Die legendären Krieger von Rohan von Benedikt Julian Behnke
1. Teil: Der Herr der Winde / 1. Buch
Der Zerfall des Reiches 8 - Hinter dicken Mauern

Die ausgemergelte Figur grinste und bewegte sich wie eine Marionette ins Licht. Er hatte schlechte Haut und sein struppiger, rostroter Bart war ungewachsen, seine Augen waren unergründlich tief und lagen in ihrem eigenen Schatten. Das Gesicht war von Narben zerfurcht und das Haar wirr und geblichen wie Stroh. Rotbraune Gewänder schlossen seine breite, hochgewachsene Figur ein und seine Arme waren dick und seine Züge kantig. Ramhad wirkte in dem feingesponnenen Licht des Mondes karg und alt, doch sein Körper war von junger Gestalt, hatte dicke, muskulöse Arme und der kleine Anhänger um seinen Hals, der einen Totenschädel darstellte, schimmerte silbern. Der Mann schnaufte und hinter seinen Augen schien sich etwas zu wandeln und der Ton, mit dem er jetzt mit dem Alten sprach, war ruhig und schlicht. "Vielleicht habt Ihr Euch bereits gefragt, warum ich komme."
Sein Gegenüber schüttelte überraschend schnell den Kopf und seine Züge blieben Starr und misstrauisch. "Nein. Ich habe mich gefragt, warum Ihr mich gefangen haltet, Wandler."
"Redet nicht so mit mir!", brach Ramhad fast zornig hervor und machte einen großen Schritt auf die klägliche Gestalt des Alten zu, während er drohend den Finger hob. "Aber ich will Eure Frage beantworten." Er zog Stuhl aus der Dunkelheit, als wäre dieser schon immer da gewesen und setzte sich darauf, so, dass er jederzeit aufspringen konnte. Seine Muskeln spannten sich und er wischte sich kurz den Schweiß von der Stirn, bevor er den anderen mit seinen unheimlichen Augen anfunkelte. "Die Eisfrau macht Euch ein Angebot, alter Mann! Nehmt an, oder verfallt wieder den Qualen des Schattenreiches."
"Was für ein Angebot, Wandler?"
Die brüchigen Augen des anderen leuchteten erregt, doch er wischte den groben Ton des Mannes mit einer endlichen Geste beiseite. "Euer Benehmen lässt zu wünschen übrig, Timotheus! Ich werde Eure Frage trotzdem beantworten."
Timotheus. Das war also sein Name. Plötzlich kam ihm die Erinnerung und es war, als hörte er seinen Namen seit vielen Jahren das erste Mal.
Als Ramhad das Wiedererkennen und die Erstaunung in den Augen und Zügen des ehemaligen Magiers sah, grinste er breit, doch es war eher eine hässliche Grimasse als ein höhnisches Lächeln. "Ach ja, Euer Name. Auch das gehört in einem gewissen Bezug zu Melwioras Angebot." Er wartete einen Augenblick. "Stimmt Ihr nun zu?"
"Was für ein Angebot?", fragte der Alte forsch, doch eine plötzliche Gefühlsregung des Wandlers ließ ihn zusammenzucken. In seinen Augen schimmerte für einen Moment Angst.
"Ihr habt keinen Recht, danach zu fragen! Doch ich sage es Euch trotzdem!" Er beugte sich leicht vor. "In Euch schlummert eine große Macht, die Ihr glaubtet entdeckt zu haben. Doch Ihr habt Euch geirrt, Alter! Genau so wie Ihr Euch mit der Anzahl der Tage in diesem Verließ geirrt habt!"
