Das "Gästehaus" entpuppte sich als ein zerbrechlich
wirkender Pavillon in luftiger Höhe, verborgen von den Ästen
eines riesigen Tula-Baumes. Wenn man wußte, wo man es zu suchen hatte,
war es nicht schwer zu entdecken, aber da sie noch nie danach Ausschau
gehalten hatten, war es Kia und Monrav bei ihren bisherigen Streifzügen
nicht aufgefallen. Jetzt standen sie davor und fragten sich, wie sie das
Gästehaus wohl erreichen sollten, denn der Stamm der Tula war zu dick
und zu glatt, um daran empor zu klettern. Und die ersten Seitenäste
zeigten sich auch erst in schwindelerregender Höhe.
Zu Kias und Monravs großem Erstaunen führte
Notiar sie an der Tula vorbei und weiter in den Wald hinein. Und irgendwann,
als sie im dichten Unterholz bereits jede Orientierung verloren hatten,
begann der Aufstieg: Ein einsamer Findling bildete den Anfang. Von seiner
Oberseite gelangte man auf den tief hängenden Ast einer Setana und
von dort weiter auf den nächsten Baum.
So wand sich der Weg von Ast zu Ast und von Baum zu Baum,
bis sie schließlich das Gästehaus erreichten.
"Ich komme mir vor, wie ein Eichhörnchen", meinte
Kia, als sie schließlich die Plattform erreicht hatten. "Jetzt wundert
mich nicht mehr, warum so selten ein Mensch je ein Elbenhaus von innen
gesehen hat."
"Das liegt wohl eher daran, daß wir Elben nicht
jeden in unsere Häuser lassen", erwiderte Gwydion. "Aber dieses
Haus liegt auch sehr weit von unseren Siedlungen entfernt, und diese Treppe
ist einfach leichter zu warten als ein komplizierter Mechanismus."
"Ihr nennt diese Kletterpartie also allen Ernstes eine
Treppe?" wollte Monrav wissen.
"Aber sicher! Und eine recht einfache noch dazu", erwiderte
Notiar. "Schließlich sind nicht alle unsere Gäste von unserm
Volk. Aber tretet ein, denn wir haben noch eine ganze Menge zu besprechen."
Grün-goldenes Licht empfing sie im Innern des Pavillons,
der viel geräumiger wirkte, als es von außen den Anschein gehabt
hatte. Die Einrichtung war für Elben-Verhältnisse sicher
ziemlich einfach gehalten, wirkte auf Kia und Monrav nichts desto weniger
recht exotisch. Da gab es geschnitzte Verzierungen, die aussahen wie Zweige
und Blätter einerseits und Zweige und Blätter andererseits, die
aussahen, als wüchsen sie nur zur Zierde mitten im Haus. Viele Gegenstände,
die sie sah, konnte Kia nicht einordnen, aber einige erinnerten sie an
die Apparaturen, die sie während ihrer Magier-Ausbildung benutzt hatte.
"Befaßt Ihr Euch denn auch mit Magie?" fragte sie
Notiar.
"Nicht wirklich", antwortete dieser ausweichend. "Ich
beherrsche nur ein paar einfache Tricks. Aber das tut hier nichts zur Sache."
"Ja", schaltete sich jetzt auch Monrav wieder ein, "um
was geht es denn überhaupt? Können wir das jetzt vielleicht endlich
erfahren?"
Notiar bat sie, sich zu setzen, denn dies, so sagte er,
sei eine längere Geschichte:
"Die Elben", begann er, "gehen selten den geraden Weg.
Schon daß wir hier mit euch reden, wird uns die Mißbilligung
des Rates einbringen. Es gibt kein Beispiel in unserer langen Geschichte,
für das, was ich zu tun beabsichtige. Denn noch nie, soweit unsere
Aufzeichnungen reichen, haben die Elben Menschen um Rat oder Hilfe gebeten.
Doch ich fürchte, es bleibt uns keine andere Wahl."
"Das klingt ja alles recht geheimnisvoll", warf Kia ein.
"Aber worum geht es denn nun eigentlich?"
Notiar waren diese Art Fragen sichtlich unangenehm. Er
antwortete ausweichend: "Ihr habt natürlich das Recht zu erfahren,
um was es geht. Und wir können euch auch nur um eure Hilfe bitten,
aber Tatsache ist leider auch, daß ich euch nicht allzuviel sagen
darf. Der Rat äußerte die Befürchtung, daß ein Zuviel
an Wissen eure Aufgabe von vornherein zum Scheitern verurteilen würde.
