Rophus von Renon

2 Die Maske

I Das Stadttor

Trunnar. Nicht unbedingt die größte Stadt des westlichen Kontinents, aber dennoch recht anschaulich. Sollte man meinen. Das einzige, was über die Stadtmauern empor ragte, war das Schloss des Königs. Wie war doch gleich sein Name? Egal. Hinter diesem Berg von Titeln verbargen sich auch nur Menschen. Wichtig war es erst mal, zu ihm zu gelangen. Wer würde besser für den Tod eines Drachen bezahlen?
Man konnte bereits vom anderen Ende der Zugbrücke durch das Eingangstor sehen, was die Mauern verbargen. Das Schloss war nicht das einzige Gebäude, das Reichtum ausstrahlte. Viele andere Gebäude waren nicht weniger kunstvoll gebaut worden. Dieser Stadt ging es wirklich gut. Auf jeder freien Stelle wurden Handelsplätze eröffnet. Die wohlhabenden Händler nahmen sogar die Häuser ein. Das war nicht nur weit stabiler als ein Stand, der von allen Ecken beklaut werden konnte, sondern vermittelte auch ein ganz anderes Gefühl beim Einkauf. Was Rophus nur störte, waren diese ganzen Menschenmassen. Dicht an dicht drängten sie sich durch die Straßen, immer auf der Suche nach einem lohnenden Geschäft.

Doch weiter als bis zur Zugbrücke kam Rophus nicht. Natürlich versperrten die Wachen einer zwielichtigen Gestalt wie ihm den Weg. "Halt!" rief einer der beiden, als sie ihre Speere vor Rophus kreuzten. "Was wollt ihr und wer seid ihr überhaupt?" "Ich bin Rophus und will euren Herrscher sprechen", sagte dieser mit ruhiger, rauchiger Stimme.
Er schloss einen Moment die Augen. Er könnte jetzt einfach zugreifen und den beiden die Speere entreissen. Dann ein wenig das Kurzschwert geschwungen und dieses lästige Gespräch wäre beendet... und er hätte in kurzer Zeit die gesamte Stadtwache am Hals. Trotzdem amüsierte ihn der Gedanke. Den Wachen durch die Maske verborgen, machte sich ein Lächeln auf seinen Lippen breit. Aber er verwarf diesen Gedanken schnell wieder, als das Frage-Antwort-Spiel weiter ging. "Seine Majestät, König Hogan ist ein sehr beschäftigter Mann. Er hat keine Zeit für Landstreicher. Warum tragt ihr überhaupt diese Maske? Was habt ihr zu verbergen? Nehmt sie ab!"
Während der Ältere der beiden Rophus ausfragte, starrte ihn der Jüngere nur an. Er versuchte die ganze Zeit irgendetwas hinter der Maske zu erkennen. Er hatte eine ähnliche Maske schon einmal gesehen.

