Geschichten von Quatzkotl von W. H. Asmek
Lilly (2)

Nach vielen Ewigkeiten verspürte sie die liebevolle Zuwendung einer Hand, die sie liebevoll streichelte, ihren Körper mit kühlem Wasser wusch und ihr eine warme, brennende Flüssigkeit einflößte, die wie flüssiges Metall ihre Kehle hinab floss. Eine starke Hand. Eine zärtliche Hand. Eine tiefe Stimme flüsterte ihr beruhigende, tröstende, aufmunternde Worte zu.
"Mutti, Vater!" hauchte Lilly erleichtert. "Ich wusste, dass ihr mich nicht im Stich lassen würdet. Ich liebe euch!" Sie fühlte sich rundum geborgen.
Von nun an umgab sie eine wohltuende Schwärze. Der Schmerz ging zurück. Das Fieber sank. Lilly schlief tief und fest. Doch die Hand und die Stimme blieben. Streichelten sie und trösteten sie. In ihrer Bewusstlosigkeit bekam sie von all dem nichts mit. Aber ihr Unterbewusstsein nahm dies alles wahr. Es begann, diese Stimme zu lieben, fühlte sich sicher und nahm den Kampf gegen das Gift im Körper auf.
Als Lilly wieder zu sich kam, brauchte sie einige Sekunden, um sich wieder zurecht zu finden. Sie erkannte den Bach, den kleinen Wald und die Wiese wieder. Aber sie war nicht allein! Eine Gruppe von sechs Männern hielt sich auch hier auf. Sie standen in der Mitte der Lichtung um eine Feuerstelle herum und es hatte ganz den Anschein, als untersuchten die Kerle ihre Habseligkeiten. Einer von ihnen hielt Palo an seinem Halfter, als würde er ihm gehören. Lilly erinnerte sich, dass sie den Schecken abgeschirrt hatte. Was fiel dem Kerl ein?
Sie richtete sich auf, was ihr sehr schwer fiel, denn sie war so schwach wie ein Säugling. Auf ihr Stöhnen hin wurden die Männer auf sie aufmerksam. Einer von ihnen schritt auf sie zu.
"Guten Morgen, junge Dame!" grüßte er freundlich. "Ausgeschlafen?"
"Ich weiß nicht so recht," gab Lilly zu. "Die Schlange war wohl doch giftiger, als ich dachte."
Sie schaute dem Mann ins Gesicht. Es war von grobem Zuschnitt und wirkte nicht sehr vertrauenserweckend.
"Habt ihr mich gesund gepflegt?" wollte sie wissen.
Der Mann antwortete zunächst nicht auf ihre Frage, sondern hielt ihr den Körper der Schlange vor die Nase. Oder vielmehr das, was inzwischen noch von ihm übrig geblieben war. Die Verwesung war schon sehr vorangeschritten. Lilly musste lange krank gewesen sein.
"War das die Schlange, die dich gebissen hat?" fragte er.
Lilly nickte zustimmend.
"Wir haben dich nicht gepflegt," erklärte der Mann nun. "Wir hätten auch nicht die notwendigen Kenntnisse dafür. Dies hier war ein Buschmeister, die wohl giftigste Schlange der Welt. Wer immer sich um dich gekümmert hat, muss entweder ein begnadeter Arzt oder ein mächtiger Magier sein. Vom Biss des Buschmeisters gibt es keine Heilung. Ich habe einst ein Schlachtross gehabt. Groß und stark wie ein Felsen, das mit seinem Huf eine Eiche spalten konnte. Als es von einem Buschmeister gebissen wurde, fiel es auf der Stelle tot um."
Er schüttelte bedauernd den Kopf, als trauere er dem Ross noch heute hinterher.
"Doch nun zu dir," richtete er seine Aufmerksamkeit nun auf Lilly. "Wie du bestimmt gemerkt hast, sind wir nicht zum Vergnügen hier. Wir leben davon, Reisende auszuplündern."
Er grinste sie überlegen an. "Man könnte uns also mit Fug und Recht als Wegelagerer bezeichnen."
Lilly unterbrach ihn.
"Ich besitze nichts, das für euch von Wert sein könnte," gab sie alarmiert zurück. Dabei war ihr der Mann schon fast sympathisch vorgekommen.
"Das habe ich schon gemerkt," gab der Bandit zurück. "Du bist sehr klein. Selbst deine Kleidung ist nur für Kinder geeignet. Ebenso dein Pferd."
Er seufzte und schüttelte den Kopf.
"Leider ändert das nichts daran, dass wir bei der Ausübung unserer Tätigkeit keine Zeugen zurücklassen dürfen. Wir müssen dich also töten."
Er winkte einem Kameraden zu, der gerade auf dem Boden hockte und Lillys Packsack untersuchte. Dieser erhob sich und kam heran.
"Dies ist Leo," erklärte der Räuber. "Er ist ein Meister im Umgang mit dem Messer. Er wird dir die Kehle durchschneiden. Du brauchst aber keine Angst zu haben, denn er wird das schnell und völlig schmerzlos machen. Wir sind ordentliche Räuber und machen unseren Job gut!"
Lilly schoss die Angst in das Herz. Es war einfach unglaublich, wie nebensächlich der Sprecher der Bande sie über ihren unmittelbar bevorstehenden Tod in Kenntnis setzte. Sie versuchte aufzustehen. Es blieb bei dem Versuch. Wenn sie nur nicht so schwach gewesen wäre!
Der Messermann ging an ihr vorbei drehte sich um und drückte ihr ein Knie in den Rücken, so dass sich ihr Oberkörper nach hinten bog. Er ergriff ihre Stirn und zog sie nach hinten, Dann setzte er einen Dolch an ihre Kehle. Gleich musste der tödliche Schnitt kommen!

***

"Lass sie los! Auf der Stelle!" erklang vom Waldrand her plötzlich eine tiefe Stimme.
Leo schnitt nicht, lockerte aber auch seinen Griff nicht. Dennoch spürte Lilly, dass der Druck auf ihrem Kehlkopf nachließ. Zitterte die Hand nicht ein wenig? Sie konnte sich auch täuschen. Sie verdrehte die Augen, um zu sehen, wer sich da gemeldet hatte.
Sie hatte einen guten Blick auf die Räuber, die alles stehen und liegen ließen und sich ganz auf den neu hinzugekommenen Sprecher konzentrierten.
Am Waldrand stand eine abenteuerliche Gestalt: Auf einem hohen weißen Ross saß ein Reiter, dessen Gesicht zum größten Teil durch die Kapuze eines purpurfarbenen Samtumhangs verdeckt wurde. Nur die Augen, die in einem düsteren Rot leuchteten, waren sichtbar. In der rechten Hand hielt er einen zepterartigen Gegenstand, an dessen Spitze eine grünliche Flamme blass flackerte. Die Spitze des Zepters hielt er auf die sechs Männer gerichtet.
Der bisherige Sprecher der Gruppe erhob auch jetzt wieder seine Stimme. Sie klang aber lange nicht mehr so sicher wie vorher. Von seiner eben noch zur Schau gestellten Abgebrühtheit war nicht mehr viel übrig geblieben.
"Verzeiht, Herr! Wir konnten nicht ahnen, dass auch Ihr ein Interesse an dieser kleinen Koboldin habt. Wenn Ihr einverstanden seid, können wir unsere armselige Beute teilen."
"Hier wird nicht geteilt!" gab der Reiter zurück und an Leo gewandt: "Wenn du sie nicht augenblicklich loslässt, wirst du keine Zeit mehr haben, es zu bereuen!"
Leo ließ Lilly so plötzlich los, als hätte er sich die Finger verbrannt.
Der Sprecher der Gruppe gab aber noch nicht auf. Mit einem wütenden Seitenblick auf Leo sagte er:
"Vergesst nicht, Ritter, wir sind sechs kräftige Männer!"
"Sechs tote Männer!" gab der Reiter zurück und erhob sein Zepter.
Da kam Leben in das Gesindel. Die Räuber schrieen auf und gaben Fersengeld, dass es eine Freude war, sie laufen zu sehen. Innerhalb von Sekunden war die Luft rein.
Der Reiter stieg von seinem Ross und kam steifbeinig auf Lilly zu. Sie war mächtig gespannt, ihn aus der Nähe zu sehen, denn sie hatte seine Stimme erkannt. Er war der, der sie gesund gepflegt hatte. Von ihm hatte sie nichts Schlimmes zu erwarten. Sie brannte darauf, ihm zu danken.
Als er näher kam, gab die Kapuze einen Blick auf sein Gesicht frei. Lilly stockte der Atem. Vor ihr stand der schönste Mann, den sie jemals gesehen hatte.

