Vhawiin erwachte erst spät am nächsten Morgen, die Sonne
war auf ihrem Weg zum höchsten Punkt ihrer Bahn schon zur Hälfte
vorgerückt. Das lange Schlafen war ungewohnt für sie und dadurch
um so mehr ein Genuss. Dhadsheras Hütte war menschenleer und schattig,
die Schlafdecken der anderen waren in einer geflochtenen Korbkiste verschwunden.
Während Vhawiin ihre Decken ausschüttelte und ebenfalls in den
Korb räumte, wie schon so oft zuvor, dachte sie bei sich: 'Eigentlich
müsste ich das jetzt nicht mehr tun. Dhadshera glaubt an mich. Aber
selbst junge Götter sollten wohl nicht allzu arrogant sein. Außerdem
muss man als Gott ja nicht unbedingt ein Ekel sein, genauso wenig wie Dhadshera
unfreundlich zu mir war, als ich nichts weiter als ein Findelkind war.'
Danach trat sie hinaus vor die Hütte ins helle Sonnenlicht
und sah Dhadshera und ihre Kinder bei der Arbeit: Flechten, Weben, Nähen,
Schnitzen. Sie grüßte freundlich und trottete zum kleinen Fluss,
Richtung Norden, um sich zu baden.
Sie selbst hatte, wie Belíal es gestern erwähnt hatte,
auch manchmal die gelbe Färbung und den stinkenden Dampf in dem Flüsschen,
das aus der ‚Kristallquelle' entsprang, bemerkt. Und auch, dass Asterans
Sohn sich so furchtbar erbrochen hatte, worauf viele fürchteten, ihm
werde gleich die Seele aus dem Leib fahren.
Aber heute war das Wasser klar und nicht zu kalt und Vhawiin war
guten Mutes ob ihres "Planes" für die Rettung des Dorfes. Nachdem
sie sich frisch und sauber fühlte, schlenderte sie fröhlich zum
Dorf zurück.
***
"Hört mich an!", schallte ihre Stimme über den freien Platz,
um den die Hütten gebaut waren, in den Tempel der Druidin und in die
Häuser.
Die Meisten, die vor ihren Hütten in irgendeine Arbeit vertieft
waren, sahen interessiert, aber keineswegs ehrfürchtig auf.
Vhawiin kam sich etwas dumm vor, weil eigentlich keiner ihrer sieben
Gläubigen, bis auf Dhadshera und ihre Kinder, zu sehen war.
"Gestern bat mich Belíal um die Hilfe von Kir'iri'jath, der
Sendbotin der Ewigkeit, deren Stimme ich bin. Er weiß vom Zorn der
Götter, der unser Dorf mit Beben und Donner bedroht. Ich habe nun
letzte Nacht mit meiner Göttin gesprochen und sie wird uns helfen
und die anderen Götter besänftigen!"
Die beiläufigen Blicke der Dorfbewohner verunsicherten sie
etwas, aber sie ließ sich keineswegs aus der Fassung bringen. Als
sie zum Tempel hinübersah bemerkte sie die Haitanee, die grimmig hinter
dem Eingangsvorhang hervorblickte.
Aber dann trat Mirakal an ihr vorbei aus der Heiligen Hütte
und stellte sich lächelnd an den Rand des Dorfplatzes, um seine Unterstützung
zu demonstrieren.
"Ich werde aufbrechen nach Norden", fuhr Vhawiin gestärkt fort,
"und werde mit den fremden Göttern sprechen und sie notfalls mit Kir'iri'jaths
Gewalt bezwingen, wenn sie sich nicht besänftigen lassen! Und wenn
ich zurückkomme werde ich der Göttin eine Heilige Halle errichten,
größer als der jetzige Tempel der anderen Götter, so groß,
dass sie den ganzen Dorfplatz füllen würde! Aus Stein wird die
Heilige Halle sein, nicht nur aus Holz", sie schielte zur Druidin hinüber
und beobachtete erfreut die verärgerte Reaktion der Haitanee, "Und
wenn ich dafür jeden Felsblock einzeln auf den anderen hieven muss,
denn das ist der Wille von Kir'iri'jath!"