Vor einiger Zeit, als er einmal die Schatzkammer seines ehemaligen Herrschers gezeigt bekam. Sie stand in der Vitrine für Gastgeschenke. "Von Kaiser Cheng, anlässlich des 50 Herrscherjahres seiner Majestät", stand darunter. Die Samurais des Kaisers trugen solche Masken, sie schützten ihr Gesicht von Kinn bis Nasenbein. Vier Paar horizontaler Luftschlitze machten das Atmen überhaupt möglich. Dazu gehörte noch ein Helm, der weite Partien von Nacken und Schultern abdeckte. Ja, das waren noch Zeiten als Schatzwache. Man hatte einen Ruf, eine Würde und die Bezahlung erst. Bis zu diesem Einbruch in die Schatzkammer... aber daran wollte er jetzt nicht mehr denken. Er riss sich aus seinen Gedanken und blickte Rophus wieder an. Die Maske seines Gegenübers war etwas höher. Ein zweites Segment bedeckte Schläfen und Stirn. Der Helm fehlte, genauso wie die goldenen Verzierungen. Sie diente also hauptsächlich zum Verbergen des Gesichtes. Auch der restliche Kopf wurde von einer Art schwarzen Lederkapuze bedeckt. Der Wächter konzentrierte sich auf die Sehschlitze aber diese warfen einen Schatten auf die Augen, so dass selbst diese nicht zu erkennen waren. Es war eigentlich überhaupt nichts von dieser Gestalt zu erkennen. Die Lederrüstung, die Handschuhe. Jeder Zentimeter Haut war irgendwie verborgen. Langsam wurde er nervös. Wahrscheinlich hätte er die Fassung verloren, hätte sein Kollege den Besucher nicht nochmals aufgefordert, die Maske abzunehmen. Rophus schüttelte schweigend den Kopf. "So dann, verschwindet von hier!" Eine unendliche Ewigkeit von drei Sekunden verstrich. Der Landstreicher zog wortlos weiter seines Weges. Die Blicke der Wachen verfolgten ihn, als er entlang der Stadtmauern ging, bis er außer Sicht war. Dann sahen sie sich gegenseitig erleichtert an und nahmen ihre Dienstposition wieder ein.

II Die Hintertür

Die Zeit war optimal. Die gerade beginnende Mittagshitze machte die Wachen träge. Sie bemerkten nicht, dass Rophus die Stadtmauern umschlich. Den Wassergraben hatte er schon vor hundert Metern an einer schmalen Stelle durchschwommen. Nun bewegte er sich direkt an der Mauer entlang, den Blick nach oben gerichtet. Er fand, wonach er gesucht hatte. Ein Loch in der Mauer in vier Metern Höhe. Nur war die Mauer glatt gebaut und kein Mensch könnte da hochklettern oder so hoch springen. Rophus schaute sich noch einmal um, um sicher zu gehen, dass ihn niemand beobachtete. Dann zog er seine Handschuhe aus. Er holte aus und rammte die Krallen seiner linken Hand mit einem Schlag in die Wand. Sie würden halten und sein Gewicht tragen. Er betrachtete seine rechte Hand. So kräftig und so fest die Krallen auch waren, er hasste diesen Anblick von schuppiger Haut und Krallen immer noch. Er rammte auch seine rechte Hand in die Wand, zog sich hoch und die linke Hand aus der Wand, um sie ein Stückchen höher wieder hinein zu treiben. So erklomm er Zug um Zug die Mauer, bis er das Loch erreicht hatte. Es war nicht besonders groß, gerade groß genug, um durchzuschlüpfen. Er sah hindurch und erkannte, warum es nicht bemerkt worden war. Die Rückwand eines Hauses stand einen Meter davor. Aber warum sah es niemand von außen? Nun, hoffentlich genügte dieser Grund, um auch die Spuren zu übersehen, die er beim Klettern hinterlassen hatte. Er zwängte sich durch das Loch und ließ sich fallen. Kurz vor dem Boden breitete er seine Arme aus, um zwischen den Wänden seinen Sturz zu bremsen.
Seine Krallen hinterließen dabei tiefe Furchen, sowohl in der Hauswand, als auch in der Mauer. Es war herrlich schattig hier und ruhig. Ideal, um ein wenig auszuruhen. Nach seinem Kampf mit dem Drachen hatte er sich schon nach wenigen Stunden Rast auf den Weg nach Trunnar gemacht. Nach über einem Tagesmarsch gönnte er sich endlich wieder mal ein kleines Nickerchen.

