Wie drei Hobbits nicht nach Bree kamen von Dietmar Preuß

Der traurige Elb

Die Umrisse einer hochgewachsenen, schlanken Gestalt waren am anderen Ende der kleinen Lichtung zu erkennen. Eine Fackel flackerte auf und wurde in die Höhe gehalten. Sie beleuchtete ein schrecklich entstelltes Gesicht, durch das mehrere tiefe Narben liefen. Eine Augenhöhle war leer und schwarz. Das Gesicht verzog sich, und die Hobbits schrien laut auf, als die große Gestalt in dem langen Umhang einen Schritt auf sie zuging. Dann erkannten sie im Fackelschein langes blondes Haar, aus dem zwei spitze Ohren hervorstanden. Das verbliebene Auge zwischen den Narben sah unendlich traurig drein.
Pippin fasste sich als erster:
"Ihr seid Arbael, der traurige Elb?", fragte er und verbeugte sich als der Elb nickte.
"Ihr kennt meine Geschichte, das ist gut. So muss ich mich nicht erklären und tiefe Narben berühren", sagte er mit der wohlklingenden Stimme der Elben. Er gebrauchte die gemeinsame Sprache.
Auch Merry und selbst Borko kannten die Geschichte von Arbael. Der traurige Elb wurde er genannt. Er war ein Waldelb und hatte mit seiner ganzen Sippe auf den Pelennor-Feldern gegen Sauron und seine schrecklichen Heerscharen gekämpft. Alleine hatte seine Sippe eine Bresche in den Reihen der Elben und Menschen gegen einen mächtigen Säbelzahn gehalten. Sie opferten sich bis auf einen letzten Mann auf, bis die Verteidigungslinie durch Entsatz geschlossen werden konnte.
Dort, mitten im Chaos, stand nur noch Arbael, im Blut seiner Familie, die der Säbelzahn mit seinen mächtigen Reißzähnen und eisenbewehrten Krallen hingemetzelt hatte. Arbael war bereits jenseits von Leben, Tod und Traum, als das Untier zum letzten Schlag ausholte. Ohne Empfindung hatte Arbael den Bogen gehoben. Kämpfer aus den Reihen des herbeieilenden Entsatzes berichteten später, dass er den Elbenbogen spannte, bis er zu zerbrechen drohte. Er zielte  mit der Seelenruhe eines Todgeweihten und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Pfeil die Sehne verließ und den Säbelzahn ins Auge traf. Der fiel, als habe Morgoth selbst ihm die Lebenskraft entzogen, die er ihm einst verliehen hatte.

Aber der letzte Schlag der Pranke mit den vier Doppelklingen traf Arbael noch. Er verwandelte sein schönes Elbengesicht in eine öde Wüste aus zerfetztem und zerrissenem Fleisch. Doch Arbael blieb reglos stehen. Der Verlust seiner Sippe hatte ihn gelähmt und er wollte den Anverwandten folgen.
Man brachte ihn sofort zu einem der Heiler in Minas Thirith, die wenigstens ein Auge retten konnten. Aber sein Gesicht blieb entstellt, hässlich anzusehen, für jedermann eine quälende Erinnerung an die grausame Schlacht. Arbael, der Sieger dieses Kampfes Auge um Auge, wie man ihn ehrenvoll nannte, gewann seine Lebenskräfte zurück. Aber nie verschwand dieser unendlich traurige Ausdruck in dem ihm verbliebenen Auge. Seine Gefährtin, seine Söhne, alle Verwandten hatte er verloren.
Viele anderen Sippen boten ihm einen ehrenhaften Platz in ihrer Mitte. Aber Arbael konnte in ihren Gesichtern den Schrecken der Erinnerung lesen, wenn sie ihn ansahen. Und das würde ihn jedes mal aufs neue an seinen eigenen Verlust erinnern.
Eines Tages ging er ohne ein weiteres Wort. Er erhob sich von seinem Krankenlager, legte die Verbände der nahezu verheilen Wunden ab, packte sein Schwert und etwas Proviant in einen Rucksack und ging ohne ein weiteres Wort. Seinen Bogen und seinen leeren Köcher ließ er am Krankenlager zurück. Er wollte fortan alleine sein und niemanden mehr mit seinem Anblick erschrecken. Seine Spur verlor sich vor dem Nebelgebirge. Niemand hatte ihn je wieder gesehen.