***

"Wer bist du?" fragte sie. "Wie kommt es, dass die Räuber so große Angst vor dir hatten? Hast du mich gepflegt? Wie hast du mich gefunden?" Lilly war ganz durcheinander.
Ihr Retter schmunzelte.
"Das sind aber eine Menge Fragen auf einmal!" stellte er fest. "Aber der Reihe nach. Du kannst mich Sucher nennen. Ich habe dich zufällig gefunden, als ich hier vorbeikam. Ich habe mich um dich gekümmert und freue mich, dass es dir wieder gut geht. Und die Räuber? Räuber sind in der Regel feige. Darum hatten sie solche Angst vor mir."
Er beugte sich zu ihr herunter, um mit einer Hand über ihre Wange zu streichen.
"Gut!" freute er sich. "Dein Fieber ist weg. In ein paar Tagen können wir weiterziehen."
Dann wandte er sich von ihr ab und ging zu der Feuerstelle in der Mitte der Lichtung, die ihr eben schon aufgefallen war. Er fachte die Flamme neu an und heizte damit dem Topf ein, der inmitten der Glut stand. Bald begann sein Inhalt vernehmlich zu blubbern. Sucher tunkte eine Kelle in das Gebräu, kostete vorsichtig und nickte zufrieden. Er hob den Topf an und brachte ihn zu Lilly. Er hielt ihr die bis zum Rand gefüllte Kelle an den Mund.
"Hier, Trink!" forderte er sie auf.
Lilly zögerte. Die grünliche Flüssigkeit sah weder appetitlich aus, noch roch sie besonders einladend.
"Du kannst ruhig zugreifen!" beruhigte Sucher sie. "In den vergangenen Tagen hast du eine Menge davon getrunken. Du kannst nicht sagen, dass es dir geschadet hat, oder?"
Das war also das heißkalte Zeugs, das ihr die Kehle hinuntergelaufen war.
"Was ist das?" wollte sie wissen.
"Ein Sud aus den Wurzeln der Schwarzen Alraune und verschiedenen anderen Heilkräutern. Zusammen vermögen sie selbst das stärkste Gift zu neutralisieren."
Lilly gab sich einen Ruck und trank. Wieder rann die Flüssigkeit wie glühendes Metall ihre Kehle hinunter. Kaum hatte sie ihren Schluck getan, schlief sie wieder ein. Diesmal aber war es ein ruhiger, erholsamer Schlaf, aus dem sie erfrischt und gestärkt erwachte.

***

Sucher war gerade dabei, ihre Sachen, die die Räuber bei ihrer Flucht in alle Richtungen verstreut hatten, neu zu ordnen. Er schaute sie an.
"Na, wie geht es dir?"
"Danke! Sehr gut. Ich bin kräftig genug, um meine Reise fortzusetzen," gab Lilly zurück.
Sucher schmunzelte.
"Das meinst du nur. Der Biss eines Buschmeisters ist nicht so schnell vergessen zu machen. Wo möchtest du denn so dringend hin?"
"Nach Umbra!"
Sucher wurde aufmerksam.
"Nach Umbra? Was möchtest du denn da? Ich glaube nicht, dass dies ein Land für ein Kind deines Alters ist."
"Ich bin kein Kind mehr!" gab Lilly wütend zurück. "Ich bin schon erwachsen!"
Sucher neigte erwartungsvoll den Kopf.
"Dann erzähle mir doch mal von dir und warum du nach Umbra willst."
Normalerweise war Lilly Fremden gegenüber sehr zurückhaltend. Aber Sucher hatte ihr gleich mehrfach das Leben gerettet und war darum, streng genommen, kein Fremder mehr. Es wäre sehr unhöflich gewesen, zu schweigen. Darum berichtete sie ihm von Anfang an, was es mit ihrer Reise nach Umbra auf sich hatte.
Sucher hörte ihr aufmerksam zu, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen.
"Das ist ja eine interessante Geschichte," meinte er, als sie geendet hatte. "Wenn die Weiße Alraune dir diesen Weg befohlen hat, dann hat sie auch ihre Gründe dafür."
Er beugte sich zu ihr herunter und sah ihr forschend in die Augen.
"Hmm!" brummte er. "Der weiße Fluchschimmer ist kaum noch zu erkennen. Du müsstest eigentlich schon recht gut sehen können."
Er entfernte sich von ihr, bis sie ihm mitteilte, dass sie ihn nun nicht mehr sehen konnte. Sucher nickte befriedigt.
"Deine Sichtweite beträgt 50 Meter. Das ist bereits sehr gut!"
"Wie kommt das!" wollte Lilly wissen.
"Ich tippe auf eine Wechselwirkung zwischen dem Gift des Buschmeisters und meiner Medizin," antwortete Sucher.
"Ob ich noch mehr von deiner Medizin trinken sollte?" dachte Lilly laut nach.
Doch Sucher winkte ab.
"Das wird nichts bringen. Ich halte es für einen glücklichen Zufall, dass sich deine Sehkraft verbessert hat. Gegen die Nachwirkungen eines berechtigten Fluchs kann dir auch mein Sud nicht vollständig helfen. Da ist die Macht eines größeren vonnöten."
"An wen denkst du dabei?"
"Entweder an einen Fürsten der Finsternis oder einen Traumwächter. Aber auch von diesen wird keiner den Fluch von dir nehmen, wenn er seinen Zweck noch nicht erfüllt hat."
Er dachte einen Moment nach.
"Ich glaube, ich komme mit dir und begleite dich nach Umbra."
"Kannst du das denn so einfach tun?" fragte Lilly. "Du hast doch bestimmt ein anderes Ziel."
"Ich komme von irgendwoher und gehe überallhin," sagte Sucher. "Ich bin auf der Suche nach der letzten Wirklichkeit und mein Gefühl sagt mir, dass ich diese irgendwo in der Nähe von Umbra finden werde. Wenn du nichts dagegen hast, dann komme ich mit dir."
Lilly hatte natürlich nichts dagegen. Sucher gefiel ihr wegen seiner ruhigen Art sehr. Er schien auch sehr viel zu wissen und sie war schon immer gerne mit gebildeten Leuten zusammen gewesen. Außerdem fühlte sie sich in seiner Nähe sicher.

