Der letzte Zauberwald von Metalchild
Abschied von Freunden

„Du willst also wirklich gehen?" Quang versuchte gar nicht erst, das Schluchzen in seiner Stimme zu verbergen. „Aber warum? Du kennst diesen alten Mann doch gar nicht, und das Amulett hat er Dir doch auch nicht gestohlen. Warum läufst Du ihm hinterher und gibst das alles hier auf?" Quang machte mit seinen kleinen Ärmchen eine kreisende Bewegung und umfaßte damit das ganze Zimmer von Tharon - alle vier Wände, die nicht allzu weit auseinander standen, das Strohbett, den kleinen Tisch mit der Kerze und den Hocker. Das war alles. „Du kannst mich doch nicht einfach so alleine lassen, außerdem bist Du der beste Armdrücker der Stadt. Ohne Dich wäre ich ruckzuck arbeitslos."
„Hör’ mir mal zu, Quang." Tharons Stimme war ruhig und sanft. Betroffen legte er den Rucksack beiseite, den er gerade packte. Auch ihm fiel der Abschied nicht leicht. „Ich habe Dir doch schon oft erzählt, daß ich als kleines Kind in einem Wald gefunden wurde, nur in weiße Laken gehüllte. Und mit dem Amulett um meinem Hals. Ein alter Druide fand mich und brachte mich zu Stokan, dem Gutsbesitzer, der..." „Ich weiß, Stokan zog Dich groß wie einen eigenen Sohn, den er niemals hatte. Aber was hat das mit diesem alten Mann von vorgestern abend zu tun?" unterbrach ihn Quang.
„Laß mich doch erst einmal ausreden, mein Freund." Tharon blieb geduldig, weil er es gewohnt war, daß Quang ihn niemals ausreden ließ. Er faßte sich an seinem Kopf und drückte leicht gegen seine Schläfe, um den Schmerz loszuwerden, der ihn seit zwei Tagen plagte. An dem Abend, als dieser merkwürdige Fremdling in der Kneipe gewesen war, ist Tharon umgekippt. Wie ein nasser Sack hatte Quang ihm anschließend berichtet, sei er umgeplumst und hat mit seinem Kopf einen Stuhl zertrümmert. Sofort kamen ein paar Leute zu Hilfe und sie schleppten ihn auf sein Zimmer, wo er mehrere Stunden bewußtlos lag. Wie Quang ihm später erzählte, phantasierte er während seiner Ohnmacht. Doch Quang konnte kein Wort verstehen. Du hast irgendwie genuschelt, meinte er. Das einzige, was er verstanden hätte, wäre das Wort „Gurki" oder so ähnlich gewesen. Darüber konnte Quang sich stundenlang kaputtlachen - Gurki; was für ein Wort. Als Tharon schließlich wieder wach und bei klarem Verstand war, fing er sofort an, seine Sachen zu packen, um nach Nordergod zu reisen.
„Dieser alte Mann hat genau das selbe Amulett wie ich. Verstehst Du? Wenn es nur einen einzigen Menschen auf Krynn gibt, der mir sagen kann, woher ich komme, dann ist er es."
Quang sah wenig überzeugt aus. „Vielleicht hast Du Dir das mit dem Amulett auch nur eingebildet. Schließlich hast Du an diesem Abend einen ziemlich starken Schlag auf den Kopf bekommen..." „Nein, ich bin mir ganz sicher. Ich muß herausfinden, wer dieser Mann ist." „Dann laß mich doch mit die gehen!" Der Kendermensch, wie viele ihn nannten, setzte sein breitetest Grinsen auf, das er hatte. Die Zwergenseite in ihm war eigentlich die am wenigsten ausgeprägteste, und vor allem, was seine Gefühle anging, war er mehr Kender als sonst irgend etwas. Die Rasse der kleinen Leute, die ihr Leben lang Kindergesichter hatten und von Stadtmenschen immer etwas schief angeguckt wurden, weil sie dazu neigten, immer sehr viele Sachen von anderen Leuten zu finden, kam am stärksten im Mischling durch. Diejenigen, die ihn nicht kannten, nannten ihn schlichtweg einen Bastard, einen Gossenkender oder einen lumpigen Taschendieb. Doch wer öfters mit Quang zu tun hatte - und Tharon verbrachte fast seine gesamte Zeit mit ihm zusammen - kannte ihn als liebenswertes Geschöpf, immer hilfsbereit, wenn er auch manchmal mit der für einen Kender typischen Zerstreutheit seine Mitmenschen ziemlich auf die Nerven gehen konnte. Tharon kannte ihn nun schon etwas acht Jahre, seitdem er im Alter von 17 Jahren Storaks Hof verlassen hatte und in die nahegelegene Stadt Palanthas zog, die prachtvollste Stadt in ganz Solamnia. Storaks Hof war während dem Krieg der Lanze vor zwei Jahren fast völlig zerstört worden, und der gutseelige Bauer wurde ermordet.