"Kommt in mein Haus, Wanderer! Ich sehe, ihr seid hungrig und verängstigt. Bei mir könnt ihr ausruhen", sagte Arbael und ging wortlos in den Wald hinein. Er sah sich nicht um, ob die drei ihm folgten.
Die Hobbits sahen sich an und nickten. Was machte schon ein zernarbtes Gesicht, wenn sich dahinter Güte und Freundlichkeit verbargen? Inzwischen war es auch hell genug, ein paar Schritte weit zu sehen, und so folgten sie ihm sicheren Schrittes. Arbael schlug immer wieder Haken und ging mal in südliche, mal in östliche Richtung, dann wieder ein Stück nach Norden. Der traurige Elb schwieg, aber die Hobbits fühlten, dass sie in seiner Nähe nicht in Gefahr waren.
Der Marsch dauerte einige Stunden. Vor Arbael tat sich auf wunderbare Weise ein Weg auf, den ein unwissender Wanderer nicht hätte erkennen können. Weder Äste noch Dornenranken schlugen den Hobbits entgegen, keine Luftwurzeln griffen nach ihren Füßen, um sie zum Straucheln zu bringen. Dennoch war der Marsch anstrengend, denn der Elb schritt kräftig aus und schien unermüdlich zu sein. Die Sonne stieg höher, und auch wenn es im Wald sehr schattig blieb, so schien auf dem geheimen Pfad die Sonne nicht selten durch die Kronen. Die Hobbits schwitzten, folgten aber ihrem Führer unbeirrt. Sie waren so außer Atem, dass keine Gespräche mehr zustande kamen, und sich der Zug schweigend durch den Wald bewegte. Pippin war nur froh, dass der Weg sie ungefähr nach Osten führte, also auf die Hügelgräberhöhen zu.

Plötzlich lichtete sich der Wald und vor ihnen erhob sich eine steinerne, raue Felswand, die den großen Elb um das vierfache überragte. Es war ein felsiger Ausläufer der Hügelgräberhöhen, die nun querab im Osten lagen. Wie ein langer, unregelmäßiger Dorn ragte die Felsformation von den Höhen in den Alten Wald hinein.
"Folgt mir!", sagte der Elb und stieg die fast senkrechte Felswand hoch, als sei er ein Salamander. Die Hobbits waren sehr verwundert.
"Wie sollen wir das denn schaffen?", fragte Borko, der immer noch sehr eingeschüchtert durch die Gegenwart eines Elben war. Es war der erste, den er je sah.
Hoch über dem weichen Waldboden verschwand Arbael. Dann tauchte sein zernarbtes Gesicht wieder auf und sah über einen Vorsprung hinunter. Er musste auf einem Sims oder ähnlichem angekommen sein. Die Hobbits starrten die Felswand an. Wie war der Elb ohne Leiter oder Stufen hinaufgelangt?
"Geht näher an den Felsen heran", rief Arbael den Hobbits zu. Sie traten vor, standen jetzt nur noch zwei Schritte vor der Felswand und erkannten immer noch nicht, wie der Elb sein Kletterkunststück vollbracht hatte.
"Erkennt ihr die dünne Ader Glimmerstein im Felsen?", kam die Elbenstimme von oben.
Pippin und seine Gefährten näherten die Augen der Felswand bis auf einen halben Schritt. Tatsächlich erkannten sie eine daumendicke Spur des glänzenden Gesteins in der ansonsten dunkelgrauen Wand. Sie tasteten sie mit den Händen ab. Die Spur führte lotrecht nach oben.
"Links und rechts davon findet ihr kleine Spalten, die ebenfalls mit Glimmerstein gefüllt sind. Sie helfen euch nach oben."
Und wirklich, als die Hobbits die regelmäßige Folge der Griffe und Tritte entdeckten, erschien wie aus dem Nichts ein bequemer Klettersteig nach oben. So war der Aufstieg leicht zu bewältigen. Pippin kletterte voran, die beiden anderen Hobbits folgten.
Oben angekommen stellten sie fest, dass Arbael nicht einfach auf einem schmalen Sims stand, sondern vor dem Eingang in eine natürliche Höhle. Er führte seine kleinen Gäste hinein, und die waren erstaunt. Die Wände bestanden fast ausschließlich aus Glimmerstein und warfen das Feuer, das Arbael auf geheimnisvolle Art zum Brennen brachte, warm zurück.