***

Die beiden lagerten noch vier Tage an dieser Stelle. In dieser Zeit bestätigte sich Lillys gute Meinung von ihrem neuen Begleiter: Sie konnte ihn fragen, was sie wollte – er wusste auf alles eine Antwort, blieb dabei aber immer freundlich und nett, wurde nie arrogant. Bald betrachtete sie ihn nicht mehr nur als ihren Retter, sondern auch als ihren Freund.
Schließlich war auch Sucher der Meinung, dass sie kräftig genug war, weiter zu reiten. Sie brachen auf. Lilly warf noch einen letzten Blick zurück auf den schönen Platz, der ihr fast zum Verhängnis geworden war.
Zuerst ritten sie schweigend nebeneinander her. Dann hielt Lilly es nicht mehr aus.
"Warum suchst du die letzte Wirklichkeit? Was meinst du damit?"
"Jedes Wesen lebt in seiner eigenen Wirklichkeit," gab Sucher zurück. "Sie umfasst alles, was es erlebt hat und was ihm wichtig ist. Je komplexer ein Wesen ist, desto komplexer ist auch dessen Wirklichkeit. Eine Kuh lebt in einer Wirklichkeit aus frischem Gras, Wasser und dem Wunsch, regelmäßig gemolken zu werden. Mehr erwartet sie nicht. Ein Mensch erwartet viel mehr, erlebt mehr und macht sich mehr Gedanken. Darum ist die Wirklichkeit, die ihn umgibt, vielseitiger."
Lilly kicherte.
"Bei manchen Menschen ist die Wirklichkeit nicht viel größer als die einer Kuh! Ich kenne Leute, die nur an Essen, Trinken und Schlafen denken."
Sucher musste auch lachen.
"Das sind aber nicht die intelligentesten Menschen und Kobolde, nicht?"
Lilly war noch nicht zufrieden.
"Und was ist die letzte Wirklichkeit, die du suchst?"
"Das ist die allgemeingültige Wirklichkeit. Die, die für alle Wesen gleichermaßen gilt. Ob arm, ob reich, klug, dumm, gesund oder krank. Die letzte Wirklichkeit eben."
"Das hört sich aber sehr kompliziert an!" meinte Lilly. "Das verstehe ich nicht. Woher willst du denn merken, dass du sie gefunden hast?"
Sucher schaute sie ernst an.
"Wenn es soweit ist, werde ich es wissen."
Es war nicht das letzte Gespräch dieser Art, das sie miteinander führten, und so wurden sie immer vertrauter miteinander. Etwas aber irritierte die Koboldin: Immer dann, wenn sie der Weg, auf dem sie ritten, an einer Ortschaft oder einem Gehöft vorbeiführte, verschwand Sucher unter einem Vorwand und tauchte erst dann wieder auf, wenn alle menschlichen Siedlungen und Behausungen weit hinter ihr lagen. Auf ihre entsprechende Frage gab er nur ausweichende Antworten, die ihr nicht weiterhalfen, aber auch ein Nachfragen nicht zuließen. Auch die Mahlzeiten nahmen sie nicht gemeinsam ein. Immer dann, wenn die Essenzeit gekommen war, zog er sich zurück und tauchte erst dann wieder auf, wenn sie fertig war. Auch hier wich er ihren Fragen aus. Er habe keinen großen Hunger und benötige außerdem andere Nahrung als sie, war die einzige Antwort, die sie bekam. Schließlich gab sie es auf. Sie wollte ihn durch ihre Neugier nicht verärgern.
Nach einem Ritt von einer Woche lag hinter einer Wegbiegung plötzlich ein großer Bauernhof vor ihnen. An einem Gatter arbeitete ein kräftig gebauter Mann. Er erblickte die beiden Reiter und winkte ihnen, näher zu kommen. Lilly leistete der Aufforderung Folge. Sucher dagegen drehte ab und verschwand in einem nahe gelegenen Wald. Er würde einige Kilometer hinter dem Hof wieder zu ihr stoßen.
"Wo ist denn Euer Begleiter hin?" fragte der Farmer misstrauisch und stützte sich auf einen wuchtigen Hammer, den er eben noch geschwungen hatte.
"Och, der ist schrecklich menschenscheu, müsst ihr wissen. Er überlässt mir immer das Reden," gab Lilly zurück und hoffte, dass der Mann ihre Ausrede schluckte.
Dieser musterte sie aufmerksam von oben bis unten.
"Ich bin mir nicht sicher, ob ich Euch das glauben soll," erwiderte er. "Eine Koboldin mag ja noch angehen. Aber mit einem wie dem da möchte ich nichts zu tun haben."
"Wieso 'einer wie der da?'" fragte Lilly.
"Ach nichts!" wich der Bauer aus. "Ich kann mich ja auch vertan haben. Kann ich etwas für Euch tun?"
"Ich bin auf dem Weg nach Umbra. Könnt Ihr mir sagen, ob ich auf dem rechten Weg bin?"
"Ja, natürlich! Wenn Ihr geradewegs weiter reitet, kommt Ihr direkt nach Umbra. Mein Hof ist sozusagen der letzte 'Ort' in Holledau."
Er schaute sie fragend an.
"Seid ihr sicher, dass Ihr nach Umbra wollt? Seit Erzherzog Gerold vertrieben wurde, geht es dort nicht geheuer zu. Euer Begleiter würde vielleicht dorthin passen. Aber Ihr? Jedenfalls würde ich ihm nicht vertrauen. Ihr solltet das auch nicht tun!"
Lilly ging nicht weiter auf seine Worte ein, dankte ihm und trieb Palo an. Sie wollte sich nicht verrückt machen lassen. Bald würde sie wieder mit Sucher vereint sein. Sie vermisste ihn schon. Und wirklich: Nach einigen Kilometern stand er am Wegesrand und erwartete sie. Es ging ihr wie immer, wenn sie sich getrennt hatten und wieder zusammenkamen: Irgendwie war die Sonne wärmer und die Luft klarer. Das Grün der Bäume grüner und das Blau des Himmels blauer.
"Schön, dass du wieder da bist, Sucher!" rief sie immer schon von weitem, wenn sie ihn sah. Und er winkte ihr lächelnd zu, wenn sie ihn rief - wie immer.
Sie berichtete ihm, was ihr der Bauer über Umbra erzählt hatte. Natürlich nicht alles, denn sie wollte ihn nicht verletzen. Schließlich war es gemein, was dieser über ihn gesagt hatte. Auch sollte Sucher nicht glauben, dass sie den Worten glaubte. Am Ende hätte er sie noch beleidigt verlassen! Nicht auszudenken, wenn das passiert wäre.
Sucher setzte eine bedenkliche Miene auf.
"Hmmm, Erzherzog Gerold ist vertrieben worden? Das hört sich nicht gut an," brummte er. "Gerold war bei seinem Volk sehr beliebt. Wer immer dafür verantwortlich ist, hat sicher nicht im Sinne der Umbraner gehandelt. Das gefällt mir nicht. Jetzt bin ich mir ganz sicher, dass es richtig war, mit dir mitzukommen."
Sie ritten schweigend Seite an Seite weiter. Beide in ihre eigenen Gedanken vertieft. Schließlich war es wieder einmal Lilly, die die Ruhe beendete.
"Du hast mir noch nichts über deine Eltern erzählt. Hast du noch welche?"
Sucher wandte sich überrascht zu ihr um.
"Ehrlich gesagt, habe ich das vergessen. Wenn ich jemals Eltern gehabt habe, dann ist das so lange her, dass ich mich nicht mehr an sie erinnern kann."
"So alt siehst du gar nicht aus!" zweifelte Lilly.
"Ich bin älter als du denkst. Viel älter. Aber warum fragst du nach meinen Eltern?"
"Ich habe dir doch von meinen Problemen erzählt. Mich würde interessieren, ob du ähnliche Sorgen hattest."
Sucher schüttelte den Kopf.
"Dazu kann ich dir nicht viel sagen. Nach meinen Erfahrungen sind Eltern aber auch nur Menschen. Sie wollen immer alles richtig und gut machen, wollen für ihre Kinder nur das Beste. Da sie aber auch mit Fehlern behaftet sind, bleibt es oft bei diesem Willen. Kinder sollten darum nicht zu streng über ihre Eltern urteilen. Deine Eltern haben wohl manches falsch gemacht, aber nicht mit Absicht. Das Wichtigste aber solltest du nie vergessen: Sie lieben dich."
"Bist du sicher?"
"Ja, da bin ich mir sicher. Ich wünschte, ich könnte mich auch an die Liebe meiner Eltern erinnern. Letztendlich ist diese Erinnerung das einzige, was uns von ihnen übrig bleibt. Von ihnen und allen Menschen, die uns jemals etwas bedeutet haben."
Bei diesen Worten bekam sein Mund einen bitteren Zug. Lilly lenkte Palo nahe an sein Ross und legte ihre Hand in die Seine. Er warf ihr einen dankbaren Blick zu, der ihr durch und durch ging. So ritten sie, Hand in Hand, in die Abendröte hinein.
Von nun an waren sie noch unzertrennlicher als zuvor. Als sie die Grenze nach Umbra überschritten und die Richtung zur Hauptstadt einschlugen, wurden die Ansiedlungen zahlreicher, ihre Trennungen häufiger. Immer sah sie ihm nach, bis er ihrem Blickfeld entschwand und ihr Herz wurde ihr dabei schwer. Sie durchritt die Orte so schnell es eben ging, fragte, was gefragt werden musste, und kaufte nur das Nötigste. Auch Sucher beeilte sich, den nächsten Treffpunkt so schnell wie möglich zu erreichen. Dennoch vergingen Ewigkeiten, bis sie sich wieder trafen und wenn sie wieder beisammen waren, umarmten sie sich, als hätten sie sich wochenlang nicht gesehen und führten ihre Pferde so eng wie möglich nebeneinander.
"Bald werden wir die Hauptstadt erreicht haben!" flüsterte Lilly nach einigen Tagen.
Sucher antwortete nicht. Aber sein Gesicht wurde hart.
Schließlich war es soweit: Sie erklommen die letzte Bodenerhebung ihres Weges und blickten hinab in das Tal, in dem sich Umbra, die Hauptstadt des Erzherzogtums, erstreckte. Lilly war überrascht über die Größe der Stadt, denn sie hatte bisher noch nicht viele echte Städte gesehen. Königswinter war ihr schon groß vorgekommen. Umbra aber war bedeutend größer. Die Stadt lag in einem großen Talkessel in dessen Mitte sich ein etwa 200 Meter hoher Felsenhügel erhob. Auf der Spitze des Berges reckte sich eine Burg aus schwarzem Gestein wie ein drohendes Geschwür in die Höhe. Die Festung bedeckte den ganzen Gipfel. Bereits um den Fuß des Berges wand sich eine breite Befestigungsmauer, die mit Wehrtürmen und Brustwehren gespickt war. Fast schien es, als müsse sie den feindlichen Kräften der ganzen bekannte Welt trotzen. Auch der Weg, der hinauf zur eigentlichen Burganlage führte, war links und rechts von Mauern umsäumt. Wer immer diesen Weg ohne die Erlaubnis des Burgherrn benutzen wollte, würde keinen Meter weit vordringen können.
Der Bergfried in der Mitte der Anlage erhob sich dick, schwarz und rund wie eine gewaltige Säule. Die ganze Burg war unheimlich, erschreckend düster und passte gar nicht in das einladende Bild, das die Stadt mit ihren hübschen Häusern bot.
"Du kannst alles erkennen?" wunderte sich Sucher, der Lilly anmerkte, dass sie von dem sich ihr bietenden Bild in den Bann gezogen wurde.
"Ja! Jetzt wo du es sagst, fällt es mir auch auf. Ich erkenne die Ortschaft und die Festung ganz genau. Jedes Detail kann ich sehen. Alles andere aber versinkt in dichtem Nebel. Wie immer!"
"Das ist ein Zeichen!" erkannte Sucher. "Der Fluch hat dich nicht umsonst hierher geführt. Hier wartet eine Aufgabe auf dich."
Lilly fror plötzlich. Sie sah ihren Begleiter hilflos an: "Aber welche?"
Sucher zuckte mit den Achseln.
"Das weiß ich auch nicht, Lilly. Ich kann dir nur sagen, dass ich vermute, dass deine Sehkraft nach einiger Zeit wieder auf das schlechte Normalmaß, das du immer hast, zurückgehen wird. Die Sichterweiterung ist nur ein Zeichen. Mehr nicht. Bekomme also keinen Schrecken, wenn es soweit ist!"
Sie schauten beide noch eine Zeit lang auf das sich ihnen bietende Panorama. Dann nahm Sucher die Zügel seines Pferdes auf.
"Ich kann dich nicht weiter begleiten," bekannte er bedauernd. "Du weißt, dass ich menschliche Siedlungen meide. Menschliche Gemeinschaften sind nichts für mich. Ich werde mich aber immer in der Nähe aufhalten und wenn du mich brauchst, werde ich dir helfen, wo ich kann."
Lilly ergriff seine Hand.
"Ich brauche dich immer! Kannst du nicht bleiben? Wenigstens einmal?"
"Leider nein," gab er zurück. "Du wirst bald erkennen, dass ich nicht anders handeln kann und dann wirst du mich verstehen. Bis dahin habe bitte Geduld!"
"Was ist mit deiner Suche nach der letzten Wirklichkeit? Kann sie solange warten, bis ich hier fertig bin? Dann kann ich dir helfen, so wie du mir geholfen hast."
"Die Lösung deiner Aufgabe ist mit meiner Suche verbunden. Das Schicksal hat uns nicht umsonst zusammengeführt. Du wirst sehen!"
Lillys Herz machte einen freudigen Hüpfer. Die Vorsehung, die dafür gesorgt hatte, dass sich ihr und Suchers Weg kreuzten, musste es gut mit ihr meinen. Und mit ihm!