Timotheus stutzte. War er wirklich schon so alt, dass er sich in der Schätzung von Jahren irrte? Aber er hatte sich auch nicht an seinen Namen erinnert. Also warum sollte er sich dann an die genaue Zeit erinnern? Er hatte Mühe, sein Verlangen nach dem Wissen nicht preiszugeben, denn das würde Ramhad - wenn er wirklich so hieß - sofort bemerken und ausnutzen. Er erwog den Gedanken mehrmals und kam zu dem Schluss, dass dies längst nicht alles sein konnte, was der Wandler ihm zu sagen hatte. Was wollte er ihm anbieten? Was könnte für ihn noch in seinem Alter für Belang sein? Er wusste nicht was er sagen sollte. Waren seine ganzen Erinnerungen an die vorangegangenen Tage etwa falsch? Hatte Ramhad ihn nur glaubend gemacht, um ihn für eine gewisse Zeit außer Gefecht zu setzen? Die Fragen drängten und reihten sich eng hinter seiner Stirn auf und ein bedrängender Schmerz durchlief sein Haupt, sodass er für einen kurzen Moment das Gesicht zu einer Grimasse ziehen musste. Was passierte da draußen, was er nicht verstand? Und was war der Sinn dieses ganzen Komplotts? Warum wurde dieses Vereinigung geschaffen?
"Timotheus!" Der Mann schrie fast und schon holte seine klotzige Hand aus, um ihn zu schlagen. Doch dann verharrte er einige Minuten so und nahm schließlich die drohende Geste herab. Er atmete tief durch. "Ich merke, Ihr wollt erst einmal darüber nachdenken, was jetzt alles ans Tageslicht getreten ist. Nun gut." Er schürzte die Lippen. "Ich werde demnächst wiederkommen. Wartete nicht auf mich. Ich komme, wann es mir beliebt und wann ich denke, dass es Euch soweit wieder gut geht." Dann bemerkte er den flehenden Blick in den fast blinden Augen und etwas keimte in ihm auf, das der Kerkermeister zuvor noch nicht gekannt hatte. "Ich mache Euch einen weiteren Vorschlag." Der Alte Mann schien aller Hoffnung beraubt, die anfängliche Stärke war verflossen und nun wehten nur noch vorsichtige Luftzüge auf den großen Kerl zu. Zu schnell würde er vergehen, wenn man ihm nicht helfen würde, dachte Ramhad. Er hat nicht damit gerechnet, dass es etwas gab, was seine Gegner von ihm wussten, das er nicht einmal selber wusste und somit wäre seine Abwehr durchbrochen, seine Verteidigung geschlagen. Es würde wirklich mit ihm zuende gehen, wenn jetzt nichts dagegen unternommen werden kann. Der einfältige Alte hatte ihn herausgefordert, und er hatte gesiegt, nun sollte er als guter Gewinner dem Verlierer neue Hoffnungen machen, also sagte er, als sich der wie zu Stein erstarrte Blick Timotheus’ erhob: "Ich werde dir erlauben dich im Hof umzusehen und dort wirst du mit einigen meiner Männer reden. Ich glaube, etwas Bewegung würde dir nicht schaden. Trainiere mit einem von ihnen, wenn du willst, erlange die verlorene Kraft neu. Aber," Drohend hob er den Finger, während er bereits wieder aufgestanden war. "gehe nie bei Nacht nach draußen!" Ramhad verschwand so schnell, wie er gekommen war, einen Wimpernschlag lang stand er in im Schatten der Tür und verschmolz dann mit dem rauen Stein und der Nacht. Timotheus verspürte einen kühlen Luftzug, als Ramhad verschwand.
Jetzt dachte er, dass er den Wandler nicht hätte gehen lassen sollen, sondern ihn so lange hinhalten, bis er ihm das Rätsel freiwillig verriet, ohne, dass er auch nur in irgendeiner Weise etwas versprechen musste. 
Die Nacht war lang und der ehemalige Zauberer fröstelte leicht und konnte nicht schlafen, dafür war er viel zu erregt. Er saß dort immer noch im Schatten, die knorrigen Hände wie Wurzeln starr übereinandergelegt, die Beine angezogen und den Blick auf die Wand gerichtet, in welcher der Kerkermeister verschwunden war, als sich wieder etwas bewegte, ein ungenauer Schemen.
Diesmal kam die Herrin selbst...

