Der traurige Elb
Die Umrisse einer hochgewachsenen, schlanken
Gestalt waren am anderen Ende der kleinen Lichtung zu erkennen. Eine Fackel
flackerte auf und wurde in die Höhe gehalten. Sie beleuchtete ein
schrecklich entstelltes Gesicht, durch das mehrere tiefe Narben liefen.
Eine Augenhöhle war leer und schwarz. Das Gesicht verzog sich, und
die Hobbits schrien laut auf, als die große Gestalt in dem langen
Umhang einen Schritt auf sie zuging. Dann erkannten sie im Fackelschein
langes blondes Haar, aus dem zwei spitze Ohren hervorstanden. Das verbliebene
Auge zwischen den Narben sah unendlich traurig drein.
Pippin fasste sich als erster:
"Ihr seid Arbael, der traurige Elb?", fragte
er und verbeugte sich als der Elb nickte.
"Ihr kennt meine Geschichte, das ist gut.
So muss ich mich nicht erklären und tiefe Narben berühren", sagte
er mit der wohlklingenden Stimme der Elben. Er gebrauchte die gemeinsame
Sprache.
Auch Merry und selbst Borko kannten die Geschichte
von Arbael. Der traurige Elb wurde er genannt. Er war ein Waldelb und hatte
mit seiner ganzen Sippe auf den Pelennor-Feldern gegen Sauron und seine
schrecklichen Heerscharen gekämpft. Alleine hatte seine Sippe eine
Bresche in den Reihen der Elben und Menschen gegen einen mächtigen
Säbelzahn gehalten. Sie opferten sich bis auf einen letzten Mann auf,
bis die Verteidigungslinie durch Entsatz geschlossen werden konnte.
Dort, mitten im Chaos, stand nur noch Arbael,
im Blut seiner Familie, die der Säbelzahn mit seinen mächtigen
Reißzähnen und eisenbewehrten Krallen hingemetzelt hatte. Arbael
war bereits jenseits von Leben, Tod und Traum, als das Untier zum letzten
Schlag ausholte. Ohne Empfindung hatte Arbael den Bogen gehoben. Kämpfer
aus den Reihen des herbeieilenden Entsatzes berichteten später, dass
er den Elbenbogen spannte, bis er zu zerbrechen drohte. Er zielte
mit der Seelenruhe eines Todgeweihten und es schien eine Ewigkeit zu dauern,
bis der Pfeil die Sehne verließ und den Säbelzahn ins Auge traf.
Der fiel, als habe Morgoth selbst ihm die Lebenskraft entzogen, die er
ihm einst verliehen hatte.
Aber der letzte Schlag der Pranke mit den vier
Doppelklingen traf Arbael noch. Er verwandelte sein schönes Elbengesicht
in eine öde Wüste aus zerfetztem und zerrissenem Fleisch. Doch
Arbael blieb reglos stehen. Der Verlust seiner Sippe hatte ihn gelähmt
und er wollte den Anverwandten folgen.
Man brachte ihn sofort zu einem der Heiler
in Minas Thirith, die wenigstens ein Auge retten konnten. Aber sein Gesicht
blieb entstellt, hässlich anzusehen, für jedermann eine quälende
Erinnerung an die grausame Schlacht. Arbael, der Sieger dieses Kampfes
Auge um Auge, wie man ihn ehrenvoll nannte, gewann seine Lebenskräfte
zurück. Aber nie verschwand dieser unendlich traurige Ausdruck in
dem ihm verbliebenen Auge. Seine Gefährtin, seine Söhne, alle
Verwandten hatte er verloren.
Viele anderen Sippen boten ihm einen ehrenhaften
Platz in ihrer Mitte. Aber Arbael konnte in ihren Gesichtern den Schrecken
der Erinnerung lesen, wenn sie ihn ansahen. Und das würde ihn jedes
mal aufs neue an seinen eigenen Verlust erinnern.
Eines Tages ging er ohne ein weiteres Wort.