Als sie die Rufe hörte, merkte sie, dass hinter ihr auch Asteran
und Belíal am Rande des Platzes standen. Diese beiden und Mirakal
riefen beschwörend Kir'iri'jaths Namen und je öfter sie das Wort
in den Himmel hinaufsangen, desto mehr der anderen Dorfbewohner fielen
ein. Zum Schluss rief wohl jeder auf dem Platz nach der Göttin und
Vhawiin lächelte breit. Sie machte eine segnende Geste und hob die
Hand.
"Alleine werde ich diese Reise nicht bewältigen, ich brauche
eure Hilfe!
Ein Boot benötige ich, um auf dem Meer nach Norden zu fahren,
denn damit bin ich schneller als auf dem Landwege durch Wald und Berge.
Darauf Vorräte und auch gute Kleidung, da ich die Botschafterin unseres
Dorfes bin.
Zuguterletzt brauche ich noch jemanden, der mich begleitet, um den
Willen der Göttin zu erfüllen!"
Plötzlich wurden die Leute sehr zurückhaltend. Vhawiin
sah ernst im Kreis herum und drehte sich dabei zweimal um ihre Achse. Fast
jeder versuchte, im Boden zu verschwinden, wenn ihr Zeigefinger gerade
auf ihn deutete.
Dann zeigte sie auf Tebach, der faul auf einer Decke vor seiner
Hütte lag.
"Er, der Sünder, soll mit mir kommen und uns und der Göttin
zeigen, dass er bereit ist, seine Verfehlungen wieder gutzumachen!"
Sie hatte sich diesen Schritt letzte Nacht sehr gut überlegt,
denn schließlich war er keineswegs eine sehr angenehme Gesellschaft.
Aber das war nötig für ihren Plan...
Die Dorfbewohner nickten erfreut und riefen Zustimmungen, glücklich
darüber, nicht selbst ausgewählt worden zu sein. Tebach, der
sich plötzlich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit sah,
wäre am liebsten sofort verschwunden, aber das konnte er sich jetzt
keineswegs leisten! Und Vhawiin wusste das so gut wie er.
Sie ging auf ihn zu und streckte ihre Hand aus. Er musste sie ergreifen
und ließ seinen Arm von ihrem in die Luft reißen. Die Menschen
auf dem Platz jubelten. Sie waren durchaus bereit, ein Boot, Vorräte
und neue Kleidung für Vhawiin heranzuschaffen, solange sie nicht an
Tebachs Stelle mit der jungen Frau in den unbekannten Norden reisen mussten.
***
Nur langsam kam sie zu Atem... Das war knapp gewesen! Die alte Vettel
von Druidin war gerissen und ganz schön hellhörig!
Gerade als Vhawiin sich in dem Kräuterlager der Alten ausreichend
bedient hatte und schon fast wieder aus dem kleinen Hüttenanbau herausgeschlichen
war, war die Druidin hereingekommen. Im Halbdunkel hatte sie zwar den dreisten
Dieb nicht erkannt, hatte aber ihren Stock trotzdem nicht zimperlich eingesetzt!
Vhawiin hatte nur mühsam verräterische Schreie unterdrücken
können und dann schnellstens die Beine in die Hand genommen - aber
nicht nur gerissen war die Haitanee, sondern auch schnell:
Kaum war Vhawiin aus dem kleinen Fenster gesprungen, schon kam die
Alte hinterher und verfolgte sie durch den halben Wald! Ein Glück
nur, dass sie sich nicht mehr so geschickt bewegen konnte wie die junge
Frau!
Nach einiger Zeit war es Vhawiin dann aber doch gelungen, ihre Verfolgerin
abzuschütteln...