Und nach allem, was ich weiß, sind diese Befürchtungen nicht
ganz unbegründet."
Monrav ertappte sich dabei, daß er den Mund schließen
mußte. "Verstehe ich das richtig? Ihr bittet uns um Hilfe und es
ist euch wichtig genug, um mit alten Elbentraditionen zu brechen. Aber
ihr wollt uns nicht sagen, was wir für euch tun sollen?"
"Ich wußte, es würde nicht funktionieren!"
warf Gwydion ein und ihre grünen Augen blinzelten Notiar verschwörerisch
zu. "Wir hätten diese Angelegenheit doch selbst regeln sollen!"
"Nein!" wies Notiar sie unerwartet heftig zurecht. "Versuch
nicht, sie zu manipulieren. Sie sollen selbst entscheiden, ob sie diese
Aufgabe übernehmen wollen." Und an Kia und Monrav gewandt: "Und zu
euch will ich versuchen, so offen wie möglich zu sein. Es geht - im
weitesten Sinne - um Raub oder Diebstahl. Wie immer ihr es nennen mögt.
Jemand, oder etwas, beraubt die Elben. Nehmt hier zum Beispiel Gwydion:
Sie war eine unserer besten Bogenschützen. Und nun, von einem Tag
auf den andern kann sie keine beweglichen Ziele mehr treffen! Leider habe
ich das Gefühl, daß sie nicht die einzige bleiben wird und daß
wir dieses merkwürdige Phänomen alleine nicht schnell genug
ergründen können. Mehr darf ich euch darüber aber nun wirklich
nicht sagen."
"Und warum glaubt Ihr, daß ausgerechnet wir euch
bei euren Problemen helfen können?" wollte Kia wissen.
"Um ganz ehrlich zu sein"„ antwortete Notiar, "ist es
nur so ein Gefühl, das mich verfolgt, seit ich vor einigen Jahren
zwei Menschenkinder in unserm Wald fand. Und vielleicht der Glaube an eine
alte Prophezeiung..."
"Und mir sagst du, ich soll sie nicht beeinflussen!"
Gwydion zog einen Schmollmund. "Wie wär’s denn jetzt mit noch ein
paar geheimnisvollen Ritualen? Wir könnten vielleicht das Orakel befragen..."
Notiar sah sie missbilligend an. "Glaubt mir, die Angelegenheit
ist viel zu Ernst, um damit zu scherzen." Und zu Kia und Monrav gewandt
fügte er hinzu: "Es ist uns durchaus bewußt, daß ihr andere
Pläne und Verpflichtungen habt und ich möchte euch auch nicht
bitten, auf meine wagen Hinweise hin euer bisheriges Leben völlig
umzukrempeln. Aber ihr würdet mir und allen Elben einen riesigen Gefallen
tun, wenn ihr euch bei den Menschen einmal etwas genauer umhören könntet.
Vielleicht gibt es ja bei euch ähnliche Fälle. Jemanden der plötzlich
auf unerklärliche Weise seine Fähigkeiten verliert. Oder das
Gegenteil: Jemand der plötzlich Dinge vermag, die man ihm nie zugetraut
hätte..."
"Wir sollen für euch spionieren!" Monrav war platt.
Was immer man ihm über die Elben erzählt hatte, bekam nun einen
Riss. Wer hätte je gedacht, dass sich die einstigen Helden seiner
kindlichen Phantasien mit derart profanen Dingen abgeben könnten.
Immerhin, Notiar schien das Gespräch immer unangenehmer zu werden,
falls man das überhaupt noch sagen konnte. Kia dagegen schien wenig
beeindruckt. Überhaupt schien es Monrav, als habe sie viel von ihrem
Glauben an die Magie der Elben verloren, seit den Tagen, als sie beide
Kinder waren. Oder hatte ihre Magierausbildung dazu geführt, dass
sie nur noch das Handwerk in der Magie sehen konnte und nicht mehr ihren
Zauber? Fast meinte er zu wissen, was sie ihm sagen würde, wenn er
sie nach ihrem Kommentar fragen würde: "Die Elben müssen eben
auch sehen, wo sie bleiben." Wo war da der Zauber alter Tage. War er etwa
wirklich schon soweit, sich zu den Alten zu setzen und zu jammern: "Früher
war alles besser!"?
Monrav stieß diesen Gedanken schnell beiseite.
Nein, es war sicher besser, mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Realität
zu bleiben und sich nicht in irgendwelche Träumereien zu versteigen.
Und was wäre so schlimm daran, sich einmal gründlich umzusehen?