Er erhob sich von seinem Krankenlager, legte die Verbände der nahezu
verheilen Wunden ab, packte sein Schwert und etwas Proviant in einen Rucksack
und ging ohne ein weiteres Wort. Seinen Bogen und seinen leeren Köcher
ließ er am Krankenlager zurück. Er wollte fortan alleine sein
und niemanden mehr mit seinem Anblick erschrecken. Seine Spur verlor sich
vor dem Nebelgebirge. Niemand hatte ihn je wieder gesehen.
"Kommt in mein Haus, Wanderer! Ich sehe, ihr
seid hungrig und verängstigt. Bei mir könnt ihr ausruhen", sagte
Arbael und ging wortlos in den Wald hinein. Er sah sich nicht um, ob die
drei ihm folgten.
Die Hobbits sahen sich an und nickten. Was
machte schon ein zernarbtes Gesicht, wenn sich dahinter Güte und Freundlichkeit
verbargen? Inzwischen war es auch hell genug, ein paar Schritte weit zu
sehen, und so folgten sie ihm sicheren Schrittes. Arbael schlug immer wieder
Haken und ging mal in südliche, mal in östliche Richtung, dann
wieder ein Stück nach Norden. Der traurige Elb schwieg, aber die Hobbits
fühlten, dass sie in seiner Nähe nicht in Gefahr waren.
Der Marsch dauerte einige Stunden. Vor Arbael
tat sich auf wunderbare Weise ein Weg auf, den ein unwissender Wanderer
nicht hätte erkennen können. Weder Äste noch Dornenranken
schlugen den Hobbits entgegen, keine Luftwurzeln griffen nach ihren Füßen,
um sie zum Straucheln zu bringen. Dennoch war der Marsch anstrengend, denn
der Elb schritt kräftig aus und schien unermüdlich zu sein. Die
Sonne stieg höher, und auch wenn es im Wald sehr schattig blieb, so
schien auf dem geheimen Pfad die Sonne nicht selten durch die Kronen. Die
Hobbits schwitzten, folgten aber ihrem Führer unbeirrt. Sie waren
so außer Atem, dass keine Gespräche mehr zustande kamen, und
sich der Zug schweigend durch den Wald bewegte. Pippin war nur froh, dass
der Weg sie ungefähr nach Osten führte, also auf die Hügelgräberhöhen
zu.
Plötzlich lichtete sich der Wald und vor
ihnen erhob sich eine steinerne, raue Felswand, die den großen Elb
um das vierfache überragte. Es war ein felsiger Ausläufer der
Hügelgräberhöhen, die nun querab im Osten lagen. Wie ein
langer, unregelmäßiger Dorn ragte die Felsformation von den
Höhen in den Alten Wald hinein.
"Folgt mir!", sagte der Elb und stieg die
fast senkrechte Felswand hoch, als sei er ein Salamander. Die Hobbits waren
sehr verwundert.
"Wie sollen wir das denn schaffen?", fragte
Borko, der immer noch sehr eingeschüchtert durch die Gegenwart eines
Elben war. Es war der erste, den er je sah.
Hoch über dem weichen Waldboden verschwand
Arbael. Dann tauchte sein zernarbtes Gesicht wieder auf und sah über
einen Vorsprung hinunter. Er musste auf einem Sims oder ähnlichem
angekommen sein. Die Hobbits starrten die Felswand an. Wie war der Elb
ohne Leiter oder Stufen hinaufgelangt?
"Geht näher an den Felsen heran", rief
Arbael den Hobbits zu. Sie traten vor, standen jetzt nur noch zwei Schritte
vor der Felswand und erkannten immer noch nicht, wie der Elb sein Kletterkunststück
vollbracht hatte.
"Erkennt ihr die dünne Ader Glimmerstein
im Felsen?", kam die Elbenstimme von oben.
Pippin und seine Gefährten näherten
die Augen der Felswand bis auf einen halben Schritt. Tatsächlich erkannten
sie eine daumendicke Spur des glänzenden Gesteins in der ansonsten
dunkelgrauen Wand. Sie tasteten sie mit den Händen ab. Die Spur führte
lotrecht nach oben.
"Links und rechts davon findet ihr kleine
Spalten, die ebenfalls mit Glimmerstein gefüllt sind. Sie helfen euch
nach oben."
Und wirklich, als die Hobbits die regelmäßige
Folge der Griffe und Tritte entdeckten, erschien wie aus dem Nichts ein
bequemer Klettersteig nach oben. So war der Aufstieg leicht zu bewältigen.