Tharon gehörte zu den wenigen der Stadt, die sich freiwillig zum Heeresdienst meldeten, um gegen die Armeen der dunklen Königin zu kämpfen. In Kalaman wurde er gefangengenommen und mit vielen hundert anderen zu den Minen von Pax Tharkas gebracht.  Zu seinem Glück wurde die Festung nach ungefähr drei Wochen Gefangenschaft  gestürzt, die Gefangenen flüchteten. Viele Wochen streift Tharon alleine durch die Wälder und wurde oft von Patrouillen der Drakonier überrascht, doch schaffte er es immer, sich gegen sie zur Wehr zu setzen, bis er an Wundfieber erkrankte. Er wurde gerade noch rechtzeitig von einem Trupp Solamnischer Ritter gefunden, die ihn bis zur nächsten Siedlung brachten, wo sie ein Lazarett errichtet hatten. Hier lag er für den Rest des Krieges an das Krankenbett gefesselt.
Nachdem wieder Frieden im Land eingekehrt war, zog er los nach Palanthas, um dort ein neues Zuhause zu finden - und das hat er auch. Hier hatte er Freunde, vor allem Quang und Marik. Und er hatte einen Beruf - er arbeitete als Frachtauslader im Hafen. Durch seine Beschäftigungen abends in der Kneipe verdiente er sich immer noch etwas dazu, so daß er eigentlich ganz gut über die Runden kam. Nein, es war wirklich nicht leicht, das alles aufzugeben. 
„Es tut mir leid, wenn ich Dich enttäuschen muß, mein Freund. Ich weiß nicht genau, was mich im nördlichen Ergod erwartet, aber ich glaube, ich muß diesen Weg alleine gehen. Nach dem Mittagessen breche ich auf." Quang kannte Tharon zu gut, um jetzt noch zu versuchen, ihn umzustimmen. „Ich werde vermissen. Aber Du mußte mir versprechen, daß Du zurückkommst und mir alles erzählst." Tharon legte seine Hand auf Quangs Schulter. „Versprochen, Quang. Ich komme wieder." Quang schloß seinen Freund in die Arme - man könnte auch sagen, er hängte sich um Tharons Hüfte - und fing an zu schluchzen. „Mach’s gut, Fist." Fist - so wurde Tharon von seinen besten Freunden oft genannt. Den Spitznamen hat Quang ihn einmal gegeben, als Tharon das erste beim Armdrücken seinem Gegner die Hand gebrochen hat. Fist - Tharon hatte das ungute Gefühl, diesen Namen für längere Zeit nicht mehr zu hören. „In ein paar Wochen bin ich wieder hier, und dann erzähle ich alles." Quangs Blick neigte sich auf den Boden, dann drehte er sich um und verließ schnell das Zimmer, ohne ein weiteres Mal zurückzublicken. Draußen konnte Tharon ihn weinen hören. Armer Quang. Tharon verstand seine Gefühle nur allzu gut. Er war der einzige richtige Freund des Kendermenschen, nun würde Quang wieder allein sein - er selbst war früher auch immer allein gewesen. Mit einem tiefen Seufzer wollte Tharon weiter packen, doch dann warf er den Rucksack in eine Ecke, sackte auf das Bett und ließ seinen Tränen freien Lauf...