Blut rann, tropfte in dünnen Schnüren von der Spitze des silbernen Schwertes herab und tränkte die Erde, verlief sich in seltsamen Mustern mit etwas Schleimigem. Schwer ging sein Atem, kraftlos waren seine Bewegungen und zerrissen seine Kleider. Hatte er gewonnen? Hatte er es geschafft? Hatte er die heranbrechenden Dämonen besiegt? Er glaubte es nicht. Wenn er sich recht erinnerte, waren es mehrere Duzend gewesen, die da auf ihn eingedroschen hatten. Konnte es sein, dass er noch lebte? Die blütenweißen, kurzgeschnittenen Haare waren rot gefärbt, dort, wo die Kopfhaut verletzt war, sein Gewischt schweißbedeckt und dreck- und blutverschmiert, in seinen Augen herrschte ein ungläubiger Ausdruck. Hatte er es wirklich ganz allein geschafft, sich gegen diese Überzahl an Gegnern zu wehren? Er versuchte sich zurückzuerinnern, und während er das tat, wurde seine Brust von Schmerzen gepeinigt, die tief darin eindrangen. Seine Zähne waren verbissen, als er über den unmöglichen Kampf nachdachte. In ihm kamen Bilder der Schlacht hervor, wie er sich durch die Dämonen schlug, wie ein Schiff, das sich seinen Weg durch den Sturm bahnte. Es war viel Blut vergossen worden, schon wieder, und schließlich hatte er gewonnen. Klauen hatten nach ihm gegriffen, ihn aber nicht erreichen können, da die Wut ihn ausgedörrt und der Verlust ihn gehärtet hatte. Wie ein unsichtbarer Schatten war er unter seine Feinde getreten, hatte einen nach dem anderen zu Boden gerungen und stand nun noch als einziger. Um ihn herum häuften sich die toten Leiber. Allesamt waren sie steingrau und ihre Gesichter waren grausam und schmerzlich verzerrt. Sie waren aufgeschlitzt, geköpft oder erstochen. Übelkeit kroch in ihm hoch wie eine Woge heißer, schäumender Dickflüssigkeit. Doch er übergab sich nicht, sondern schluckte die Galle tapfer herunter. In seiner Kehle brannte es und er unterdrückte ein Husten, zu dem ihn sein Körper zwang. Noch nie zuvor hatte er so einen Kampf erlebt. Die Wandler waren gekommen und er hatte sie vernichtet, sich wie eine weiße Wand der himmlischen Reinheit ihnen entgegen gestellt und ihnen seine Art der Magie beigezollt. Waffen und tote Körper, zerschlissene Kleidungstücke und zerbrochene Äste und Stämme lagen um ihn herum und er atmete einmal tief ein. Es roch nicht nach Tod oder Verwesung, denn der Regen hatte all den dämonischen Schleim und das Blut und den stickigen Geruch fortgespült. Einzig und allein die reinliche Luft war geblieben, die kühle Frische der Nacht hatte sich mit Tau über alles gelegt und sanfte Nebel strichen zwischen den knorrigen Stämmen der Bäume hindurch. Das erfrischende Nass hatte sich nach einigen Minuten gelegt und prasselte nun nicht mehr aus der schwarzen Decke der Wolken. Stattdessen hatte sich der Nachthimmel geöffnet und ein weiter, samtener, schwarzer Mantel war zum Vorschein gekommen, ein Umhang, gewebt aus den silberweißen Gestirnen und den unendlichen Weiten des Weltalls. 
Unendlich...
Er sprach das Wort mehrere Male im Geist nach. Ob es in einen dieser unzähligen Welten da draußen wohl etwas anderes als nur Grausamkeit, Krieg und Tod gab?
Freiheit...
Geborgenheit...
Liebe...
Er lächelte, als er über seine eigenen Worte stolperte. Liebe. Er hatte sie nie besessen, keine hatte je sein Herz genommen, oder sich mit ihm vereinigt. Und er wollte es auch nicht. Er war keiner von denen, welche die Welt nahmen wie sie war und in ihr lebten, so grausig sie auch sein mochte; er war einer von denen, die an etwas glaubten, an eine gute, ausgewogene Welt, in der Frieden herrschte. Und darum wollte er kämpfen. Dies war sein Antrieb, dies seine Zuflucht und dies sein Zuhause, der Kampf um den Frieden und die Freiheit. Sein Schwur galt noch immer. Auch hatte er geschworen zu verteidigen, zu schützen und genau jetzt fiel ihm wieder ein, was er vor einigen Stunden geschworen hatte.