Die Höhle war überraschend geräumig und heimelig eingerichtet mit verschiedenen Sitzmöbeln. Im hinteren Bereich standen sogar einige Bettlager, was nicht nur Pippin verwunderte. Nahe dem Eingang und beim Feuer stand ein fester Tisch, auf dem Arbael bereits ein Mahl aus frischen Pilzen und Früchten des Waldes zubereitete.
Die Hobbits nahmen ihre Rucksäcke ab, stöhnten vor Erleichterung und ließen sich nahe bei Arbael auf gemütlichen Hockern aus Birkenästen nieder.
"Sagt, trauriger Elb, für wen sind die vielen Lager in Euer Höhle?", konnte Merry seine Neugier nicht mehr im Zaum halten.
"Ihr drei seid nicht die ersten verirrten Wanderer, die in die Nähe meines Zuhauses kommen. Manche habe ich hereingebeten. Manche, wie die Ostlinge, nicht."
Die Hobbits mochten sich nicht vorstellen, was er mit Leuten gemacht hatte, die auf der Seite derer gekämpft hatten, die seine Sippe ausgelöscht hatten.
"Nennt mir Eure Namen!", forderte er sie auf.
Pippin erhob sich.
"Peregrin Tuk aus dem Auenland, hocherfreut." Nach einer Verbeugung setzte er sich wieder.
"Meriadoc Brandybock aus dem Auenland, zu Euren Diensten, Herr Arbael." Auch Merry war höflich aufgestanden.
Nun war Borko an der Reihe, stand auf und errötete.
"Stolzfuß, Borko Stolzfuß."
Der Elb nahm die Vorstellungen höflich dankend entgegen. An Pippin und Merry gewandt, sagte er:
"Ich habe Eure Namen nach der Ringschlacht gehört. Von Euch wurde sehr ehrenvoll berichtet. Also kann ich Euren Gefährten ebenfalls als Ehrenmann betrachten."
Borko wusste nicht, ob er das als Kompliment auffassen sollte oder nicht. Es machte großen Eindruck auf ihn, dass die beiden Hobbits, die er bisher als Aufschneider bezeichnet hatte, von einem solch berühmten Helden ehrenvoll behandelt wurden.
"Wohin wart ihr des Wegs, als diese Beutel- und Halsabschneider aus dem Osten euch überfallen wollten?", fragte der Elb.
"Wir waren auf dem Weg nach Bree, um einem alten Freund Guten Tag zu sagen", antwortete Pippin.
"Wir wussten nicht, dass sich noch soviel böses Volk herumtreibt", warf Merry ein.
"Die Zahl der Ostlinge war sogar noch größer, als ich mich hier niederließ," sagte Arbael. "Etwa ein Dutzend hat einmal versucht, tief in den Wald einzudringen. Ihnen bin ich nicht beigestanden und habe sie den Schatten des Alten Waldes überlassen. Seitdem habe ich hier meine Ruhe vor ihnen."
Den Hobbits schauderte es.