Als er eine halbe Stunde später i Eßsaal saß und den Teller mit frischerlegtem Wild vor sich hatte, verspürte er überhaupt keinen Hunger, doch er aß, weil er wußte, daß eine lange Reise vor ihm lag. In dem großen Raum saßen etwa 20 Leute, hauptsächlich Männer, die Tharon nicht kannte. Doch auch, wenn ein Bekannter von Tharon unter ihnen gewesen wäre, hätte Tharon ihn nicht registriert. Er saß einfach nur stumm da, starrte auf seinen Teller und aß genußlos. Eine große Hand legte sich kraftvoll auf seine Schulter. „Hallo Marik." Tharon mußte sich gar nicht erst umsehen, um den Wirt zu erkennen. „Ich habe ein Proviantpaket für Dich zusammengestellte, Fist. Wenn Du gut rationierst, kommst Du damit bestimmt eine Woche aus." Jetzt blickte Tharon ihn an. „Ich danke Dir, Marik. Wieviel bin ich Dir für das Essen und das Zimmer noch schuldig?" „Du schuldest mir nichts. Sieh einfach nur zu, daß Du irgendwann wiederkommst, und erzähle jeden, den Du unterwegs triffst, was Der Silberne Bug für eine herrliche Kneipe ist." Der dicke Mann lachte kräftig, Tharon brachte lediglich ein Lächeln hervor. „Ich werde Dich und Deine Kneipe vermissen, aber ich will nicht gehen, ohne für Deine Gastfreundschaft bezahlt zu haben. Wenn Du mein Geld nicht nimmst, wäre das ein Grund, sauer auf Dich zu sein. Und das willst Du doch nicht, oder?" Tharon hielt dem Wirt ein paar Münzen entgegen und schaute ihn finster an - ein Blick, bei dem man meinen könnte, er wollte gleich wie ein Bergtiger auf Marik losspringen. Einige andere, die die Unterhaltung mitbekommen hatten, weil Tharon zum Schluß recht laut gesprochen hatte, schauten jetzt interessiert zu ihnen herüber. Sie rechneten mit einem handfesten Streit, doch plötzlich begannen Tharon und Marik gleichzeitig, lauthals zu lachen und sich zu umarmen. „Mach’s gut, Fist. Und paß auf Dich auf." „Das werde ich, Marik. Das werde ich. Und wenn ich zurückkomme will ich ein frisches Bier auf meinem Platz vorfinden." Die beiden hielten sich noch kurz an den Schultern und blickten sich ins Gesicht, dann bückte Tharon sich, nahm seinen Rucksack und schwang ihn über seinen Rücken. „Weißt Du, wo Quang ist? Ich wollte mich noch mal von ihm verabschieden." „Nein, habt ihr euch heute morgen nicht mehr gesehen?" „Doch, doch. Ich dachte nur.. Egal. Wenn Du ihn das nächste mal siehst, dann sag ihm... - sag ihm...- sag ihm einfach, daß bald wieder da bin." Mit einem letzten Lächeln drehte Tharon sich um und verließ den Silbernen Bug.
Als er auf der Straße stand, betrachtete er das Türschild: ein silbernes Schiff, reichlich verziert, glänzte in der Sonne. Tharon versuchte, sich dieses Bild gut einzuprägen, denn irgendwie wußte er, daß er es niemals wiedersehen würde.
Niemals.
Tharon ging zum Hafen. Er mußte sich nur noch bei seinem Auftraggeber abmelden, dann würde er sich ein Schiff nehmen und direkt nach Nordergod fahren. Er rückte sich seinen Rucksack nochmal richtig zurecht, dann ging er auf die kleine Holzhütte am Kai zu und klopfte drei mal an die Tür. Eine alte, mürrische Stimme rief in barsch herein. Mit einem Seufzer ging Tharon durch die Tür. In dem kleinen Raum saß der alte Seemann zusammen mit zwei seiner Arbeitern, beide bestimmt zwei Schritt groß und breit wie Bären. „Was willst Du? Warum bist Du heute morgen nicht zur Arbeit gekommen? Rede!" Tharon hatte gar nicht die Chance, sich zu rechtfertigen. „Überhaupt kein Pflichtbewußtsein, kein Benehmen! Ab, rann an die Arbeit! Du legst heute die doppelte Schicht hin, bei halber Bezahlung! An los!" „Einen Moment Alter!" Endlich gelang es Tharon, auch mal ein Wort zu sagen. Der alte Kapitän, offenbar überrascht durch die Tatsache, daß zur Abwechslung einmal er es war, der angebrüllt wurde, wußte für einen Moment nichts mehr zu sagen. Tharon nutzte die Gelegenheit, um einmal tief Luft zu holen. „Ich bin nicht hergekommen, um mich anbrüllen zu lassen. Ich bin hier, um zu kündigen!" Jetzt war der Seemann völlig aus der Fassung. „Was? Kündigen? Du bist doch verrückt. Du weißt genau, wie schwer es ist, in dieser zeit Arbeit zu finden. Aber bitte. Geh, wenn du willst. Doch du schuldest mir eine Abfindung. Ein Silberling, und du bist frei." Genüßlich zog der alte an seiner Pfeife und wartete auf eine Reaktion Tharons. „Was für eine Abfindung? Davon stand nichts in unserem Vertrag!" Tharon wurde langsam wirklich sauer. „Oh doch. Hadek, zeig ihm den Vertrag." Einer der beiden Bären nahm eine kleine Schriftrolle und gab sie Tharon. „Vorletzte Zeile", sagte der Kapitän. Als Tharon seine Augen auf das Stück Papier richtete, gab der Seemann ein Zeichen, und Hadek schlug Tharon mit einem Schlagring ins Gesicht. Er fiel nach hinten um und konnte sich nicht rühren. Das letzte, was er hörte, waren die Stimmen der beiden Matrosen. „Man, ist der bescheuert." „Jetzt wird der mal lernen, was es heißt, richtig zu arbeiten." Tharon spürte, wie er vom Boden aufgehoben wurde, und daß letzte, was er wahrnahm, war das leichte Schlagen der Wellen an die Schiffsplanken. Dann verließ ihn sein Bewußtsein endgültig.
 
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