III Erinnerung

Die Bilder, die Rophus sah waren anfangs verschwommen. Aber er brauchte sie nicht zu sehen, er kannte sie aus seiner Vergangenheit. Er sah sich selbst vor etwa hundertzwanzig Jahren. Er war jung und naiv damals. Als Sohn eines Bauern strich er über die Felder seines Vaters. Er wollte mehr werden als sein Vater. Die Landarbeit war mühselig. Er hatte mit 22 Jahren genug Kraft, um der Arbeit nachzukommen, aber sie langweilte ihn sehr und bot auch keine großartige Zukunft. In Gedanken versunken ließ er seinen Blick über die Felder wandern. Ein leichter Wind rauschte durch das Korn. Doch plötzlich veränderte sich das Geräusch. Es wurde kräftiger und rhythmisch. Es schien von hinten auf ihn zuzukommen. Gerade, als er sich umdrehen wollte, um danach zu schauen, stand er inmitten eines großen Schattens. Er riss seinen Kopf nach oben und wurde von der Mittagssonne geblendet, die genau über ihm stand. Zu spät. Er rieb sich die Augen und wandte sich dem merkwürdigen Geräusch zu, das sich jetzt von ihm entfernte. Als er langsam wieder deutlich sehen konnte, erkannte er einen davonfliegenden Drachen. Von hier aus schien er klein zu sein, aber laut Berichten waren sie riesig. Man erzählte sich Schauermärchen und Heldensagen rund um Drachen. Aber ein so ruhig dahingleitender Riese, der einfach nur seinen Flug genoss, war nie erwähnt worden. Fliegen. So wie sein Blick dem langsam verschwindenden Drachen folgte, folgten seine Gedanken fortan diesem Wunsch von Größe, Kraft, Mystik und... Fliegen.
Wie würde es wohl sein, hoch über den Wolken oder dicht über dem Boden einfach dahinzugleiten, die ganze Welt im Überblick?

Noch ein Vierteljahr, länger hielt er es auf den Ländereien seines Vaters nicht mehr aus. Er wollte die Welt sehen, Abenteuer erleben und... fliegen, egal wie. Da er in Gedanken versunken immer mehr seine Arbeit vernachlässigte, fiel es dem Vater nicht schwer, seinen Sohn gehen zu lassen. Wahrscheinlich war ein Knecht einfacher zu versorgen und tat mehr für sein Geld.
So ließ er ihn mit einem Brot, einem Dolch und einem kleinen Bündel Kleidung losziehen. Geld würde er sich schon selbst verdienen.

Der Traum verblasste plötzlich.
Erschrocken drehte Rophus seinen Kopf zur Seite. Er konnte sich aber wieder beruhigen. Ein Hund hatte sein kleines Versteck zwischen den hohen Wänden entdeckt, ein Streuner. Er sah grau und schmutzig aus, schien sich aber darum nicht zu sorgen. Er saß einfach nur da und hechelte. "Verschwinde, Kleiner. Du wirst mich noch verraten. Zu fressen hab ich eh nichts für dich. Komm, geh." Nichts. Der Streuner schloss nur kurz seine Schnauze, legte den Kopf etwas zu Seite und hechelte dann weiter. Rophus lächelte ein wenig hinter seiner Maske. Selten stand jemand freiwillig in seiner Nähe, ohne ihm mit Aggression zu begegnen. Er fühlte sich entspannt, vielleicht sogar etwas glücklich. Er streckte seine Hand aus, um den Streuner etwas zu streicheln. Dieser stand auf und wich einen Schritt zurück. Zuerst war Rophus etwas verwirrt, dann wurde ihm klar, dass er seine Handschuhe nicht wieder angezogen hatte. Enttäuscht zog er seine Hand wieder zurück. Der Streuner war sichtlich angespannt und blieb auf Distanz. Er schlug mit der Faust leicht gegen die Wand, an die er gelehnt war. Hoffentlich hatte das niemand im Haus bemerkt. Er sah wieder zum Hund hinüber, der sich kein Stück gerührt hatte.
Er griff an seine Kapuze und zog sie zurück. Zum Vorschein kam ein mit grünen Schuppen bedeckter Hinterkopf. In der Mitte verlief eine Reihe winzig kleiner Zacken vom Halsansatz hinab entlang der Wirbelsäule. Keine Spur von Ohrmuscheln. Nur drei Lederriemen, die die beiden Segmente der Maske hielten. Diese löste Rophus jetzt und nahm die Maske ab. Zwei bernsteingelbe Augen mit schlitzförmigen Pupillen sahen den Hund an, als ein mit spitzen Zähnen bewehrter Mund sprach: "Du solltest jetzt wohl lieber verschwinden." Der Hund wich ein paar Schritte zurück und zog den Schwanz ein, machte kehrt und rannte leise winselnd davon.
Rophus legte die Maske wieder an und zog sich diesmal auch die Handschuhe über.
Er griff in seine Tasche und brachte das abgesägte Horn des Drachens hervor. Er drehte es nachdenklich in seiner Hand. "Viel Schmerz und ein Auge hat es dich gekostet..." er blickte gen Himmel. Es konnten höchstens zwei Stunden vergangen sein. Er senkte seinen Blick wieder auf das Horn und spürte seine Müdigkeit zurückkehren.