Schließlich sollten sie ja keine Staatsgeheimnisse ausplaudern, sondern
nur die Augen offen halten. Und er hatte gedacht, die Elben wären
über alle Vorgänge auf Íja Macár bestens informiert...
Plötzlich wurde sich Monrav bewusst, dass er aufmerksam
beobachtet wurde. Gwydion musterte ihn nachdenklich aus ihren grünen
Augen, die ihm seltsam bekannt vorkamen. "Ich könnte dich begleiten",
meinte sie nach einer Weile ganz ruhig. "Schließlich geht es hier
auch um meine Angelegenheiten."
Monrav meinte, keine Luft mehr zu bekommen und einen
endlosen Augenblick schien ihm dieser Plan überaus verlockend. Doch
dann siegte sein Verstand, denn eine Elbin auf Burg Marlm, das wäre
einfach undenkbar. Lord Varnom war nicht eben für seine Menschenfreundlichkeit
bekannt und was er mit Angehörigen anderer Rassen anstellen würde,
darüber mochte Monrav lieber nicht nachdenken. Also schlug er vor:
"Vielleicht solltest du lieber mit Kia reiten, wenn du
durchaus jemanden begleiten willst. In Baneju wirst du weit weniger Aufmerksamkeit
erregen, als in einer abgelegenen Burg. Und wenn jemand danach fragen sollte,
kannst du immer noch sagen, dass du beim "Stab" studieren möchtest.
Das wäre zwar ungewöhnlich, aber durchaus nicht undenkbar."
Gwydion schien der Gedanke sogar zu gefallen. Nur Kia
hatte wieder mal Einwände: "Und was ist mit mir? Ich werde wohl wieder
mal überhaupt nicht gefragt! Habe ich denn gesagt, dass ich mit diesem
Plan einverstanden bin? Und wie habt ihr euch das eigentlich vorgestellt?
Soll ich mit Gwydion zu meinem Vater gehen und ihm erklären, dass
meine neue Elbenfreundin jetzt in Baneju Magie studieren will? Mák
Gaut ist vielleicht ein nachsichtigerer Herrscher als dein Vater, aber
er ist nicht dumm! Er wird Fragen stellen. Und dann wird es mit unseren
Verabredungen hier vorbei sein."
Kias Ausbruch trug nur wenig dazu bei, die Stimmung zu
heben und Notiar hatte alle Hände damit zu tun, die Wogen wieder zu
glätten. Aber da weder Kia noch Monrav grundsätzlich dagegen
waren, den Elben zu helfen, wurde schließlich folgender Plan vereinbart:
Kia und Gwydion sollten auf getrennten Wegen nach Baneju zurück reiten.
Kia würde sich wieder etwas mehr der Magie zuwenden und das Waffentraining
zurückstellen. Damit hätte sie Gelegenheit, den "Stab" zu besuchen,
ohne weiteren Verdacht zu erregen.
In der Zwischenzeit würde Gwydion sich im Gasthaus
"Zum letzten Einhorn" einquartieren, einem einfachen Haus mit einem ehrlichen
Wirt. Zumindest so ehrlich, wie man es von einem Gastwirt überhaupt
erwarten kann. Auf jeden Fall würde er keine unbequemen Fragen stellen.
Auch Gwydion würde den "Stab" aufsuchen und dort wäre Gelegenheit,
sich "kennenzulernen" und über das weitere Vorgehen nachzudenken.
Monrav sollte auf die Burg Marlm zurückkehren und seinerseits die
Augen offen halten. Über die Falken wollten sie Kontakt halten und
sich beim nächsten Vollmond wieder hier treffen.
Monrav hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Doch
Kia wischte alle seine Bedenken mit einem Handstreich vom Tisch. Schließlich
könne man das Leben nicht bis in das kleinste Detail hinein vorausplanen
und müsse sich halt auch einmal auf sein Glück verlassen. Und
wenn sie jetzt nicht irgendwo anfangen würden etwas zu tun, würden
sie noch in 100 Jahren hier sitzen und über den besten Plan diskutieren.
Irgendwo leuchtete ihm ihre Argumentation ja ein, aber
dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass sie etwas wichtiges übersehen
hatten. Mit gemischten Gefühlen machten sich schließlich alle
auf den Weg, noch bevor die Nacht hereingebrochen war. Notiar blieb im
Gästehaus zurück, versunken über den Aufzeichnungen seines
Volkes. Hin und wieder nickte er mit dem Kopf. Bisher waren alle Regeln
befolgt worden.
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