Pippin kletterte voran, die beiden anderen Hobbits folgten.
Oben angekommen stellten sie fest, dass Arbael
nicht einfach auf einem schmalen Sims stand, sondern vor dem Eingang in
eine natürliche Höhle. Er führte seine kleinen Gäste
hinein, und die waren erstaunt. Die Wände bestanden fast ausschließlich
aus Glimmerstein und warfen das Feuer, das Arbael auf geheimnisvolle Art
zum Brennen brachte, warm zurück.
Die Höhle war überraschend geräumig
und heimelig eingerichtet mit verschiedenen Sitzmöbeln. Im hinteren
Bereich standen sogar einige Bettlager, was nicht nur Pippin verwunderte.
Nahe dem Eingang und beim Feuer stand ein fester Tisch, auf dem Arbael
bereits ein Mahl aus frischen Pilzen und Früchten des Waldes zubereitete.
Die Hobbits nahmen ihre Rucksäcke ab,
stöhnten vor Erleichterung und ließen sich nahe bei Arbael auf
gemütlichen Hockern aus Birkenästen nieder.
"Sagt, trauriger Elb, für wen sind die
vielen Lager in Euer Höhle?", konnte Merry seine Neugier nicht mehr
im Zaum halten.
"Ihr drei seid nicht die ersten verirrten
Wanderer, die in die Nähe meines Zuhauses kommen. Manche habe ich
hereingebeten. Manche, wie die Ostlinge, nicht."
Die Hobbits mochten sich nicht vorstellen,
was er mit Leuten gemacht hatte, die auf der Seite derer gekämpft
hatten, die seine Sippe ausgelöscht hatten.
"Nennt mir Eure Namen!", forderte er sie auf.
Pippin erhob sich.
"Peregrin Tuk aus dem Auenland, hocherfreut."
Nach einer Verbeugung setzte er sich wieder.
"Meriadoc Brandybock aus dem Auenland, zu
Euren Diensten, Herr Arbael." Auch Merry war höflich aufgestanden.
Nun war Borko an der Reihe, stand auf und
errötete.
"Stolzfuß, Borko Stolzfuß."
Der Elb nahm die Vorstellungen höflich
dankend entgegen. An Pippin und Merry gewandt, sagte er:
"Ich habe Eure Namen nach der Ringschlacht
gehört. Von Euch wurde sehr ehrenvoll berichtet. Also kann ich Euren
Gefährten ebenfalls als Ehrenmann betrachten."
Borko wusste nicht, ob er das als Kompliment
auffassen sollte oder nicht. Es machte großen Eindruck auf ihn, dass
die beiden Hobbits, die er bisher als Aufschneider bezeichnet hatte, von
einem solch berühmten Helden ehrenvoll behandelt wurden.
"Wohin wart ihr des Wegs, als diese Beutel-
und Halsabschneider aus dem Osten euch überfallen wollten?", fragte
der Elb.
"Wir waren auf dem Weg nach Bree, um einem
alten Freund Guten Tag zu sagen", antwortete Pippin.
"Wir wussten nicht, dass sich noch soviel
böses Volk herumtreibt", warf Merry ein.
"Die Zahl der Ostlinge war sogar noch größer,
als ich mich hier niederließ," sagte Arbael. "Etwa ein Dutzend hat
einmal versucht, tief in den Wald einzudringen. Ihnen bin ich nicht beigestanden
und habe sie den Schatten des Alten Waldes überlassen. Seitdem habe
ich hier meine Ruhe vor ihnen."
Den Hobbits schauderte es.
"Was Euch betrifft: Was gedenkt ihr jetzt zu
tun?"
Arbael hatte es während des Gesprächs
geschafft, ein reichliches Mahl zu bereiten. Auf den Tellern befanden sich
geschmortes Gemüse mit Pilzen und kalter Braten. Aus einem Steinkrug
goss Arbael ihnen frisches Quellwasser in die Becher. Die Hobbits machten
sich schmatzend und fingerleckend darüber her.