"Was Euch betrifft: Was gedenkt ihr jetzt zu tun?"
Arbael hatte es während des Gesprächs geschafft, ein reichliches Mahl zu bereiten. Auf den Tellern befanden sich geschmortes Gemüse mit Pilzen und kalter Braten. Aus einem Steinkrug goss Arbael ihnen frisches Quellwasser in die Becher. Die Hobbits machten sich schmatzend und fingerleckend darüber her.
"Wenn wir uns dank Eurer Güte gestärkt haben, möchten wir durch die Hügelgräberhöhen nach Bree gelangen. Auf der Oststraße treiben sich zu viele Halunken herum, darum müssen wir sie umgehen", sagte Pippin.
"Wie ihr zu den Höhen gelangt, ist leicht zu erklären." Arbael machte eine Pause. "Ich nehme an, Ihr wisst Bescheid über die Gräber?"
"Oh ja", antwortete Pippin. "Ohne den alten Tom Bombadil wäre es uns einmal schlecht ergangen."
Arbael nickte.
"Schlaft Euch aus und geht morgen bei Tagesanbruch los. Am Fuße dieses Felsens geht ihr nach Westen. Ihr werdet noch vor Einbruch der Dunkelheit den Waldrand erreichen. Rastet dort, denn ihr müsst die Höhen ohne Pause durchqueren. Die Zahl der Geister in den Gräbern ist sehr groß geworden. Die Alten sind erschrocken über so viele Ankömmlinge nach den Schlachten des Ringkrieges. Und die Grabunholde geben immer noch keine Ruh." 
Wenn möglich, wurde der Ausdruck seiner Augen bei dieser Rede noch trauriger. Er stand auf und blickte auf die Hobbits herab.
"Geht unter keinen Umständen in ein Grab. Hütet Euch in der Nacht vor Verlockungen. Geht früh morgens los, dann könnt er ihr es schaffen, die Hügelgräberhöhen noch bei Tageslicht zu verlassen."
Er sah erst Merry und Pippin streng an, dann verweilte sein Auge etwas länger bei Borko. Er sprach aber zu allen, als er sagte:
"Lasst Euch nicht von der Aussicht auf Gold und Schätze in die Irre führen."
Borko errötete, als sei er bei einem verbotenen Gedanken ertappt worden.

"Schlaft jetzt!", forderte Arbael sie auf, und die Hobbits merkten wie müde sie nach der durchwachten Nacht und dem langen Marsch waren. Auch die reichliche Mahlzeit drückte schwer auf die Augenlider.

Die Lager waren erstaunlich bequem und es dauerte nur kurze Zeit, bis alle drei Hobbits schliefen. Merry und Pippin schlummerten ruhig und friedlich. Schneller, als es ihnen bewusst war, hatten sie sich wieder an das Leben unterwegs gewöhnt. Es war, als hätten sie nach ihren letzten Abenteuern nur eine etwas längere Pause eingelegt.
Borko Stolzfuß warf sich unruhig hin und her. Der traurige Elb ging in den hinteren Teil der Höhle und beugte sich über den Hobbit. Lange sah er ihn an, erforschte seine Träume und schüttelte langsam den Kopf. Hinter Borkos Augen entstanden Bilder von Grabkammern, reich gefüllt mit Gold und Juwelen, wertvollen Waffen und Kronen längst vergessener Fürstentümer. Er sah sich auf einem verzierten Thron in einem goldenen Palast sitzen. Oder war es eine Höhle? Mit seinen unermesslichen Schätzen war er der Herr über das Auenland. Richtend hob er die Hand über zwei Hobbits, die ehrfürchtig vor ihm standen.
Arbael berührte mit den Fingerspitzen Borkos Schläfen. Der Hobbit hörte auf, sich herumzuwälzen, sein schwerer Atem wurde leichter. Den Rest der Nacht schlief Borko traumlos und erholsam.