***

Sie trennten sich wieder, wie sie es schon so oft getan hatten. Lilly hoffte allerdings, dass es ihre letzte Trennung sein würde. Sie ließ Palo im Schritt den abfallenden Weg hinunterlaufen. Sie hatte Zeit. Als sie das Stadttor erreicht hatte, war es bereits später Nachmittag und mit ihr strömte eine große Zahl von Menschen in die Stadt hinein, um rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit sicher hinter den schützenden Mauern zu sein.
Ein Torwächter sprach sie an.
"Halt! Wohin des Wegs, Koboldin?"
"Ich möchte in die Stadt!" antwortete Lilly unbekümmert.
"Das sehe ich!" sagte der Wächter nicht unfreundlich. "Da ich für die Sicherheit Umbras verantwortlich bin und Euch nicht kenne, möchte ich mehr wissen. Seid Ihr allein? Was für Geschäfte führen Euch her und wo werdet Ihr wohnen?"
Lilly sah ein, dass der Mann nichts Böses von ihr wollte und gab bereitwillig Auskunft, wobei sie aber nicht ganz bei der Wahrheit blieb.
"Ich reise allein und bin auf der Suche nach einem Medikus, der mich von einer schweren Krankheit heilen kann."
"Dann habt Ihr gewiss viel Geld bei Euch, denn gute Ärzte sind rar und teuer!"
"Nein, viel besitze ich nicht. Ich hoffe auf die Güte des Arztes!"
Der Wächter lachte.
"Hier gibt es nur einen wirklich guten Medikus und der hat bestimmt kein gutes Herz. Er ist nämlich gleichzeitig auch der Magier unseres Fürsten Werfried von Umbra."
Ein anderer Soldat, der das Gespräch verfolgt hatte, löste sich aus dem Schatten des Tores und stieß seinem Kollegen in die Seite.
"Lass gut sein, Hanno! Es ist nicht gesund, sich negativ über den Magier auszulassen. Lass sie durch. Sie ist nicht gefährlich. Soll sie doch selbst sehen, was hier los ist."
Lillys Wächter verstummte sofort und gab den Weg frei. Als sie an ihm vorbeimarschierte flüsterte er ihr noch zu:
"Wenn Ihr eine Bleibe für die Nacht sucht, dann empfehle ich Euch das Gasthaus zum Ochsen. Es ist sauber und ordentlich. Außerdem ist der Wirt ein ehrlicher Mann. Sagt ihm, dass ich Euch geschickt habe. Dann wird er Euch aufnehmen."
Lilly fragte sich, warum sie wohl eine Empfehlung brauchen sollte, um in einem Gasthaus aufgenommen zu werden. Sie besaß etwas Geld und konnte für ihre Unterkunft bezahlen. Jeder Wirt würde sie nehmen. Warum sollte er auch nicht? 
Als sie jedoch weiter voranschritt, stellte sie fast, dass die Stadt voller Menschen war. Die meisten schienen Reisende zu sein wie sie selbst. Wenn ihre Beobachtung stimmte, dann waren alle Unterkünfte bis auf den letzten Platz belegt. Sie würde viel Glück brauchen, um noch ein Bett für die Nacht zu finden - oder eine Empfehlung.
In den Gassen wurde es bald so eng, dass Palo sich zunehmend unwohl fühlte. Er wurde störrisch und schnaubte. Lilly strich ihm beruhigend über das Fell und sprach auf ihn ein. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn das Pony um sich schlagen würde! An einer der nächsten Ecken bog sie in eine stille Seitengasse ein, in der es merklich ruhiger zuging. Sie atmete tief durch. Auch sie, die sie ja gerade die Größe eines menschlichen Kindes besaß, hatte sich beklommen gefühlt. Sie ging erleichtert weiter. Vielleicht fand sie ja hier eine Unterkunft für die Nacht.
Eine Gruppe von drei Männern kam ihr entgegen. Einer ritt auf einem knochigen Gaul voran. Zwei andere, von Kopf bis Fuß in stählerne Rüstungen gehüllt, folgten ihm auf mächtigen Schlachtrössern. Der Anführer der Gruppe war von einem weiten Umhang umhüllt, der sie sehr an Suchers Samtcape erinnerte, nur dass dieses hier schwarz war. Überhaupt war der Mann komplett in schwarz gekleidet. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen Zylinderhut. Das Gesicht wurde von einer großen Nase beherrscht, die sich wie der Schnabel eines Raubvogels nach unten bog und über einem schmallippigen, verkniffenen Mund endete. Das Kinn lief spitz aus. Die Augen blickten schwarz und stechend. Der Mann war Lilly sofort sympathisch. Er sah einfach klasse aus, wenn er sich auch nicht mit Suchers Schönheit messen konnte. Abgesehen von seiner Größe hätte er als Koboldmann eine gute Figur gemacht. Fast schon wollte sie ihn ansprechen, scheute aber wegen der Gerüsteten zurück, die ihr Angst machten.
Vor einem Haus blieben sie stehen. Der Schwarze stieg nicht ab, sondern beugte sich nur vor, um mit einem dicken Knüttel an die Tür zu schlagen.
"Aufmachen!" rief er. "Des Fürsten Steuereinnehmer ist da!"
Jemand öffnete zaghaft die Pforte.
"Oh, Herr! Ihr wart doch erst im vorigen Monat hier! Ich habe meine Steuern redlich bezahlt. Was wollt ihr denn noch von mir?"
Der Schwarze zog die Brauen hoch und grinste breit.
"Sondersteuer wegen des Jahresfestes. Jeder Bürger dieser Stadt hat noch zehn Gulden zu entrichten. Heraus damit!"
Der Mann trat aus der Tür und griff nach einem Bein des Steuereintreibers.
"Habt Erbarmen mit mir! Ich besitze keine zehn Gulden mehr. Die Geschäfte gehen schlecht. Ich werde kaum über den Winter kommen."
Er bekam einen Tritt, der ihn in den Straßenstaub warf.
"Lass mich los, Jammerhahn! Wenn du morgen nicht zahlst, wird dir einer meiner Begleiter den Kopf abschlagen. Außerdem wird deine Habe konfisziert. Merke es dir!"
Jemand zupfte an Lillys Ärmel. Erschreckt drehte sie sich um. Ein junger, ziemlich verschmutzter Bursche stand vor ihr. Er legte einen Zeigefinger an seinen Mund.
"Psst! Lass uns von hier verschwinden! Mit des Fürsten Steuereinnehmer ist nicht zu spaßen."
Lilly hielt es auch für richtig, das Weite zu suchen. Sie ließen das Gezeter des Bürgers, der den Schwarzen noch immer um Nachsicht anflehte, hinter sich. Der Bursche führte Lilly um mehrere Ecken herum, bis sie nicht mehr wusste, wo sie sich befand. Dann blieb er stehen. 
"Ich habe mich dir noch nicht vorgestellt. Ich bin Hermann, der Seifensieder. Niemand kocht bessere Seife als ich. Du bist ein Koboldmädchen, nicht wahr?"
"Ich bin Lilly und komme aus dem Finsterwald. Wer dich ansieht, kann gar nicht glauben, dass du für die Sauberkeit dieser Stadt verantwortlich bist!" kicherte Lilly.
Hermann tat beleidigt.
"Die Herstellung von Seife ist ein komplizierter Prozess. Ich arbeite dabei mit altem Fett und Asche. Schmutz ist keine Schande! Es ist ehrlicher Schmutz!" Dabei grinste er sie verschmitzt an. Die beiden mochten sich auf Anhieb.
"Kannst du mir sagen, wo ich die Nacht über bleiben kann? Ich habe schon bei mehreren Herbergen nachgefragt, aber alle sind bis auf das letzte Bett belegt. Ein Wachmann am Stadttor hat mir zwar den Ochsen empfohlen, aber ich habe mir das Gasthaus angesehen: Es sieht sehr teuer aus und teure Unterkünfte kann ich mir nicht leisten."
Der Junge nickte.
"Ja, ja. Der Ochse ist das beste Haus in der Stadt und teuer ist es auch. Aber auch da wirst du trotz der Empfehlung des Soldaten kein Bett mehr finden. Die Stadt ist voll von Leuten, die an unserem Jahresfest teilnehmen wollen. Es findet zwar erst in drei Wochen statt, aber es ist immer gut, schon frühzeitig hier zu sein."
Er schaute sie an.
"Du siehst ehrlich aus, Koboldin," stellte er fest. "Ich mache dir ein Angebot: Ich kenne ein altes Ehepaar, das normalerweise niemanden aufnimmt. Wenn ich für dich ein gutes Wort einlege, dann darfst du bestimmt für ein geringes Entgelt bleiben."
Lilly war enttäuscht.
"Bei uns im Finsterwald gibt es das Gesetz der Gastfreundschaft. Wenn ein Reisender kommt, ist er für eine Nacht und einen Tag eingeladen. Er wird beköstigt wie ein Familienmitglied und bekommt das beste Bett. In dieser Stadt gilt das wohl nicht?"
Hermann lachte.
"Diese Sitte gibt es bei uns auch. Aber nur auf dem Lande. Hier in der Stadt muss man für alles bezahlen. Wie soll man sonst auch die hohen Steuern bezahlen können, die unser Herrscher verlangt."
Lilly grinste.
"Das kann ich verstehen! Mit dem schwarz bekittelten Steuereintreiber möchte ich auch nichts zu tun bekommen. Was waren das denn für zwei Ritter, die er dabei hatte? Die beiden sahen ja fürchterlich kriegerisch aus!"
Hermanns Gesicht wurde ernst.
"Das sind die Ehernen Reiter des Fürsten. Sie sind unbesiegbar. Einer von ihnen nimmt es mit zwanzig Bewaffneten auf. Sie sind gnadenlos. Ich kann dir nur raten, nicht über sie herzuziehen. Es würde dir nicht gut bekommen!"
Hermann führte sie zu einem unscheinbaren, aber gepflegten Haus, das sich an einen Teil der Stadtmauer lehnte als suche es dort Halt und Schutz. Auf sein Klopfen hin öffnete ein alter Mann, dem die Jahre den Rücken krumm gemacht hatten. Seine Augen aber straften seine gebeugte Haltung Lügen, denn sie wirkten jung und aufmerksam.
"Sei mir willkommen, Hermann!" begrüßte er den Jungen. "Wen bringst du denn da mit? Eine Koboldfrau?"
Lilly stellte sich vor und bat den Alten, sie aufzunehmen.
"Ich kann auch bezahlen!" sagte sie vorsichtshalber.
Der Alte sah sie lang und prüfend an.
"Ihr kommt aus dem Finsterwald und seid die Tochter El Pitto Gnomos, das Häuptlings der Finsterwaldkobolde?"
"Ja."
"Dann bist du mir und meiner Frau Edlih willkommen. Du sollst für die Zeit deines Aufenthaltes in dieser Stadt unsere Tochter sein."
Lilly war so erstaunt über die Freundlichkeit des Mannes, dass sie ihre angeborene Schlagfertigkeit vergaß. Ihr blieb die Sprache weg. Doch ihr Gastgeber fuhr schon fort.
"Es wird sich aber nicht gut machen, wenn allgemein bekannt wird, dass wir dich kostenlos beherbergen. Der Steuereinnehmer wird misstrauisch werden und sich genauer mit dir beschäftigen. Das müssen wir verhindern! Offiziell wirst du uns also bezahlen müssen. Sagen wir fünf Heller pro Tag. Das ist der übliche Preis für Kost und Logis. Um diesen Preis bezahlen zu können wirst du arbeiten müssen. Hermann wird dich mit dem Wirt des Gasthofs Adler bekannt machen. Er wird Arbeit für dich haben. Dein Pferd kannst du gleich hier lassen. Ich werde es gut versorgen."
Er warf Hermann, der seinen Mund öffnete, um etwas zu sagen, einen scharfen Blick zu.
"Nicht jetzt! Tut was ich euch gesagt habe, ihr beiden. Ich weiß, was ich tue."
Dann wandte er sich noch einmal Lilly zu.
"Wundere dich über nichts und vertraue mir."
Dann drehte er sich um, schnappte sich den Zügel Palos und zog das Pony ins Haus hinein. Lilly und Hermann blieben zurück.
"Puhh!" meinte der Junge. "Dass der Alte noch so viel Schwung hat, das hätte ich beileibe nicht gedacht. Man lernt eben immer noch dazu."
"Was wird hier eigentlich gespielt?" meinte Lilly. "Das sieht ja fast so aus, als hätte er mich erwartet."
Hermann zuckte mit den Achseln.
"Davon weiß ich nichts. Dloreg hat mir zwar schon seit einer Woche gesagt, ich solle die Augen aufhalten und nach einer Koboldin Ausschau halten, die in die Stadt kommen wird, und sie ihm so unauffällig wie möglich zuführen. Aber damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet."
Dloreg hieß der Alte also. Ein seltsamer Name! Aber nett war er. Woher hatte er nur gewusst, dass sie kommen würde? Und - warum hatte er sie erwartet?

