kinder bei der Arbeit: Flechten, Weben, Nähen, Schnitzen. Sie grüßte freundlich und trottete zum kleinen Fluss, Richtung Norden, um sich zu baden.
Sie selbst hatte, wie Belíal es gestern erwähnt hatte, auch manchmal die gelbe Färbung und den stinkenden Dampf in dem Flüsschen, das aus der ‚Kristallquelle' entsprang, bemerkt. Und auch, dass Asterans Sohn sich so furchtbar erbrochen hatte, worauf viele fürchteten, ihm werde gleich die Seele aus dem Leib fahren.
Aber heute war das Wasser klar und nicht zu kalt und Vhawiin war guten Mutes ob ihres "Planes" für die Rettung des Dorfes. Nachdem sie sich frisch und sauber fühlte, schlenderte sie fröhlich zum Dorf zurück.

***

"Hört mich an!", schallte ihre Stimme über den freien Platz, um den die Hütten gebaut waren, in den Tempel der Druidin und in die Häuser.
Die Meisten, die vor ihren Hütten in irgendeine Arbeit vertieft waren, sahen interessiert, aber keineswegs ehrfürchtig auf.
Vhawiin kam sich etwas dumm vor, weil eigentlich keiner ihrer sieben Gläubigen, bis auf Dhadshera und ihre Kinder, zu sehen war.
"Gestern bat mich Belíal um die Hilfe von Kir'iri'jath, der Sendbotin der Ewigkeit, deren Stimme ich bin. Er weiß vom Zorn der Götter, der unser Dorf mit Beben und Donner bedroht. Ich habe nun letzte Nacht mit meiner Göttin gesprochen und sie wird uns helfen und die anderen Götter besänftigen!"
Die beiläufigen Blicke der Dorfbewohner verunsicherten sie etwas, aber sie ließ sich keineswegs aus der Fassung bringen. Als sie zum Tempel hinübersah bemerkte sie die Haitanee, die grimmig hinter dem Eingangsvorhang hervorblickte. 
Aber dann trat Mirakal an ihr vorbei aus der Heiligen Hütte und stellte sich lächelnd an den Rand des Dorfplatzes, um seine Unterstützung zu demonstrieren.
"Ich werde aufbrechen nach Norden", fuhr Vhawiin gestärkt fort, "und werde mit den fremden Göttern sprechen und sie notfalls mit Kir'iri'jaths Gewalt bezwingen, wenn sie sich nicht besänftigen lassen! Und wenn ich zurückkomme werde ich der Göttin eine Heilige Halle errichten, größer als der jetzige Tempel der anderen Götter, so groß, dass sie den ganzen Dorfplatz füllen würde! Aus Stein wird die Heilige Halle sein, nicht nur aus Holz", sie schielte zur Druidin hinüber und beobachtete erfreut die verärgerte Reaktion der Haitanee, "Und wenn ich dafür jeden Felsblock einzeln auf den anderen hieven muss, denn das ist der Wille von Kir'iri'jath!"

Als sie die Rufe hörte, merkte sie, dass hinter ihr auch Asteran und Belíal am Rande des Platzes standen. Diese beiden und Mirakal riefen beschwörend Kir'iri'jaths Namen und je öfter sie das Wort in den Himmel hinaufsangen, desto mehr der anderen Dorfbewohner fielen ein. Zum Schluss rief wohl jeder auf dem Platz nach der Göttin und Vhawiin lächelte breit. Sie machte eine segnende Geste und hob die Hand.
"Alleine werde ich diese Reise nicht bewältigen, ich brauche eure Hilfe!
Ein Boot benötige ich, um auf dem Meer nach Norden zu fahren, denn damit bin ich schneller als auf dem Landwege durch Wald und Berge. Darauf Vorräte und auch gute Kleidung, da ich die Botschafterin unseres Dorfes bin. 
Zuguterletzt brauche ich noch jemanden, der mich begleitet, um den Willen der Göttin zu erfüllen!"
Plötzlich wurden die Leute sehr zurückhaltend. Vhawiin sah ernst im Kreis herum und drehte sich dabei zweimal um ihre Achse. Fast jeder versuchte, im Boden zu verschwinden, wenn ihr Zeigefinger gerade auf ihn deutete. 
Dann zeigte sie auf Tebach, der faul auf einer Decke vor seiner Hütte lag.
"Er, der Sünder, soll mit mir kommen und uns und der Göttin zeigen, dass er bereit ist, seine Verfehlungen wieder gutzumachen!"
Sie hatte sich diesen Schritt letzte Nacht sehr gut überlegt, denn schließlich war er keineswegs eine sehr angenehme Gesellschaft. Aber das war nötig für ihren Plan...
Die Dorfbewohner nickten erfreut und riefen Zustimmungen, glücklich darüber, nicht selbst ausgewählt worden zu sein. Tebach, der sich plötzlich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit sah, wäre am liebsten sofort verschwunden, aber das konnte er sich jetzt keineswegs leisten! Und Vhawiin wusste das so gut wie er.
Sie ging auf ihn zu und streckte ihre Hand aus. Er musste sie ergreifen und ließ seinen Arm von ihrem in die Luft reißen. Die Menschen auf dem Platz jubelten. Sie waren durchaus bereit, ein Boot, Vorräte und neue Kleidung für Vhawiin heranzuschaffen, solange sie nicht an Tebachs Stelle mit der jungen Frau in den unbekannten Norden reisen mussten.