Tränen der Wut und des Zorns stiegen in ihm auf, doch er schluckte sie unachtsam hinunter. Der Drache war gestorben, ohne erlöst zu werden, unter Schmerzen hatte er geschrieen, während Josias sich einen Weg durch die Schlachtenden gebahnt hatte. Er hatte sie vertreiben wollen und es war ihm gelungen, doch ganz anders, als er sich es vorgestellt hatte. Seien Hoffnung hatte bei ihm darin bestanden, den Feind besiegen zu können, noch bevor dieser den Gehörnten erreicht hatten, doch es waren zu viele gewesen und bald hatten sie sich an ihm vorbeigeschoben und sich auf den rotschuppigen Leib des Drachen gestürzt. Kajetan war hinterhergelaufen und hatte ihnen mit mächtigen Schwerthieben nachgesetzt, doch alle waren sie ihm entkommen und das edle Tier war jetzt nur noch Material für Nahrung und Rüstungen.
Er ging zu der Stelle zurück, an der das unergründliche Wesen immer noch lag und dessen Brust sich nicht mehr hob und senkte. Getroffen war es von einer Lanze, einem stählernen Speer, der sich tief in seine Haut gebohrt hatte, bis er den Drachen schließlich durchstoßen hatte. Als er drüben angekommen war, betrachtete er noch einige Sekunden den riesigen, beeindruckenden Leib und kniete sich dann in den Schlamm, zog ein schlankes Messer aus seinem Gürtel und stieß es fast vorsichtig in den harten Schuppenpanzer. Er schnitt sich ein großes Stück der Drachenrüstung heraus und betrachtete das gewichtige Gebilde. Pfützen dienten ihm dazu, es zu waschen und mit feinen Lederriemen bastelte er sich eine Weste aus der Haut. Sie würde ihn besser vor Angriffen schützen, als alles andere, und genau das war es, was er auf seiner gefährlichen Reise brauchte, einen Schutz vor den mit feinem Gift überzogenen Klauen der Monster. Bald würde es gefährlichere als diese einfachen Gegner geben, denn die Schatten würden aus den Tiefen des Hel aufsteigen und ihre rauchigen Gestalten würden sich zu unzerstörbaren Dämonenkörpern wandeln und sie würden schwarz und allwissend sein. Sie würden durch Gedankensprache kommunizieren können und ihre Kraft würde um einiges stärker sein als die eines normalen Tieflanddämonen, auch wenn dieser von Riagoth gestärkt worden war.
Und es würde nur wenige geben, die sich den Ungeheuern in den Weg stellen würden, denn die meisten würden ausgelöscht werden, bevor sie auch nur ansatzweise wussten, wie ihnen geschah. Bereits auch nur das Erahnen der Gegenwart des Todes würde für viele den schiere Abgrund bedeuten und sie würden fliehen und schleunigst das Weite suchen. Das Heer der Menschen würde weiter zerfallen und die ganze Welt würde dem Untergang geweiht sein. Man würde Hilfe von Außerhalb brauchen, um den Feind zu bezwingen und wieder zurück hinter die Grenzen seines dunklen Landes zu schieben. Doch das letzte Bündnis der Elfen, Menschen und Zwerge war lange her, die Gnome und Trolle waren auf unerklärliche Weise plötzlich verschwunden... Oder hatte man einfach nur vergessen nach ihnen zu suchen? Hatte man es unterlassen nach Hilfe zu fragen? Sollten die Menschen etwa in ihre Einstellung zurückgefallen sein, die sie vor dieser Zeit gehabt hatten, wieder eigennützig und von zu großem Stolz beherrscht? Natürlich, er hatte es auch so gewusst, und er musste fast darüber lachen. Er selbst hatte jene bekämpft, die eine ein neues Bündnis wollten. Aber er hatte sie nur töten müssen, da sie mit ihrer Einstellung Gesetzlose geworden waren und Verbrechen begangen hatten. Darum mussten sie verschwinden, nicht wegen dem Wunsch in Einigkeit zu leben.