***

Der Wirt des Adlers war ein kugelrunder, freundlicher Mann, der zwar fast so schmutzig war wie Hermann, aber wie dieser das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Als sie das Lokal betraten, kugelte er gerade von Tisch zu Tisch und sammelte leere Weinkrüge ein. Eine weitere Bedienung trug die vollen. Das Lokal war gut besucht. Fast jeder Tisch war mit schwatzenden und rauchenden Gästen besetzt. So dauerte es eine Weile, bis der Wirt sie bemerkte. Er rollte heran.
"Hallo, Hermann, wieder auf der Suche nach Asche oder Essenresten? Else hat bestimmt etwas da. Oder willst du etwa zu mir?"
Hermann stellte ihm Lilly vor. Der Wirt musterte sie eingehend.
"Also Arbeit sucht Ihr? Was könnt Ihr denn?"
Lilly musste zugeben, dass sie von Gastronomie wenig verstand. Ihr Koboldwissen war hier nicht gefragt. Nach einigem Nachdenken meinte sie: "Singen kann ich. Wenn Ihr jemanden sucht, der Eure Gäste abends unterhält, dann will ich es gerne versuchen!"
Der Wirt strahlte über sein feistes Gesicht.
"Ja! So etwas wäre gut. Im Ochsen gastiert eine Musikantentruppe. Da ist die Bude immer voll bis unter die Decke. So etwas würde meinem Adler auch gut zu Gesicht stehen. Außerdem habe ich gehört, dass Koboldfrauen nicht nur phantastisch aussehen, sondern auch sehr schöne Stimmen haben. Wenn Ihr so gut singen könnt, wie Ihr ausseht, kann nichts schief gehen. Wann könnt Ihr anfangen?"
"Morgen?" fragte Lilly.
"Morgen!" bestätigte der Wirt. "Ab 6 Uhr abends bitte. Dann ist Vesperzeit."

***

Theron war alt. Uralt sogar. Er hatte Generationen von Menschen kommen und gehen sehen und war seiner Aufgabe nachgegangen, die für andere Wesen so erschreckend und Furcht einflößend war, dass man nur hinter vorgehaltener Hand über ihn und seine Kinder sprach. Er selbst fand seine Aufgabe gar nicht so schlimm. Einer musste sie ja tun! Wie wäre es um die Welt bestellt, wenn es ihn und seine Vasallen nicht geben würde? Ohne seine ordnende Hand würde sich in der Welt das Chaos ausbreiten.
Selbst das langsame Vorrücken der aufgeklärten, nichtmagischen Welt beunruhigte ihn nicht weiter. Wie er festgestellt hatte, war auch diese angefüllt mit Sagen, Märchen und Aberglauben. Nein! Seine Tätigkeit würde auch durch diese neue Welt nicht in Frage gestellt werden.
Dennoch gab es da etwas, das ihn beunruhigte. Der Kontakt zu einem seiner Geschöpfe war vor einiger Zeit abgerissen. Das war ungewöhnlich!
Er rieb sich in einer menschlich anmutenden Geste über das Gesicht. Aber er war kein Mensch. Vielleicht war er in einer fernen Vergangenheit einmal ein Mensch gewesen. Doch das war schon so lange her, dass er sich dessen nicht mehr sicher war. Er sah auch nur entfernt wie ein Mensch aus, mit seinen lidlosen Augen, die wie düstere Rubine in tiefen Höhlen lagen. Sein Mund besaß keine Lippen und zwang ihn so zu einem ewigen Dauergrinsen, das einem Betrachter einen Schauer über den Rücken jagen konnte. Das Fremdartigste aber war der knochige Stummel, der statt einer Nase aus seinem Gesicht ragte und es so endgültig entstellte.
Er kam zu einem Entschluss. Das Fehlen der Verbindung zwischen ihm und seinem Geschöpf musste näher untersucht werden. Es ging nicht an, dass sich eines seiner Kinder unerlaubt selbstständig machte! Er würde 30 von ihnen zusammenrufen, um sich mit ihnen auf den Weg zu machen. Es würde einige Zeit dauern, bis sich alle gesammelt hatten, denn sie waren weit verstreut. Aber er hatte Zeit. Das erste Ziel, das er aufsuchen würde, stand bereits fest: Es gab da einen Ort, an dem die Irritation ihren Anfang genommen hatte!