"Wenn wir uns dank Eurer Güte gestärkt
haben, möchten wir durch die Hügelgräberhöhen nach
Bree gelangen. Auf der Oststraße treiben sich zu viele Halunken herum,
darum müssen wir sie umgehen", sagte Pippin.
"Wie ihr zu den Höhen gelangt, ist leicht
zu erklären." Arbael machte eine Pause. "Ich nehme an, Ihr wisst Bescheid
über die Gräber?"
"Oh ja", antwortete Pippin. "Ohne den alten
Tom Bombadil wäre es uns einmal schlecht ergangen."
Arbael nickte.
"Schlaft Euch aus und geht morgen bei Tagesanbruch
los. Am Fuße dieses Felsens geht ihr nach Westen. Ihr werdet noch
vor Einbruch der Dunkelheit den Waldrand erreichen. Rastet dort, denn ihr
müsst die Höhen ohne Pause durchqueren. Die Zahl der Geister
in den Gräbern ist sehr groß geworden. Die Alten sind erschrocken
über so viele Ankömmlinge nach den Schlachten des Ringkrieges.
Und die Grabunholde geben immer noch keine Ruh."
Wenn möglich, wurde der Ausdruck seiner
Augen bei dieser Rede noch trauriger. Er stand auf und blickte auf die
Hobbits herab.
"Geht unter keinen Umständen in ein Grab.
Hütet Euch in der Nacht vor Verlockungen. Geht früh morgens los,
dann könnt er ihr es schaffen, die Hügelgräberhöhen
noch bei Tageslicht zu verlassen."
Er sah erst Merry und Pippin streng an, dann
verweilte sein Auge etwas länger bei Borko. Er sprach aber zu allen,
als er sagte:
"Lasst Euch nicht von der Aussicht auf Gold
und Schätze in die Irre führen."
Borko errötete, als sei er bei einem
verbotenen Gedanken ertappt worden.
"Schlaft jetzt!", forderte Arbael sie auf,
und die Hobbits merkten wie müde sie nach der durchwachten Nacht und
dem langen Marsch waren. Auch die reichliche Mahlzeit drückte schwer
auf die Augenlider.
Die Lager waren erstaunlich bequem und es dauerte
nur kurze Zeit, bis alle drei Hobbits schliefen. Merry und Pippin schlummerten
ruhig und friedlich. Schneller, als es ihnen bewusst war, hatten sie sich
wieder an das Leben unterwegs gewöhnt. Es war, als hätten sie
nach ihren letzten Abenteuern nur eine etwas längere Pause eingelegt.
Borko Stolzfuß warf sich unruhig hin
und her. Der traurige Elb ging in den hinteren Teil der Höhle und
beugte sich über den Hobbit. Lange sah er ihn an, erforschte seine
Träume und schüttelte langsam den Kopf. Hinter Borkos Augen entstanden
Bilder von Grabkammern, reich gefüllt mit Gold und Juwelen, wertvollen
Waffen und Kronen längst vergessener Fürstentümer. Er sah
sich auf einem verzierten Thron in einem goldenen Palast sitzen. Oder war
es eine Höhle? Mit seinen unermesslichen Schätzen war er der
Herr über das Auenland. Richtend hob er die Hand über zwei Hobbits,
die ehrfürchtig vor ihm standen.
Arbael berührte mit den Fingerspitzen
Borkos Schläfen. Der Hobbit hörte auf, sich herumzuwälzen,
sein schwerer Atem wurde leichter. Den Rest der Nacht schlief Borko traumlos
und erholsam.
Bei Sonnenaufgang weckte Arbael die Hobbits
auf. Sie hatten den Rest des Tages und eine ganze Nacht geschlafen. Der
Duft heißen Tees aus vielen bekannten und unbekannten Kräutern
half den verschlafenen Wanderern auf die Beine. Arbael hatte auch frisches
Brot bereitet. Es war rund und flach, denn der Elb hatte es auf einem heißen
Stein gebacken. Die Butter dazu hatte er mit frischen Kräutern vermengt
und gesalzen. Ein solches Frühstück mundete den Hobbits vorzüglich.
"Wie können wir Euch für Eure Gastfreundschaft
danken, Herr Arbael?", wollte Pippin wissen. Auch Merry und Borko hatten
aufgegessen und sahen den Elben an.