Während er dachte, trug er trockene Holzscheite heran - was schon schwer genug war, da alles vom Regen völlig überschwemmt war - und entzündete sich ein kleines Feuer, keine zwanzig Schritte von dem Drachen entfernt, unter dem Baldachin der Äste einer Pappel. Schon nach weniger Zeit knisterte es laut und die Flammen stiegen höher, Rauch schwebte zärtlich und in Gestalten von Geistern hoch, dunstig und neblig, während die Dunkelheit um ihn herum langsam der Morgendämmerung wich. Er aß gedörrtes Fleisch und trank warmes Bier aus seinem Trinkschlauch, der ihm an einem ledernen Band um die Brust geschlungen war. Dabei stellte er sich vor, wie es wohl wäre, wenn sie heute alle versammelt hier sitzen würden und das Fleisch braten würden, Rone, Kelt, Dario und der Rest seiner Truppe. Er dachte an Twron, den Flugreiter, und daran, dass dieser sich freiwillig in den Tod gestürzt hatte, um ihnen zu helfen. Und im gleichen Moment fragte er sich, was seine Aufgabe in diesem riesigen, nie enden wollenden Spiel war.
Und plötzlich vernahm er über dem Geräusch der knisternden Flammen, des Feuers, das Zerknacken von kleinen, morschen Hölzchen am Boden und sah auf. Das Licht der goldenen Blätter und des nebelige Schwarz des Rauches verschwand aus seinen Augen und er sah einen Mann, dessen breitschultrige Gestalt aus den Schatten und der Dunkelheit ragte, gekleidet in braune und scharlachrote Gewänder. Sein Gesichtsaudruck war hart und seine Haut wie aus Fels geschlagen, grob und kantig.
"Wer seid Ihr?", fragte Kajetan griesgrämig und wandte sein Gesicht nun ganz von dem kleinen Lagerfeuer auf, das mit Steinen eingekreist war, um die Flammen nicht auf den Wald überschlagen zu lassen. "Und woher kommt Ihr? Diese Gegend ist gefährlich."
"Ich bin Ramhad", sagte der Mann ausdruckslos, "und ich bin gekommen, um Euch etwas zu fragen." Er trat einige Schritte näher und blieb dann wieder stehen. Sein Umhang flatterte leicht in der Brise der grauen Morgendämmerung und seine Laterne warf einen sanften Schein auf ihn, ließ ihn in einem warmen Licht erscheinen.
Kajetan bot ihm mit der einen Hand einen Platz neben sich am Feuer an. "Setzt Euch."
Er klang freundlich, doch das gefiel Ramhad nicht. Vorsichtig trat er weiter zu ihm heran, zögerte jedoch. Der Morgen war nicht sein Freund, und der Tag noch weniger, die Nacht war es, die er suchte. Er mochte den hünenhaften Führer nicht. Es konnte passieren, dass dieser zu einem ernsten Gegner werden würde, denn trotz der vielen Wunden und Verletzungen und des Giftes der Dämonen schien er unverletzt und noch immer stark. "Habt Ihr die da getötet?" Seine Augen streiften ohne jegliche Regung die toten Körper der steingrauen Wesen, betrachtete ihr grobes, faltiges Hautrelief und die unzähligen Narben einer Schwertklinge.
Josias folgte dem gleichgültigen Blick des anderen. "Nein.", sagte er endlich. Er hätte nicht gedacht, dass er das sagen würde und er hatte es nur aus einem Reflex heraus getan. In ihm ging etwas vor, was er nicht verstand und das verwirrte ihn. Doch hatte er das Gefühl, dass seine Antwort gegenüber des Fremden richtig war. Etwas wollte ganz einfach nicht in ihm, dass dieser seltsame Ramhad alles erfuhr, denn er wirkte auf eine gewisse Weise unheimlich hart und selbstsicher.