***

Nur langsam kam sie zu Atem... Das war knapp gewesen! Die alte Vettel von Druidin war gerissen und ganz schön hellhörig!
Gerade als Vhawiin sich in dem Kräuterlager der Alten ausreichend bedient hatte und schon fast wieder aus dem kleinen Hüttenanbau herausgeschlichen war, war die Druidin hereingekommen. Im Halbdunkel hatte sie zwar den dreisten Dieb nicht erkannt, hatte aber ihren Stock trotzdem nicht zimperlich eingesetzt!
Vhawiin hatte nur mühsam verräterische Schreie unterdrücken können und dann schnellstens die Beine in die Hand genommen - aber nicht nur gerissen war die Haitanee, sondern auch schnell:
Kaum war Vhawiin aus dem kleinen Fenster gesprungen, schon kam die Alte hinterher und verfolgte sie durch den halben Wald! Ein Glück nur, dass sie sich nicht mehr so geschickt bewegen konnte wie die junge Frau!
Nach einiger Zeit war es Vhawiin dann aber doch gelungen, ihre Verfolgerin abzuschütteln... 
Und der Raubzug hatte sich gelohnt:
In dem kleinen Sack, der an ihrem Gürtel baumelte, lagen jetzt genug der wichtigen Druidenkräuter für die geplante Reise... 

***

Es dauerte keine zwei Tage, bis ihre Kleidung fertig, die Vorräte verpackt und das Boot beladen war. Die Dorfbewohner hatten sich wirklich Mühe gegeben und Vhawiin war stolz auf die Fellhose, das Leinenhemd, den Umhang und vor allem auf die Bronzebrosche, die den Mantel zusammenhielt. All das hatte sie von Dhadshera bekommen - die Brosche hatte diese vor einiger Zeit von einem fahrenden Händler eingetauscht.
Nach segnenden und beruhigenden Worten und einem letzten Versprechen, den neuen Tempel zu bauen, sobald sie zurück sei, stieg die "Stimme der Göttin" in das Boot mit dem kufenförmigen Ausleger. Ihr Begleiter Tebach musste das Paddel ergreifen und sie den Kristallfluss hinablenken.
Nicht lange dauerte es, bis sie das Meer erreichten und er in Ermangelung der vorwärtstreibenden Strömung beim Rudern ins Schwitzen geriet. Aber er wagte nicht, sich zu beklagen und hatte auch sichtlichen Respekt vor Vhawiin, was darauf schließen ließ, dass er ihr falsches Spiel nicht durchschaut hatte.

Vhawiin hielt den ganzen Tag nach Feuer, Rauch, Blitzen, sonstigen Anzeichen von göttlichem Zorn und auch nach irgendwelchen Siedlungen ausschau, aber weit und breit war nur das sanft im Wind wogenende Grün des Waldes zu sehen. Am nächsten Tag wollte sie an Land gehen und ins Innere des Waldes vordringen, falls sie bis zum Mittag keinen Hinweis auf den "Wohnort" der Götter gefunden hätte.

Am Abend dieses Tages, an dem sie entlang der Küste nach Norden gefahren waren, vorbei an erdigem Kieselstrand am Rand des Großen Waldes, schlugen sie am Ufer ihr Lager auf.
Die über dem Lagerfeuer gewärmten Vorräte schmeckten nicht schlecht und Vhawiin fand ein bequemes Plätzchen, um sich in ihre Decken einzuhüllen.

***

"Heya, Heya!", Vhawiin winkte dem Mann auf dem entgegenkommenden Boot zu. Offensichtlich war es ein Händler, der mit einem beladenen Boot entlang der Küste nach Süden unterwegs war.
"Steure auf ihn zu", wies sie Tebach an.
Als die kleinen Boote mit den Seitenwänden leicht aneinander stießen, linste der Händler schon interessiert in ihr Boot.
"Sag', wir haben in letzter Zeit oft die Erde beben fühlen und fürchten den Zorn der Götter. Nun sind wir ausgesandt, die Götter zu besänftigen - weißt du, wo die Götter toben?" 
"Oh ja, das weiß ich nur zu genau! Ich komme gerade vom Schlachtfeld der Götter! Wenn ihr einfach der Küste entlang nach Norden und dann etwas nach Osten fahrt, so kommt ihr heute noch zum Lager der Flüchtlinge, die vor den aufeinanderprallenden Heeren der Götter geflohen sind! Aber ich warne euch - dort ist nichts Gutes zu erwarten! Und die Götter zürnen nicht euch, sondern sich gegenseitig - ich wüsste nicht, was sie besänftigen könnte..."
"Hmm... Wir müssen aber dennoch dorthin, unser Dorf leidet unter den Auswirkungen des Götterkampfes!"
"Dann bleibt mir nur, euch viel Glück zu wünschen", der Händler zuckte die Schultern.
Vhawiin reichte ihm einen kleinen Krug mit vergorenem Weneq- Wurzel- Saft:
"Das zum Danke für dich"
Der Andere nickte und lächelte, dann lenkte er sein Boot weiter gen Süden.
 

Und hier geht es zu Götterblut - Teil 4!
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