IV Der Auftrag

Diesmal sah er sich vor Dia Mon, einem alten Zauberer. Gerüchte und etwas Glück hatten ihn vor sein Haus, mitten im Hochgebirge, geführt. Vielleicht konnte Magie ihm ja in die Lüfte verhelfen.
"Groß und stark willst du werden, fliegen willst du können. Soso... Nun es würde sich anbieten, dich in einen Drachen zu verwandeln." Rophus´ Augen strahlten. "Nun, mein junger Freund, das ließe sich bewerkstelligen. Natürlich für eine kleine Gegenleistung." Rophus Begeisterung steigerte sich immer weiter. Selbst ein Schlag mitten ins Gesicht hätte diesen Gesichtsausdruck nicht verändern können. "Für deinen Zauber und die Ergänzung meiner Artefaktsammlung brauchen wir etwas Drachenblut. Und natürlich wirst DU es besorgen." "Na klar! Schon so gut wie erledigt! Und was mach ich mit der anderen Hand?", dachte sich Rophus. "...aber, mein Freund, so einfach wird das nicht. Ich gebe dir ein Schwert, das in der Flamme eines Drachen geschmiedet wurde. Es kann den Schuppenpanzer dieser Wesen mit Leichtigkeit durchdringen. "Super. Wie viel Blut braucht ihr?" "Hahaha... Nein, so einfach wird das nicht für dich. Einen Drachen töten könnte man mit viel einfacheren Mitteln. Nein, du wirst ihn am Leben lassen, ihm nur etwas Blut abnehmen, dieses Fläschchen damit füllen und zu mir zurückkommen. Du wirst weder ihn, noch sonst einen Drachen töten. Schwört das oder spart euch den Weg!" Rophus dachte einen Augenblick nach. Nie einen Drachen töten - selbst nicht zur Verteidigung? Nun... Er müsste dann eben allen Drachen aus dem Weg gehen. Die meisten waren eh unbesiegbar. Und schließlich hatte er ja ein Ziel vor Augen.
Rophus hob den Kopf wieder und blickte Dia Mon tief in die Augen. "Ja... Ja, ich schwöre es."
Zufrieden lächelte der alte Mann und drückte Rophus ein leeres Fläschchen mit Tragegurt und das besagte Schwert in die Hand. "Geh nur auf die andere Seite dieses Berges. Am Südhang wirst du eine bewohnte Höhle finden. Dort findest du auch, wonach wir suchen. Geh nun."
Und Rophus ging. Aber er ging nicht weit. Das Gelände verlief immer schräger, je weiter er sich von Dia Mons Haus entfernte. Nach zwei Tagen des Fallens, Kletterns und Hangelns erreichte er endlich den Südhang. So umständlich sein Weg gewesen war, schien er doch der einzig menschenmögliche zu sein. Er stand auf einem Vorsprung, zwei Meter über dem Höhleneingang. Von da an ging es nur noch steil bergab ins Dunkle. Nur die nadelartigen Spitzen einiger Berge waren da unten zu erkennen. Er wollte gerade hinabsteigen, als er ein Schnaufen aus der Höhle vernahm. Etwas Großes war dort aufgewacht und begann jetzt, aufzustehen. Er hörte Schritte, schwere Schritte, die immer schneller in Richtung Höhleneingang kamen. Das Echo ließ nach, das Geräusch der Schritte wurde heller und schneller. "Er muss dem Eingang nah sein. Ob es derselbe Drache ist, den ich damals gesehen habe?", dachte Rophus. In der nächsten Sekunde sprang ein großer, erdfarbener Drache vom Rand des Höhleneingangs, ließ sich ein paar Meter in die Tiefe stürzen und breitete dann die Flügel aus. Noch wenige Meter, dann stieg er wieder auf.
Mit wenigen Flügelschlägen beschleunigte er ein wenig und war dann um die Gipfel der Berge verschwunden. Rophus betrachtete ungläubig das ihm gegebene Kurzschwert. Diese Waffe sollte so einem Riesen gefährlich werden können? Er kletterte zum Eingang hinab und betrat die Höhle.
Weit konnte er nicht sehen. Er tastete sich ein Stück vor, stieß aber auf kein Ende der Höhle. Hier sollte er sich mit einem riesigen Drachen duellieren, ihn verwunden, aber nicht töten? Er sah zum Licht des Eingangs zurück. Er musste nicht kämpfen. Er konnte bekommen, was er suchte, ohne sich dem Drachen stellen zu müssen. Nach einer Stunde der Vorbereitung kauerte sich Rophus hinter einen Stein. Das Versteck war simpel, aber vielleicht würde ihn der Drache ja übersehen.