"Ich glaube Euch.", gestand der Fremde nach einiger Zeit und trat zu Kajetan, stellte sich aber auf die andere Seite des Feuers und seine seltsame Gestalt, die der einer Vogelscheuche glich, verzerrte sich in der Hitze, verschwamm wie eine Fatahmorgana, nur etwas Schwarzes schien zu bleiben und zwei rote Funken, die aus der Dunkelheit starrten. "Was macht Ihr hier draußen?"
Der Truppführer zog die eine Braue hoch, als sich die Stimme seines Gegenübers erhob, und wie Gesang zu ihm herüber schwebte. "Ist das Eure Frage an mich?" Ramhad nickte langsam und sah Kajetan prüfend an, schätzte ab, ob es immer noch ein ernst zu nehmender Gegner war. "Gut. Ich will sie Euch beantworten." Er stockte. Bis jetzt war alles einfach so passiert, ohne dass er viel hätte nachdenken müssen, doch seine eigene schnelle Antwort hatte ihn verwirrt. Er hatte keine Lösung. Was sollte er dem Mann erzählen?
Vogelscheuche lächelte wissend und leicht amüsiert, dann schüttelte er den Kopf. "Ihr braucht mir die Antwort nicht sagen. Es gibt viele hier, die auf einer heiligen Mission sind und die nichts darüber erzählen wollen. Und außerdem" Sein Grinsen wandelte sich zu einer unschönen Fratze. "kenne ich das Ergebnis bereits. Kommt mit. Ich werde Euch führen." Er stieg davon, tauchte in die Blätter und den dunstigen Nebel der Dämmerung ein wie durch eine Wand, geriet außer Sicht, nur das stetige Auf- und Abschwellen des Lichtes seiner Laterne brannte, eine kleine Sonne zwischen den Blättern.
Josias erhob sich vorsichtig. Was wollte dieser Mann von ihm? Kurz sah er zu seinen Sachen, kniete sich dann aber vor einen der Rucksäcke. Schnell tauschte er sein schweres Breitschwert gegen einen etwas zu lang geratenen Dolch, dessen Klinge die Runen und Schriftzeichen der Elfen aufwies. Er ging schnell und behielt das wandernde Licht im Auge, während sich sein Weg durch das von Felsgestein zerklüftete Hügelland zog. Der Baumbestand wechselte im Morgengrauen von den Eschen zu Fichten und dichten Nadelwäldern über und der Boden unter seinen Füßen wurde steiniger und bald verschwand auch das sumpfähnliche Terrain. Er erklomm einen Hügel, der nur lichte von den hochragenden Bäumen bewachsen war und auf diesem dünnes Hochgras* wuchs. Jetzt sah er den seltsamen Mann wieder. Er stand nur wenige Yard über ihm auf der Hügelkuppe, die Laterne immer noch in Händen, und starrte fast wie gebannt auf eine staubige Stelle am Boden, die ohne jeglichen Grasbewuchs war. Ein schmaler Trampelpfad führte von dort aus den Südhang hinunter, der von den sonderbaren Gräsern ganz eingenommen war. Dahinter erhob sich grau und majestätisch das Massiv der Berge, die sich wie eine riesige Barriere vor den rot, braun und goldenen Farben der ewigen Herbstwälder erhoben.
Ramhad blickte zu Josias hinunter und in seinen Augen stand stille Bedrängnis. "Komm nach oben", sagte er ruhig, "und schau, was sich dir bietet!"
Kajetan setzte sich in Bewegung, er war etwas außer Atem, doch kein Schweiß hatte sich auf seine Stirn gelegt, denn er war das Laufen durch den Wald gewöhnt. Das Hochgras umstrich sanft seine Beine, als er mit weit ausgreifenden Schritten nach oben trat. Ramhad wartete noch immer, den Blick auf den Kommenden gerichtet. Es war bereits Vormittag und die Sonne schien von Osten her wärmend auf das Land, das gerade aus den Falten des Schlafes und der Nacht erwachte.