"Wenn ihr Elben seht, erzählt ihnen,
Arbael der Traurige hat seinen Platz und seinen Frieden gefunden", erbat
er nach kurzem Nachdenken.
Die Hobbits versicherten ihm, davon und von
seiner Gastfreundschaft zu berichten.
"Nun macht euch reisefertig. Ihr habt einen
langen Weg vor euch, bis ihr an den Rand des Waldes kommt."
So packten die Hobbits ihre Rucksäcke.
Pippin sorgt dafür, dass Borkos große Pfanne fest verzurrt war.
"Diesmal wird uns Dein Kochgerät keine
Angst bereiten, Borko Stolzfuß", lachte er.
Borko reckte sich und stöhnte. Der ungewohnt
lange Marsch des Vortages hatte ihm einen schlimmen Muskelkater beschert.
"Ich kann Euch nicht begleiten, aber ich werde
über euch wachen. Ich wünsche euch einen guten Weg!" Damit entließ
Arbael die drei Hobbits, die ihren Dank wiederholten und sich mit höflichen
Verbeugungen verabschiedeten.
Inzwischen war es auch hell genug, die Stiege
im Felsen zu erkennen. Pippin machte den Anfang mit der Kletterei und kam
sicher unten an. Merry folgte eilig und übersprang die letzten drei
Stiege. Er landete mit seinen behaarten Füßen nur knapp neben
Pippin.
"Hoppla!", sagte er und Pippin stieß
ihn an. "Wir sind noch gar nicht losgegangen, Herr Brandybock. Und schon
wirst du unvorsichtig."
Ein großer Rabe, dessen Gefieder blau
in der Morgensonne glänzte, flog in der Nähe auf und begann über
der Klippe zu kreisen. Dabei schimpfte er krächzend über die
Störung. Merry grinste ihm hinterher.
"Wenn ich schon so früh aufstehen muss,
sollen die anderen Waldbewohner es auch tun."
Pippin blickte nachdenklich drein.
"Wer weiß, was das für Waldbewohner
sind. Herr Arbael hat nicht gesagt, dass er alles Gezücht aus dem
Wald vertrieben hat."
Borko kam endlich unten an, und wie um Pippin
zu bestätigen, sah Arbael vom Höhlensims hinunter und rief:
"Bleibt immer in der Nähe des Felsens.
Geht nicht zu tief in den Wald."
Damit verschwand er in seiner Wohnhöhle
und die Hobbits wandten sich nach Westen.
Am Fuß des Felskeils zu wandern war nicht
so beschwerlich wie der Marsch in der letzten Nacht mitten durch den Wald.
Bäume und Gestrüpp hielten Abstand zum Felsen. Borkos Muskelkater
ließ nach einigen Halbstunden nach. Allerdings fanden alle drei Hobbits
es bedrückend, linker Hand immer die hohe Felswand zu haben, die ihnen
keinerlei Ausweichmöglichkeit ließ. Der Wald zur Rechten war
dicht und dunkel. Die Geräusche, die aus ihm drangen, waren zwar leiser
als in der Nacht. Aber es waren keine vertrauten Geräusche, wie die
Hobbits sie aus den Wäldchen und Hainen des Auenlandes kannten. Da
sie aber gut vorankamen, blieben sie guter Dinge.
Schon kurze Zeit nach dem Aufbruch hatte Pippin
gemerkt, dass sie verfolgt wurden. Ein großer Rabe saß manchmal
auf Zweigen in der Nähe des Felsen und flatterte mit seinen bläulich
glänzenden Flügeln. Ab und an verschwand er in die Richtung,
aus der sie gekommen waren. Bald war er wieder da und wurde so zu einem
ständigen Begleiter der drei Hobbits.
Um die Mittagszeit befahl Pippin eine kurze
Rast. Sie wagten nicht, ein Feuer zu entfachen, aus Angst, unliebsame Aufmerksamkeit
zu erregen. Die Hobbits begnügten sich mit Wasser und den flachen
Broten, die Arbael ihnen mitgegeben hatten. Es war zwar kein Lembas, aber
es schmeckte noch genauso frisch wie am Morgen. Ein paar Äpfel aus
dem Auenland machten die Mahlzeit komplett.