Bei Sonnenaufgang weckte Arbael die Hobbits auf. Sie hatten den Rest des Tages und eine ganze Nacht geschlafen. Der Duft heißen Tees aus vielen bekannten und unbekannten Kräutern half den verschlafenen Wanderern auf die Beine. Arbael hatte auch frisches Brot bereitet. Es war rund und flach, denn der Elb hatte es auf einem heißen Stein gebacken. Die Butter dazu hatte er mit frischen Kräutern vermengt und gesalzen. Ein solches Frühstück mundete den Hobbits vorzüglich.
"Wie können wir Euch für Eure Gastfreundschaft danken, Herr Arbael?", wollte Pippin wissen. Auch Merry und Borko hatten aufgegessen und sahen den Elben an.
"Wenn ihr Elben seht, erzählt ihnen, Arbael der Traurige hat seinen Platz und seinen Frieden gefunden", erbat er nach kurzem Nachdenken.
Die Hobbits versicherten ihm, davon und von seiner Gastfreundschaft zu berichten.
"Nun macht euch reisefertig. Ihr habt einen langen Weg vor euch, bis ihr an den Rand des Waldes kommt."
So packten die Hobbits ihre Rucksäcke. Pippin sorgt dafür, dass Borkos große Pfanne fest verzurrt war.
"Diesmal wird uns Dein Kochgerät keine Angst bereiten, Borko Stolzfuß", lachte er.
Borko reckte sich und stöhnte. Der ungewohnt lange Marsch des Vortages hatte ihm einen schlimmen Muskelkater beschert.

"Ich kann Euch nicht begleiten, aber ich werde über euch wachen. Ich wünsche euch einen guten Weg!" Damit entließ Arbael die drei Hobbits, die ihren Dank wiederholten und sich mit höflichen Verbeugungen verabschiedeten.
Inzwischen war es auch hell genug, die Stiege im Felsen zu erkennen. Pippin machte den Anfang mit der Kletterei und kam sicher unten an. Merry folgte eilig und übersprang die letzten drei Stiege. Er landete mit seinen behaarten Füßen nur knapp neben Pippin.
"Hoppla!", sagte er und Pippin stieß ihn an. "Wir sind noch gar nicht losgegangen, Herr Brandybock. Und schon wirst du unvorsichtig."
Ein großer Rabe, dessen Gefieder blau in der Morgensonne glänzte, flog in der Nähe auf und begann über der Klippe zu kreisen. Dabei schimpfte er krächzend über die Störung. Merry grinste ihm hinterher.
"Wenn ich schon so früh aufstehen muss, sollen die anderen Waldbewohner es auch tun."
Pippin blickte nachdenklich drein.
"Wer weiß, was das für Waldbewohner sind. Herr Arbael hat nicht gesagt, dass er alles Gezücht aus dem Wald vertrieben hat."
Borko kam endlich unten an, und wie um Pippin zu bestätigen, sah Arbael vom Höhlensims hinunter und rief:
"Bleibt immer in der Nähe des Felsens. Geht nicht zu tief in den Wald."
Damit verschwand er in seiner Wohnhöhle und die Hobbits wandten sich nach Westen.

Am Fuß des Felskeils zu wandern war nicht so beschwerlich wie der Marsch in der letzten Nacht mitten durch den Wald. Bäume und Gestrüpp hielten Abstand zum Felsen. Borkos Muskelkater ließ nach einigen Halbstunden nach. Allerdings fanden alle drei Hobbits es bedrückend, linker Hand immer die hohe Felswand zu haben, die ihnen keinerlei Ausweichmöglichkeit ließ. Der Wald zur Rechten war dicht und dunkel. Die Geräusche, die aus ihm drangen, waren zwar leiser als in der Nacht. Aber es waren keine vertrauten Geräusche, wie die Hobbits sie aus den Wäldchen und Hainen des Auenlandes kannten. Da sie aber gut vorankamen, blieben sie guter Dinge.
Schon kurze Zeit nach dem Aufbruch hatte Pippin gemerkt, dass sie verfolgt wurden. Ein großer Rabe saß manchmal auf Zweigen in der Nähe des Felsen und flatterte mit seinen bläulich glänzenden Flügeln. Ab und an verschwand er in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Bald war er wieder da und wurde so zu einem ständigen Begleiter der drei Hobbits.
Um die Mittagszeit befahl Pippin eine kurze Rast. Sie wagten nicht, ein Feuer zu entfachen, aus Angst, unliebsame Aufmerksamkeit zu erregen. Die Hobbits begnügten sich mit Wasser und den flachen Broten, die Arbael ihnen mitgegeben hatten. Es war zwar kein Lembas, aber es schmeckte noch genauso frisch wie am Morgen. Ein paar Äpfel aus dem Auenland machten die Mahlzeit komplett.