Tatsächlich war der Drache etwas unaufmerksam, als er zwei Stunden später zur Höhle zurückkehrte. Er war satt und ein wenig müde. Er bemerkte nicht einmal den Schnitt im Fuß, als er auf das Schwert trat, das Rophus am Höhleneingang versteckt hatte, mit Steinen begraben, so dass nur die Schneide längst hervorragte. Zufrieden legte er sich ein wenig tiefer in der Höhle zum Boden, rollte sich in seinen Schwanz ein und schlief ein. Ein ruhiges, gleichmäßiges Schnarchen setzte ein. Rophus stand langsam auf und schlich zum Drachen hinüber. Das Licht war schwach aber das Blut, das aus der Schnittwunde trat, war gerade so zu erkennen. Rophus öffnete seine Flasche und hielt sie unter die Schnittwunde. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Flasche gefüllt war, denn das Blut floss langsam. Plötzlich spürte Rophus Wärme auf seiner Hand, die Flasche war voll und das Blut lief über seinen Handrücken. Er nahm die Flasche ab und verschloss sie wieder. Er stand auf und ging direkt auf den Höhleneingang zu, nahm dort das Schwert auf und steckte es in die Scheide zurück. Er hatte es geschafft, er musste nur noch von hier verschwinden.
Genauso umständlich wie er gekommen war, verschwand er von diesem Abgrund.

"Du hast also bekommen, wonach ich dich geschickt habe. Ich danke dir. Komm, nimm Platz, ruh dich aus. In der Zwischenzeit werde ich einen Trank zubereiten."