Die Zeit für Ramhad rückte ab, denn er würde die kommenden Strahlen der Sonne nicht mit freundlicher Miene begrüßen können. Seine Laterne flackerte und das Licht darin drohte auszugehen. Das Licht würde Dinge an den Tag bringen, die er lieber für sich alleine behalten und dem Anderen auf keinen Fall preisgeben wollte. "Sie hinab.", sagte er schließlich, und deutete mit dem ausgestreckten Finger in das Licht; noch war es in den Wäldern kühl und schattig. Der Feldherr tat wie ihm geheißen und blickte hinaus. "Gehe nach Süden und erreiche die Elfen. Bringe sie in die Wälder des Westens zurück." Das Licht erlosch und der breitschultrige Mann lächelte überheblich, dann glitt er in den Schatten und seine Gestalt löste sich so schnell in der Schwärze auf, wie die letzten Töne eines Liedes verklingen.
Josias blickte noch immer schweigend auf das Gebiet der Wälder herab. Es war nicht mehr weit. Noch höchstens dieser Tag und er würde das Massiv und damit auch die roten Wälder erreichen. Die Elfen würden ihn begrüßen, und er würde um Hilfe bitten können. War das sein neuer Weg? Sollte er das Land etwa auf der Suche nach den Waldelfen durchstreifen, sollte er Rones Vorfahren finden? Nun gut, bestätigte er sich. Er würde gehen. Und er würde finden, was er suchte. Es sah so aus, als wären die Tage der letzten Stunde Melwioras längst geschehen, doch die Wahrheit blieb noch im Verborgenen und so konnte Kajetan nichts anderes als hoffen und auf die anderen vertrauen.

Als das Licht, gefasst in einen übergroßen, gleißenden Ball über dem Horizont pulsierte und alle Dämonen und Schattenwesen in die Tiefen der Dunkelheit und des Schattens vertrieb, waren Thronn und die anderen schon längst ins Brunnenhaus hinabgestiegen. Während sie die eiskalten, stählernen Sprossen der Leiter, welche fest zwischen den Steinen verankert war, in die Tiefe hinunterstiegen, hatte Thron ein merkwürdiges Gefühl, als würde die Linie der heimlichen Helfer zerbrechen und sie Riagoth einen Einblick in ihre Köpfe gewähren. Verzweifelt versuchte er einen Moment lang an nichts zu denken, bevor ihm klar wurde, dass dies eigentlich leicht war. Er musste einfach auf eine Stelle starren und sie genau betrachten, ohne sich vorzustellen, was passieren könnte oder würde, er musste sich einfach Ablenkung verschaffen. Er betrachtete die Wand, die Steine, die von dem Grau des Mörtels gehalten wurden und der schon an einigen Stellen abgebröckelt war. Sein blick wanderte an der Wand des Brunnenschachtes entlang, streifte die Stellen, welche dem Stein beraubt waren und an denen, wo sich die Abdrücke von Schwertklingen zeigten, die noch aus der Zeit stammten, als sich die letzten Überlebenden in das Dunkel der Gänge gerettet hatten. Schließlich gab er es auf, da auch nur der kleinste Kiesel in ihm Erinnerungen weckte und er hoffte inständig, dass keiner von Riagoths Schergen oder auch nur sie selbst über die Kräfte verfügte in anderer Leute Gehirn zu sehen. Unter ihm waren die Geräusche seiner Stiefel auf dem Metall und noch weiter unten hörte er den Atem Kelts, schwer und angestrengt.
"Hexer, kannst du sehen, wie weit es noch ist?" Die Stimme des Zwerges hallte in den Schächten, aus denen das Geräusch von tropfendem Regenwasser auf Felsgestein zu vernehmen war.