"Wir werden verfolgt", sagte Pippin, als sie sich nach dem Essen über die schon nicht mehr so runden Bäuche strichen. Borko sprang vor Schreck auf und sah sich mit wilden Kopfbewegungen um.
"Beruhige dich, Borko, es ist ein Vogel, der uns folgt", sagte Merry und zeigte auf den großen Raben, der in der Nähe auf dem Boden hockte und darauf wartete, sich über ihre Krümel herzumachen.
"Das ist doch der gefiederte Bursche, den ich heute morgen aufgeschreckt habe", sagte Merry. "Er folgt uns also schon seit Arbaels Höhle."
"Ach was, ein Rabe sieht doch wie der andere aus", meinte Borko.
Die überwundene Gefahr der letzten Nacht, die Ruhe in Arbaels Höhle und das gute Vorankommen am Tag hatten ihn wieder mutig gemacht. Schließlich war den ganzen Vormittag lang nichts ungewöhnliches geschehen. Die Sonne schien durch die Baumwipfel, der Felsen warf die Wärme zurück.
"Benimm Dich nicht wie ein Hasenfuß, Herr Brandybock."
"Nicht vor dem Raben sollten wir uns fürchten, sondern vor der Gefahr, wegen der Herr Arbael ihn uns mitgesandt hat. Er hat schon einmal versucht uns zu warnen, wie du vielleicht weißt", gab Merry zu bedenken.
"Arbael hat versprochen über uns zu wachen. Ich bin mir fast sicher, dass der Rabe sein Späher und Bote ist", sagte Merry.
Borko verstand nicht, wie ein Vogel Bericht erstatten oder gar jemand herbeirufen könne. Die Hobbits diskutierten noch eine Weile, dann drängte Pippin zum Aufbruch. Bald waren die Wanderer wieder im Tritt. Ihre Gespräche schliefen schnell ein, und im Laufe des Nachmittags begannen ihre Kräfte nachzulassen. Borko fing als erster an zu stöhnen und zu grummeln. Immer öfter zerrte er an den Gurten seines Rucksacks, um sich für einen Moment Erleichterung zu verschaffen.

Die Sonne sank immer tiefer und verfärbte sich ins Orange. Borko, der an diesem Tag zum ersten Mal zu spüren bekam, was es hieß, zu laufen, solang die Sonne Licht gab, wurde immer stiller. Auch Merry und Pippin machten sich Sorgen, ob sie, wie Arbael gesagt hatte, dem Wald vor Sonnenuntergang den Rücken würden kehren können. Schließlich blieb Borko stehen, ließ sich mit einem Plumps zu Boden fallen und streckte seine behaarten Füße aus.
"Ich kann nicht mehr. Der Elb hat die Wegstrecke sicher nach seinem Schritt bemessen. Wir werden es heute nicht schaffen. Da können wir genauso gut jetzt Rast machen."
Merry und Pippin blieben ebenfalls stehen, setzten sich aber nicht.
"Wenn Arbael gesagt hat, wir schaffen es, dann ist das auch so. Hoch mit Dir, alter Stolzfuß. Mach deinem Namen Ehre!", versuchte Pippin ihn zu ermuntern.
Borko deutete mit der Hand nach Osten.
"Der Wald wird nicht lichter, sondern immer dichter. Der Felsen wird immer höher. Es kann noch lange dauern, bis wir hier herauskommen", jammerte er und machte keine Anstalten aufzustehen.
Pippin war ebenfalls müde und hatte keine Lust zu streiten.
"Ich denke nicht, dass du alleine im Wald bleiben willst, wenn es dunkel wird. Wenn es sein muss, kann man an einem einzigen Tag noch viel weiter gehen, nicht wahr Merry?", sagte er, drehte Borko den Rücken zu und ging weiter.
Merry fühlte sich an den schrecklichen Marsch mit den Orks über die weiten Ebenen Rohans  erinnert und nickte. Er bot Borko die Hand, der diese ergriff, und zog ihn hoch. Schweigend gingen sie hinter Pippin her.
 

© Dietmar Preuß
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