Und der Raubzug hatte sich gelohnt:
In dem kleinen Sack, der an ihrem Gürtel baumelte, lagen jetzt
genug der wichtigen Druidenkräuter für die geplante Reise...
***
Es dauerte keine zwei Tage, bis ihre Kleidung fertig, die Vorräte
verpackt und das Boot beladen war. Die Dorfbewohner hatten sich wirklich
Mühe gegeben und Vhawiin war stolz auf die Fellhose, das Leinenhemd,
den Umhang und vor allem auf die Bronzebrosche, die den Mantel zusammenhielt.
All das hatte sie von Dhadshera bekommen - die Brosche hatte diese vor
einiger Zeit von einem fahrenden Händler eingetauscht.
Nach segnenden und beruhigenden Worten und einem letzten Versprechen,
den neuen Tempel zu bauen, sobald sie zurück sei, stieg die "Stimme
der Göttin" in das Boot mit dem kufenförmigen Ausleger. Ihr Begleiter
Tebach musste das Paddel ergreifen und sie den Kristallfluss hinablenken.
Nicht lange dauerte es, bis sie das Meer erreichten und er in Ermangelung
der vorwärtstreibenden Strömung beim Rudern ins Schwitzen geriet.
Aber er wagte nicht, sich zu beklagen und hatte auch sichtlichen Respekt
vor Vhawiin, was darauf schließen ließ, dass er ihr falsches
Spiel nicht durchschaut hatte.
Vhawiin hielt den ganzen Tag nach Feuer, Rauch, Blitzen, sonstigen
Anzeichen von göttlichem Zorn und auch nach irgendwelchen Siedlungen
ausschau, aber weit und breit war nur das sanft im Wind wogenende Grün
des Waldes zu sehen. Am nächsten Tag wollte sie an Land gehen und
ins Innere des Waldes vordringen, falls sie bis zum Mittag keinen Hinweis
auf den "Wohnort" der Götter gefunden hätte.
Am Abend dieses Tages, an dem sie entlang der Küste nach Norden
gefahren waren, vorbei an erdigem Kieselstrand am Rand des Großen
Waldes, schlugen sie am Ufer ihr Lager auf.
Die über dem Lagerfeuer gewärmten Vorräte schmeckten
nicht schlecht und Vhawiin fand ein bequemes Plätzchen, um sich in
ihre Decken einzuhüllen.
***
"Heya, Heya!", Vhawiin winkte dem Mann auf dem entgegenkommenden
Boot zu. Offensichtlich war es ein Händler, der mit einem beladenen
Boot entlang der Küste nach Süden unterwegs war.
"Steure auf ihn zu", wies sie Tebach an.
Als die kleinen Boote mit den Seitenwänden leicht aneinander
stießen, linste der Händler schon interessiert in ihr Boot.
"Sag', wir haben in letzter Zeit oft die Erde beben fühlen
und fürchten den Zorn der Götter. Nun sind wir ausgesandt, die
Götter zu besänftigen - weißt du, wo die Götter toben?"
"Oh ja, das weiß ich nur zu genau! Ich komme gerade vom Schlachtfeld
der Götter! Wenn ihr einfach der Küste entlang nach Norden und
dann etwas nach Osten fahrt, so kommt ihr heute noch zum Lager der Flüchtlinge,
die vor den aufeinanderprallenden Heeren der Götter geflohen sind!
Aber ich warne euch - dort ist nichts Gutes zu erwarten! Und die Götter
zürnen nicht euch, sondern sich gegenseitig - ich wüsste nicht,
was sie besänftigen könnte..."
"Hmm... Wir müssen aber dennoch dorthin, unser Dorf leidet
unter den Auswirkungen des Götterkampfes!"
"Dann bleibt mir nur, euch viel Glück zu wünschen", der
Händler zuckte die Schultern.
Vhawiin reichte ihm einen kleinen Krug mit vergorenem Weneq- Wurzel-
Saft:
"Das zum Danke für dich"
Der Andere nickte und lächelte, dann lenkte er sein Boot weiter
gen Süden.
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