"Wir werden verfolgt", sagte Pippin, als sie
sich nach dem Essen über die schon nicht mehr so runden Bäuche
strichen. Borko sprang vor Schreck auf und sah sich mit wilden Kopfbewegungen
um.
"Beruhige dich, Borko, es ist ein Vogel, der
uns folgt", sagte Merry und zeigte auf den großen Raben, der in der
Nähe auf dem Boden hockte und darauf wartete, sich über ihre
Krümel herzumachen.
"Das ist doch der gefiederte Bursche, den
ich heute morgen aufgeschreckt habe", sagte Merry. "Er folgt uns also schon
seit Arbaels Höhle."
"Ach was, ein Rabe sieht doch wie der andere
aus", meinte Borko.
Die überwundene Gefahr der letzten Nacht,
die Ruhe in Arbaels Höhle und das gute Vorankommen am Tag hatten ihn
wieder mutig gemacht. Schließlich war den ganzen Vormittag lang nichts
ungewöhnliches geschehen. Die Sonne schien durch die Baumwipfel, der
Felsen warf die Wärme zurück.
"Benimm Dich nicht wie ein Hasenfuß,
Herr Brandybock."
"Nicht vor dem Raben sollten wir uns fürchten,
sondern vor der Gefahr, wegen der Herr Arbael ihn uns mitgesandt hat. Er
hat schon einmal versucht uns zu warnen, wie du vielleicht weißt",
gab Merry zu bedenken.
"Arbael hat versprochen über uns zu wachen.
Ich bin mir fast sicher, dass der Rabe sein Späher und Bote ist",
sagte Merry.
Borko verstand nicht, wie ein Vogel Bericht
erstatten oder gar jemand herbeirufen könne. Die Hobbits diskutierten
noch eine Weile, dann drängte Pippin zum Aufbruch. Bald waren die
Wanderer wieder im Tritt. Ihre Gespräche schliefen schnell ein, und
im Laufe des Nachmittags begannen ihre Kräfte nachzulassen. Borko
fing als erster an zu stöhnen und zu grummeln. Immer öfter zerrte
er an den Gurten seines Rucksacks, um sich für einen Moment Erleichterung
zu verschaffen.
Die Sonne sank immer tiefer und verfärbte
sich ins Orange. Borko, der an diesem Tag zum ersten Mal zu spüren
bekam, was es hieß, zu laufen, solang die Sonne Licht gab, wurde
immer stiller. Auch Merry und Pippin machten sich Sorgen, ob sie, wie Arbael
gesagt hatte, dem Wald vor Sonnenuntergang den Rücken würden
kehren können. Schließlich blieb Borko stehen, ließ sich
mit einem Plumps zu Boden fallen und streckte seine behaarten Füße
aus.
"Ich kann nicht mehr. Der Elb hat die Wegstrecke
sicher nach seinem Schritt bemessen. Wir werden es heute nicht schaffen.
Da können wir genauso gut jetzt Rast machen."
Merry und Pippin blieben ebenfalls stehen,
setzten sich aber nicht.
"Wenn Arbael gesagt hat, wir schaffen es,
dann ist das auch so. Hoch mit Dir, alter Stolzfuß. Mach deinem Namen
Ehre!", versuchte Pippin ihn zu ermuntern.
Borko deutete mit der Hand nach Osten.
"Der Wald wird nicht lichter, sondern immer
dichter. Der Felsen wird immer höher. Es kann noch lange dauern, bis
wir hier herauskommen", jammerte er und machte keine Anstalten aufzustehen.
Pippin war ebenfalls müde und hatte keine
Lust zu streiten.
"Ich denke nicht, dass du alleine im Wald
bleiben willst, wenn es dunkel wird. Wenn es sein muss, kann man an einem
einzigen Tag noch viel weiter gehen, nicht wahr Merry?", sagte er, drehte
Borko den Rücken zu und ging weiter.
Merry fühlte sich an den schrecklichen
Marsch mit den Orks über die weiten Ebenen Rohans erinnert und
nickte. Er bot Borko die Hand, der diese ergriff, und zog ihn hoch. Schweigend
gingen sie hinter Pippin her.
© Dietmar
Preuß
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bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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