"Nur noch wenige Yard!", antwortete ihm Arth an der Stelle des Grenzländers und aus seinem Ton konnte man heraushören, dass es auch ihn anstrengte, so viele Yard in die Tiefe zu klettern. Unter ihnen und über ihnen lagen Schatten, undurchdringlich und finster hatten sie sich über alles gelegt und von unten zog ihnen der Geruch von Fäulnis und Exkrementen entgegen, der schwere Gruftwind war alles, was sie hörten, ein vages auf- und abschwellendes Rauschen und Heulen. "Es wundert mich, dass wir keine Stimmen hören und die Fackeln alle aus sind. In der Zeit, bevor ich nach oben gestiegen bin, um nach den letzten Überlebenden zu suchen, brannten Fackeln und erhellten die unterirdischen Tunnel in fast königlichem Licht!" Erstaunen breitete sich nun sichtbar auf seinem Gesicht aus und die Schatten um sie herum schienen dichter zu werden, das flackernde Licht der Fackel schrumpfte, und was blieb war ein Funken, ein kleines Leuchten.
Als sie endlich Boden unter den Füßen spürten, waren die Geräusche und Töne der Gruft lauter geworden, der Stein an den Wänden war nun nicht mehr von Menschenhand behauen, sondern von der Natur geschaffen. Sie sahen ein steinernes Portal, das im grauen Zwielicht eines Luftschachtes gehüllt lag, hinter dem die Sonne ihre Bahn nahm. Auf dem großen Torbogen standen Zeichen, die Buchstaben des alten Volkes, deren Sprache schon längst nicht mehr gesprochen wurde.
Das Geräusch von schweren Hämmern auf Stein war laut und durchdrang das tiefe Dunkel, und so wussten wir, wo der Ausgang war, das Klopfen waren die Zeichen.
Thronn hatte gerade einen Teil der Inschrift übersetzt, doch eine Vielzahl der gemeißelten Lettern war mit samt dem stützenden Fels dahinter abgeblättert, der Stein ragte nackt und unvollkommen auf.
"Wir sind da." Erklärte Arth und seine Stimmung hob sich leicht, als er das Tor im fahlen Licht des Vormittags erkannte. "Es ist des Königs Tagebuch, was hier gemeißelt ist, als er die Katakomben hatte anlegen lassen. Meridian hatte mir von ihnen erzählt." Patrinell besah sich den imposanten Steinblock. "Nicht nur das Tagebuch ist in den Gängen zu lesen,", sagte er nach einiger Zeit, "auch die Schlacht die damals geschlagen wurde, in den Schatten des blauen Gebirges. Doch die Zeit der Schattenwesen ist vorüber. Auch Rovanion hat wie hier Trishol ihre Wunden davongetragen und..." Er stockte leicht. "Aber lasst uns dies vergessen."
"Könnt Ihr uns den Weg zu einem der Keller zeigen? Wir suchen ein Haus, in dem ein Spiegel ist." Thronn hatte den Spiegel Melwioras nicht vergessen. Sie würden ihn finden und zerstörten müssen. Es gab zwar nur wenige dieser Spiegel in den Landen, doch ihre Zahl war groß genug, Melwiora würde jede Chance nutzen um weitere menschliche Diener in ihren Besitz zu bringen. Sie würde sie umwandeln, in Wesen der Dunkelheit und des Schattens und ihre Rache würde grausam sein. Für jeden Dämonen, die sie töteten, nahm sie einen der eigenen Kämpfer, einen Menschen, in ihr dunkles Reich auf. Er hoffte, dass Timotheus oder der alte Meridian ihr nicht auch in die Hände gefallen waren, denn die beiden Besagten hatten einfach zu viel Macht und die Eisfrau hatte Mittel und Wege, sie für sich zu gewinnen. Das war ihr Plan gewesen, von Anfang an.

* Hochgras: Wächst auf Hügeln und zwischen Felsen, die Farbe ist ein gedämpftes Graugrün und die Stängel sind sehr dünn und stehen oft sogar kniehoch. Ist auch nicht mit Feuer entflammbar und sehr alt, steht sogar im Winter und ernährt sich aus den Samen anderer Pflanzen. 
 

© Benedikt Julian Behnke
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Und schon geht's weiter zum 9. Kapitel: "Das unterirdische Lager"

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