***

Auf Schloss Drachenburg ging es hoch her. Jannie feierte im Kreis ihrer Familie und ihrer Freunde ihre Verlobung mit Hieronto, dem jungen Samurai. Hieronto hatte aus diesem Anlass von seinem Herrn Dommerjahn, dem Traumwächter, dem er seit einigen Jahren diente, Urlaub bekommen. In der Mitte des Schlosshofes befand sich die Festtafel: Eine ellenlange Tischreihe mit Stühlen, an denen die Festgäste Platz genommen hatten. Trotz ihrer massiven Ausführung bogen sich die Tische unter ihrer Last, denn König Richard hatte sich nicht lumpen lassen und alles auffahren lassen, was die Schlossküche zu bieten hatte: Schweine, Ochsen, Fasane, Kapaune, Wildgerichte, erlesene Gemüse und Obst soviel die Mägen fassen konnten. Damit die Festgesellschaft die Speisen auch hinunterspülen konnte, hatte Richard seinen Weinkeller geplündert. Dank der Verbindung zu Hüppes, dem Kaufmann, beherbergte dieser kostbare Weine aus aller Herren Länder. Quatzkotl, Cillie, El Pitto Gnomo, Lisa, Hieronto, Jannie, Merling (selbst er war gekommen! Freiwillig!), Knurps und Quetzalkoatlus hatten keinen Grund zur Klage. Richard war normalerweise für seine Bescheidenheit bekannt. Aber am heutigen Tage hatte er seine sonstige Zurückhaltung aufgegeben.
"Was wird er erst veranstalten, wenn Jannie ihren Knaben heiratet?" raunte Hüppes dem neben ihm sitzenden Koboldhäuptling zu. Doch dessen Blick begann bereits glasig zu werden. Seit Lilly nach Umbra aufgebrochen war, ertränkte er seine Sorgen regelmäßig im Alkohol. Auch heute hatte er wieder fast den nötigen Pegelstand, um das "Wer-von-uns-ist-gegangen-Spiel" zu spielen.
Richard klopfte an seinen Weinkrug, um die Aufmerksamkeit seiner Gäste von den Speisen und Getränken auf sich zu ziehen. Er stand auf und setzte zu einer Festrede an.
"Liebe Freunde!" begann er. "Als ich in meiner Jugend als Bauernbursche das Vieh meines Vaters hüten musste, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dass ich eines Tages zusammen mit Drachen, Kobolden, Feen, Hexen und Zauberern die Verlobung meiner Tochter mit einem echten Samurai feiern würde. Das Leben war bisher immer gut zu mir und meiner Familie gewesen. Ich habe Freunde, um die mich jedermann beneiden kann, eine wunderbare Frau und eine schöne Tochter, die allen, die es verdient haben, Glück bringt. Ich möchte darum an diesem wunderschönen Abend nicht nur euch, meinen Freunden, dafür danken, dass ihr meine Freunde seid, sondern auch meinem Schicksal, das es mir ermöglicht, eben diesen Abend mit euch zu verbringen. Jannie und Hieronto, meine Kinder! Werdet glücklich miteinander und haltet immer zueinander, denn ..."
Ein donnerndes Klopfen am verschlossenen Schlosstor hallte über den Platz. Fast klang es, als wolle sich jemand mit einem Rammbock gewaltsam Einlass verschaffen. Richards Rede wurde brutal unterbrochen, was nicht alle Anwesenden bedauerten, denn Richard war dafür bekannt, dass er eine einmal begonnene Ansprache nur ungern beendete und darum endlos auszudehnen pflegte.
Leicht irritiert nickte Richard dem Torwächter zu, der sich daraufhin der Pforte zuwandte und laut rief:
"Wer begehrt Einlass zu dieser Stunde?"
"Theron, Fürst der Finsternis und Herr der Todesritter, wünscht König Richard zu sprechen!" antwortete eine abgrundtiefe Stimme.
Dem Wächter wich das Blut aus dem Gesicht. Er wurde bleich wie ein Gespenst und zitterte am ganzen Leib. Richard und seinen Gästen ging es nicht viel besser. Noch nie hatte ein leibhaftiger Fürst der Finsternis in aller Offenheit das Schloss aufgesucht.
Richard nahm seinen ganzen Mut zusammen und bemühte sich, eine feste Stimme zu bewahren, als er fragte: "Was wollt Ihr, Theron?"
Die Formulierung war nicht besonders höflich, aber einen längeren Satz hätte Richard nicht herausbekommen. Theron schien das auch zu merken, denn er antwortete:
"Ihr braucht keine Furcht zu haben, König. Ich bin in friedlicher Mission zu euch gekommen. Niemandem wird ein Leid geschehen. Bitte lasst mich ein!"
"Die Burg ist uneinnehmbar!" erinnerte der sonst so furchtlose El Pitto Gnomo zu Richard gewandt. "Wenn du ihn nicht einlassen willst, kann er draußen warten, bis er schwarz wird!"
Richard schüttelte den Kopf.
"Nein, mein Freund! Er hat höflich um Einlass gebeten und mir versichert, dass er nicht in feindlicher Absicht gekommen ist. Es wäre eines Königs unwürdig, das Tor verschlossen zu lassen. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob der Zauber dieser Burg auch vor einem Fürsten der Finsternis bestehen kann."
Er winkte dem Torwächter, die Tür zu öffnen. Der Doppelflügel der Pforte sprang auf und Theron ritt an der Spitze seiner schauerlichen Gefolgschaft in den Schlosshof.
Der Fürst lenkte sein Ross bis dicht vor die Festtafel und grüßte freundlich.
"Ich danke Euch dafür, dass Ihr uns eingelassen habt, König. Ich betone noch einmal, dass ich in friedlicher Absicht gekommen bin. Niemand hat etwas zu befürchten."
Seine Todesritter hatten in der Zwischenzeit einen weiten Halbkreis um ihren Herrn und die Festgesellschaft gebildet. Der ihnen typische Duft von Moder, Schimmel und feuchter Erde erfüllte die Luft. 
Alle saßen auf gewaltigen, weißen Schlachtrössern und waren vom Kopf an in lange purpurfarbene Umhänge gehüllt, die weit über die Kruppen der Pferde hinunterhingen. An ihren Rändern waren die Umhänge mit seltsamen goldenen Symbolen bestickt. In der einen Hand hielten jeder von ihnen einen zepterartigen Gegenstand, an dessen Spitze eine grünliche Flamme blass flackerte. Die andere Hand führte den Zügel. Geisterhaft langsam und dabei völlig lautlos waren die Rösser über das Pflaster getrabt. Doch die Tiere waren keine Schimmel. Der weiße Schimmer rührte daher, dass die Pferde Skelett-Tiere waren, an denen kein Fetzen Fleisch mehr hing. Dennoch wirkten sie wild, stark, ausdauernd und kräftig. Kurz vor der Festgesellschaft standen sie und schauten sie mit blicklosen Augen an. Die Hufe schwebten einige Zentimeter über dem Boden. Kein Wunder, dass sie so lautlos herangekommen waren!
Die Reiter boten einen noch entsetzlicheren Anblick als ihre Tiere. Mumienhafte Haut spannte sich wie schwarzes Pergament über erschreckend dürre Gliedmaßen. Rotglühende Augen beherrschten grausame Gesichter. Die Nasen fehlten, als seien sie schon vor langer Zeit abgehackt worden. Die Münder waren eingefallen und zahnlos. So standen sie reglos vor ihnen: Abbilder des Todes und des Schreckens.
Es waren dreißig Ritter und es gab keinen Zweifel: Friedliche Absicht oder nicht – Schloss Drachenburg war fest in ihrer Hand.
Quatzkotl hatte die Situation natürlich sofort erkannt. Unwillkürlich verwandelte er sich von seiner goldenen Menschengestalt in einen grünen Drachen. Der Boden erbebte, als der große Drache aufstampfte und mit seinem Rachen den Fürsten anvisierte. Auch Cillie und Quetzalkoatlus nahmen Drachengestalt an. Drei gereizte große Drachen waren auch für einen Fürsten der Finsternis ernst zu nehmende Gegner, vor allem, wenn sie wie Quatzkotl und sein Sohn Königsformat hatten.
Doch Theron blieb gelassen.
"Immer mit der Ruhe, Drachenkönig!" besänftigte er den grünen Riesen. "Die Fürsten der Finsternis mögen ja einen schlechten Ruf haben und eure Erfahrungen mit Xusia und Janus mögen dies noch unterstreichen, aber ich gehöre zu denen, die ein gegebenes Wort niemals brechen."
"Warum kommt Ihr dann nicht allein, Theron, sondern bringt noch dreißig Eurer Kreaturen mit?" grollte Quatzkotl, immer noch bereit, seinem Gegenüber eine sonnenheiße Feuerfontäne ins Gesicht zu speien.
Theron lächelte ein lippenloses Lächeln.
"Mir ist die Bezeichnung 'Kinder' lieber, denn ich bin ihr Vater und Schöpfer."
Fast schien es so, als wollten die beiden doch noch aufeinander losgehen. Richard aber entschärfte die Situation:
"Theron, seid mir willkommen in meinem Schloss. Was kann ich für Euch tun?"
Der Fürst wandte sein verfallenes Gesicht Richard zu.
"Vor zehn Jahren sandte ich meinen Sohn Saul zu Euch, damit er Euch ihm Kampf gegen den Emporkömmling Laurin beistehe. Erinnert ihr Euch an ihn?"
Richard und alle Anwesenden nickten. Wie konnte man jemals das Zusammentreffen mit einem Todesritter vergessen? 
"Ich habe vor einiger Zeit den Kontakt zu ihm verloren," fuhr Theron fort. "Er gehorcht mir nicht mehr."
Richard hielt den Atem an. Ein Todesritter war außer Kontrolle geraten? Nicht auszudenken, was er alles anrichten konnte!
Theron hob beschwichtigend seine rechte Hand.
"Ich glaube nicht, dass er gefährlich ist, möchte aber doch herausfinden, wie es zu diesem Ungehorsam kommen konnte und vor allen Dingen, wo er sich herumtreibt."
"Wie wollt Ihr das erreichen?" fragte El Pitto Gnomo, der wieder völlig nüchtern war.
"Mit Eurer Erlaubnis, Richard, würde ich gerne den Raum Eures Schlosses aufsuchen, in dem Laurin sein Ende gefunden hat. Ich bin der Ansicht, dass dort die Ursache für das seltsame Verhalten meines Kindes zu finden ist."
Richard bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, dass dieses unheimliche Wesen frei durch sein Schloss wandeln und seinen Nasenstummel in jede Ecke stecken durfte. Seine Gemahlin warf ihm auch einen entsprechenden Blick zu. Vermutlich würden die Putzgeschwader der Burg eine Woche lang jeden Winkel der Burg putzen müssen, um das eigentümliche Aroma des Fürsten wieder hinauszuwischen. Dennoch nickte er diesem zustimmend zu und schaute seine Frau hilflos an. Hatte er eine Wahl? Einem Fürsten der Finsternis konnte er diesen leicht zu erfüllenden Wunsch nicht abschlagen.
Theron stieg von seinem Ross. Im Gegensatz zu seinen Vasallen, die fest mit ihren Pferden verwachsen waren, konnte er den Rücken des Tieres verlassen. Seite an Seite schritten er und Richard die Freitreppe hinauf und betraten die Gänge des Schlosses. Der König, sichtlich bemüht, die Visite seines unheimlichen Besuchers so kurz wie möglich zu halten, eilte sofort zu Jannies Zimmer, vor dessen Tür Laurin getötet worden war. Theron gab sich nicht mit der Inspektion des Flures zufrieden, sondern betrat auch den Raum. Sorgfältig nahm er jeden Winkel des Zimmers in Augenschein. Sein Mumienkopf zuckte dabei schnell hin und her. Schnüffelnd wie ein Bluthund atmete er die Luft des Raumes ein. Sein knochiger Nasenstummel zitterte dabei wie ein Zweig im Wind. Er legte sich auf den Boden und sog auch hier die Luft intensiv ein. Anschließend robbte er, immer noch am Boden, in den Flur, um hier seine Untersuchungen fortzusetzen. Richard konnte sich nicht entscheiden, ob der ganze Vorgang mehr ekelhaft oder mehr lächerlich war. Auf jeden Fall aber fand er das Benehmen Therons unbeschreiblich abstoßend.
Endlich war die Inspektion beendet.
"Ich weiß jetzt genug!" schnaufte Theron befriedigt. "Wenn Ihr so nett wäret, mich nach draußen zu begleiten, kann ich Euch die Ergebnisse meiner Untersuchung mitteilen, König."
Theron wartete die Reaktion Richards gar nicht erst ab, sondern schritt eilends voran. Er legte dabei ein Tempo vor, das Richard dem ausgemergelten Körper des Fürsten niemals zugetraut hätte.
Wieder im Hof ließ Theron sich nicht lange bitten, sondern setzte sofort zu einer Erklärung an.
"Ich habe lange darüber nachgedacht, wie es kommen konnte, dass eines meiner Kinder mir plötzlich den Gehorsam verweigert," sprach er mehr zu sich selbst als zu seinen Zuhörern. "Im Zuge der Umwandlung eines lebenden Menschen zu einem untoten Todesritter entsteht ein untrennbares magisches Band zwischen mir und meinem Geschöpf. Man kann es auch so ausdrücken, dass es ohne diese Verbindung nicht mehr aktionsfähig ist und sein Leben auf der Stelle beendet. Bei Saul ist das Unmögliche aber eingetreten: Er agiert und lebt sein eigenes selbstständiges Leben. Oder vielmehr - er ist dabei, ein eigenes Leben zu entwickeln, eine eigene Persönlichkeit."
Die Anwesenden hörten Theron gebannt zu. Bisher wussten sie lediglich, dass Todesritter extrem gefährliche Wesen waren, die über unvergleichliche magische Kräfte verfügten. Selbst für die mächtigen Drachen waren sie ernste Gegner. Man ging ihnen besser aus dem Weg.
"Saul war über Jahrhunderte ein zuverlässiger Vasall, wie es sich für ihn gehörte. Als er aber die Seele Laurins aß, ging die geballte Magie des Zwerges auf ihn über. Nun stand Laurin kurz davor, selbst ein Fürst der Finsternis zu werden. Entsprechend stark und mächtig war die Magie, die bei seinem Tod frei wurde. Saul konnte ihn zwar töten, aber die Magie Laurins verwandelte ihn dabei, machte ihn frei von meinem Einfluss. Saul begann wieder der zu werden, der er vor der Umwandlung war. Das ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen vollendet wurde und der auch heute noch anhält. Aber inzwischen ist ein Punkt erreicht worden, der ihn von mir unabhängig werden ließ. Kurzum, ich muss ihn mir wiederholen, denn ich kann nicht zulassen, dass sich mir ein Kind entfremdet."
"Vielleicht ist es sein Schicksal, wieder er selbst zu werden," gab Jannie zu bedenken.
Theron verzog seinen Mund.
"Ihr meint, Prinzessin, dass ich der Vorsehung nicht ins Handwerk pfuschen darf?"
Als Jannie stumm nickte und auch der Kobold beifällig nickte, gab Theron trocken zurück:
"Ihr vergesst eins: Ich bin die Vorsehung. Es ist meine Aufgabe, Menschen, die sich in extremer Weise gegen die Natur und die Gerechtigkeit vergangen haben, zu strafen. Saul hält sich zurzeit in Umbra auf. Ich werde ihn wieder zu dem machen, der er war und der er zu sein hat: Zu einem Todesritter."
Die Zuhörer schwiegen. Saul war Therons eigene Angelegenheit. Sie taten gut daran, sich nicht einzumischen. Richard sagte ihm das auch. Doch Theron war noch nicht zufrieden.
"Ich werde diese Aufgabe nicht allein bewältigen können. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es eine gute Sache wäre, wenn Ihr mich unterstützen würdet."
"Warum sollten wir Euch dabei helfen, Saul wieder an die Kandare zu nehmen?" grollte Quatzkotl grimmig. "Ich kann weder Euch noch Eure Kreaturen leiden!"
"Vielleicht hilft es Euch, wenn ich Euch sage, dass Lilly, die Tochter El Pitto Gnomos, in Lebensgefahr schwebt?"
"Was wollt Ihr damit sagen, Fürst?" fragte El Pitto Gnomo scharf und zog unwillkürlich sein Schwert. "Meint Ihr etwa, dass Saul sich an Lilly heranmachen wird?"
"Nein, Kobold!" entgegnete Theron ruhig. "Die beiden kennen sich bereits. Saul hat ihr nichts getan und er wird ihr auch in Zukunft nichts tun. Im Gegenteil! Die Gefahr droht aus einer ganz anderen Richtung. Ich glaube, dass ich selbst mit meinen dreißig Kindern nichts für Lilly tun kann. Im Grunde ist mir Eure Tochter auch egal. Sie ist Euer Kind, nicht meines. Aber ich bin bereit, Euch zu unterstützen, wenn Ihr mich unterstützt. Es geht mir nämlich nicht nur um Saul."
Quatzkotl, Cillie, Quetzalkoatlus, El Pitto Gnomo und alle anderen standen auf wie ein Mann.
"Wenn Ihr uns Euer Wort gebt, dass das, was Ihr sagt, stimmt, dann werden wir mit Euch gehen!" rief Richard. "Ich werde nicht zulassen, dass der Tochter meines Freundes ein Leid zugefügt wird. So war ich der König dieses Landes bin!"
"Man kann von Theron halten, was man will," sagte darauf Merling. "Aber die Lüge ist ihm fremd. Wer so mächtig ist, wie ein Fürst der Finsternis, der hat es auch gar nicht nötig, die Unwahrheit zu sagen."
"So folgt mir denn nach Umbra!" rief Theron und trieb sein Ross an. Die dreißig Todesritter folgten ihm. Auch Hieronto, die Drachen und der Kobold machten sich auf den Weg. Lilly war in Gefahr. Da wollte keiner hinten anstehen. Nur Richard und Knurps kamen nicht mit. Knurps durfte seine Wächterrolle nicht vernachlässigen und Richard fühlte sich inzwischen zu alt für solche Abenteuer.

***

Lilly hatte sich inzwischen in Umbra gut eingewöhnt. Tagsüber streifte sie durch die Stadt und lernte so ihre Umgebung kennen. In Hermann, den sie häufig sah, hatte sie einen ortskundigen Führer, der auch die verstecktesten Winkel der Stadt kannte. Auch mit ihrer Unterkunft konnte sie zufrieden sein. Ihr Zimmer war stets sauber und das Essen in Ordnung. Als Kobold war sie es ohnehin gewohnt, mit einem bescheidenen Komfort zufrieden zu sein. Dloreg und Edlih waren liebenswerte Menschen. Sie waren nie mürrisch, sondern immer freundlich zu ihr und halfen ihr dabei, sich in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden. Nur etwas war Lilly aufgefallen: Die beiden sprachen so wenig miteinander, als hätten sie sich nichts zu sagen. Ihr kam das seltsam vor, konnte sie selbst doch keine fünf Minuten ruhig bleiben. Wie zwei Menschen ein Leben lang verheiratet sein konnten, ohne ständig miteinander zu reden, war ihr unverständlich. Dloreg meinte auf eine entsprechende Frage, sie seien so lange verheiratet, dass sie schon alles besprochen hätten. Nur abends, wenn sie von ihrem Kneipenjob zurückkam, fand sie die beiden schon einmal beisammen sitzend an einem runden Tisch in der Wohnstube. Edlih legte dann immer Karten aus, um "die Zukunft zu lesen" wie sie sagte. Wenn Lilly die beiden beim schwachen Licht einer flackernden Kerze beobachtete, wie sie konzentriert die Karten betrachteten, verspürte sie doch Heimweh nach ihren Eltern und ihrem Zuhause. Von ihrer Sehnsucht nach Sucher gar nicht zu reden! Sie vermisste ihn schmerzlich. Das Wiedersehen konnte sie kaum noch erwarten. Doch zunächst noch musste sie sich in Geduld üben.
Abends verließ sie das Haus immer um die gleiche Zeit und ging zum Adler, wo Erwin, der Wirt, sie immer freudig empfing, als fürchte er, dass sie nicht kommen könnte. Lilly konnte das gut verstehen, war sie doch Garant für ein gutes abendliches Geschäft.
Erwin hatte in einer Ecke der Schankstube eine kleine Bühne aufgebaut, auf der Lilly und ihre musikalische Begleitung Platz fanden: Errol, der die Guitan zupfte, Ortwin, der die Gigan strich, und Ottmar, der das Drumding, ein Rhythmusinstrument, bearbeitete. Ausleuchtung und Positionierung der Gruppe waren von Ortwin vorgenommen worden. Mit dem sicheren Gespür des Künstlers hatte er bestimmt, dass er und seine zwei Partner im Hintergrund sitzen und Lilly in Form eines kleinen Halbkreises umschließen sollten. Für Lilly war ein extra hoher Hocker angefertigt worden, damit sie etwas größer wirkte. Eine große Kerze im Hintergrund tauchte die Musiker in sanftes Licht. Lilly wurde von zwei großen Vordergrund-Kerzen ausgeleuchtet, die ihr Gesicht mit weichem Schein ausleuchteten und so ihre Schönheit beeindruckend zur Geltung brachten. Wie bereits erwähnt, ist die Schönheit der Koboldfrauen sprichwörtlich. Mit ihrer wohlgeformten Gestalt, ihren ebenmäßigen, feinen Gesichtszügen und dem blassen Teint, der von einer leichten Sonnenbräune überzogen war, verzauberte sie jeden Menschenmann. Hinzu kamen ihre großen, in klarem Blau leuchtenden Augen, in denen sich das Licht der Kerzen widerspiegelte. Und erst ihre Stimme! Lilly hatte schon als Kind viel gesungen. Jetzt aber besaß sie einen reinen, vollen Alt, der jeden Winkel des Raumes wie ein Sonnenstrahl warm durchdrang. Wenn Lilly auf ihrem Hocker Platz nahm, um mit ihrer Darbietung zu beginnen, erstarb jedes Geschwätz. Aller Aufmerksamkeit richtete sich auf sie und die Gäste wussten nicht, was sie mehr bewundern sollten: Ihre Stimme oder ihre Schönheit.
Die Kobolde des Finsterwaldes besaßen ein reichhaltiges Repertoire an Liedern. Lilly kannte sie alle. Viele von ihnen waren derb und beschäftigten sich intensiv mit Frauen und Männern und was diese miteinander anfangen konnten. Doch es gab auch fröhliche Trinklieder, sowie ernste Balladen. Lilly konnte singen, was sie wollte. Aus ihrem Munde waren die zotigsten Sauflieder salonfähig. Und wenn sie eines ihrer schwermütigen Liebeslieder vortrug, bekamen sie durch ihre eigene Sehnsucht nach Sucher eine solche Tiefe, dass selbst dem rauesten Haudegen Tränen über die Wangen rannen.
Mit leichtem Stolz konnte sie vermerken, dass sie inzwischen der Star der Stadt war und dem Konkurrenzunternehmen des Alders, dem Ochsen, viele Gäste abspenstig gemacht hatte. Die Leute liebten sie und so mancher Mann, der morgens aufwachte, musste mit schlechtem Gewissen feststellen, dass er in der Nacht von der kleinen Koboldin geträumt hatte, warf seiner Frau einen schuldbewussten Blick zu und dankte dem Himmel, dass seine Träumen nur ihm gehörten und seine ihm Angetraute nicht an ihnen teilhaben konnte. Die Frauen wiederum sammelten sich häufig in dichten Trauben um die geöffneten Fenster des Adlers, weil auch sie Gefallen an den Liedern fanden. Die Schönheit der Koboldin nahmen sie gelassen hin. Mit Naturereignissen muss man sich eben abfinden. Ihre Ehen waren nicht in Gefahr, denn der seltsame Geschmack der Koboldfrauen in Bezug auf Männer war ja ebenso sprichwörtlich wie ihre Schönheit. Kurz und gut: Lilly war auf dem besten Wege, zu einer Kultfigur zu werden.

***

Eines Abends betrat der schwarze Steuereintreiber den Alder. Er winkte Erwin zu sich und redete leise auf den Dicken ein. Dieser reagierte ärgerlich und machte mit einer Hand eine wegwischende Bewegung, als wolle er nichts mehr hören. Doch der Schwarze ließ nicht locker. Mit erhobenem Zeigefinger fuchtelte er vor Erwins Gesicht herum, deutete ab und zu auf Lilly und redete intensiv auf ihn ein. Schließlich reckte der Wirt beide Arme in die Luft und verschwand eilends hinter dem Tresen, wo er begann, Weinhumpen aufzufüllen. Dabei schüttelte er seinen Kopf, der knallrot angelaufen war, als könne er die Welt nicht mehr verstehen.
Am Ende des Abends leerte sich der Adler. Schließlich waren nur noch Erwin, der Schwarzgekleidete und Lilly anwesend. Lilly wollte den Weg nach Hause antreten, als der Steuereintreiber sie anredete.
"Verzeiht bitte, wenn ich Euch anspreche, Koboldin," eröffnete er das Gespräch höflich. "Ich habe eine Frage an Euch."
Lilly blickte ihn stumm an und wartete.
Der Schwarze fuhr sich mit der Zunge unsicher über die Lippen. Auch er konnte sich dem Reiz der Kleinen nicht entziehen.
"Wie Ihr vielleicht bereits erfahren habt, feiern wir in den nächsten Tagen unser Jahresfest. Wie in jedem Jahr suchen wir für diesen Anlass noch einen Ehrengast."
Er wartete gespannt auf Lillys Reaktion. Doch die blieb zunächst aus. Der Mann fuhr fort.
"Im Namen des Fürsten von Umbra und des Magiers dieses Reiches frage ich Euch, ob Ihr bereit wärt, dieses Amt zu übernehmen."
Lilly zögerte. Mit einem solchen Angebot hatte sie nicht gerechnet. Das Jahresfest war natürlich in aller Munde, aber sie hatte sich nicht weiter mit ihm befasst. Sie ging davon aus, dass es sich dabei um eine Art Volksfest, einen Jahrmarkt mit Artisten und Gauklern handelte. Ganz nett, aber nicht weiter bemerkenswert. Und nun das! Eigentlich hatte sie keine große Lust, aus ihrem bescheidenen Leben auszubrechen, aber sie wollte es sich auch nicht mit dem Fürsten verderben. Es war schließlich so etwa eine persönliche Aufforderung, der sie sich besser nicht entziehen sollte. Aber sie war noch unentschlossen.
"Was muss ich denn als Ehrengast machen?" fragte sie darum.
"Im Grundsatz nichts!" gab der Steuereintreiber zurück. "Wir kümmern uns um alles. Wichtig ist nur, dass Ihr dieses Amt aus freien Stücken übernehmt. Wir wollen Euch zu nichts zwingen! Aber so eine Berühmtheit wie Euch würde sich als Ehrengast sehr gut machen."
Lilly traute dem Mann nicht über den Weg, dachte sich aber, dass sie mit ihrer Zustimmung nichts verkehrt machen konnte. Was sollte schon passieren?
"Na, gut! Ich mach’s," sagte sie darum. "Muss ich mich irgendwie auf meine Aufgabe vorbereiten?"
"Ach was!" winkte der Schwarze ab. "Seid einfach Ihr selbst. Dann wird schon alles gut gehen!"
Dann ging er.
Lilly suchte noch nach Erwin, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Doch dieser war im Moment nicht da und warten wollte sie nicht mehr. Sie war rechtschaffen müde.
Als sie das Haus Dloregs und Edlihs betrat, saßen die beiden wieder in ihrer Wohnstube und lasen aus den Karten. Lilly schlich sich in ihre Kammer, hörte aber noch, wie Edlih zu ihrem Mann sagte: "Habe ich es dir nicht gesagt? Sie ist es! Bist du jetzt endlich überzeugt?"

...
 

© W. H. Asmek
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Und schon geht es weiter zum dritten Teil...!
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