Als Rophus aufwachte, stieg ihm ein furchtbarer Gestank in die Nase. Es brannte weder, noch lag etwas rauchartiges in der Luft, es stank nur furchtbar. Er eilte zur Tür und riss sie auf, um etwas frische Luft zu atmen. Doch als er die Tür öffnete schlug ihm der Gestank erst richtig entgegen. "Was tut ihr da?" fragte er Dia Mon, der vor dem Haus einen kleinen Topf aufgestellt hatte und irgendetwas kochte. "Hahaha. Mein Freund, wer sagte euch, Magie würde immer gut riechen? Ihr kommt genau richtig, es ist fertig. Kommt. Probiert." Rophus trat ungläubig näher. "Den ganzen Topf austrinken, in einem Zug und so heiß, wie es jetzt ist, sonst wirkt es nicht."
Rophus stand immer noch ungläubig da. So, wie das da roch, wie sollte es da erst schmecken?
"Los, trinkt!", sprach Dia Mon. Rophus nahm den Topf mit lappenumwickelten Händen auf, setzte an und schluckte. Es schmeckte tatsächlich fürchterlich, nach Schwefel, Blut, etwas metallisch und nach irgendwelchen undefinierbaren Substanzen. Fast hätte er den Trank wieder ausgespuckt aber irgendwie gelang es ihm doch, diese Brühe runterzukriegen. Er setzte den Topf wieder ab und atmete langsam. Er versuchte irgendetwas zu fühlen, irgend eine Veränderung an seinem Körper, aber alles, was er spürte, war aufsteigende Übelkeit. Ihm wurde schwindlig. Er blickte zu Dia Mon hinüber, der nur da stand und ein paar undeutliche Gesten machte, die Flasche, halbvoll mit Drachenblut an die Hüfte gebunden. Er murmelte eine Formel, dann wurde Rophus schwarz vor Augen.

V Ein neues Selbst

Wie aus einem Rausch wachte Rophus auf. Es war spät geworden und am Horizont, war nur noch die Abendröte zu erkennen. Ihm war immer noch schwindlig und sein Kopf schmerzte. Seine Arme und Beine fühlten sich erschöpft an. Seine Arme? Wie ein zweites Paar Arme über seinen eigenen fühlte es sich an, die Finger schwach, dafür die Oberarme erstaunlich kräftig. Er spreizte die Finger seiner linken Hände. Tat seine gewohnte Hand, was er erwartete, schienen die Finger der Neuen durch irgendetwas am kompletten Ausstrecken gehindert zuwerden, als wären sie aneinander irgendwie... gefesselt. Diese Fesseln waren aber nicht sehr eng und irgendwie dehnbar aber trotzdem beständig. Er konnte sie selbst fast fühlen. Er KONNTE sie fühlen, als der Wind darüber strich. Endlich entschloss er sich, die Augen zu öffnen. Er sah Licht und Schatten aber alles total verschwommen. Er wollte sich gerade die Augen reiben, als seine Finger eine Art drittes Augenlid berührten. Er stoppte seine anfangs hastige Bewegung, tippte noch mal vorsichtig auf das neue Lid und schob es zurück. Die Sicht wurde klarer, aber nicht das Gesehene: eine große massive Kralle, direkt dahinter eine Art Flügel, wie der einer dieser komischen Nachtflieger... Fledermäuse. Genau, so hatte Vater sie immer genannt. Er streckte seine linke Hand von sich, der Flügel vollzog, so gut er konnte, die gleiche Bewegung. Erschrocken versuchte er, sich aufzurichten, aber irgendetwas zog sein Becken nach unten. Da, wo sonst sein Steißbein endete, hing jetzt ein langer Schwanz. Er schien sich in seinen Bewegungen an die Wirbelsäule anzupassen und sein Gleichgewicht zu halten, wenn man sich an das Gewicht gewöhnt hatte. Noch einmal holte Rophus Schwung und stützte sich auf alle Viere... Sechse. Er spannte seine Arme an, damit sie still hielten und tatsächlich, jetzt konnte er seine Flügel unabhängig bewegen, wenn er sich genügend darauf konzentrierte. Zwar versuchten auch seine Arme sich nach oben zu strecken, aber er behielt sie im Griff.
Er sah geradeaus über seine Nasenspitze hinweg auf Dia Mon. Seine Nasenspitze! Sie war einige Meter weiter weg, als gewohnt und an ihrem Ende prangte ein kleines Horn. Ungläubig griff er danach. Das Kratzen am Horn fühlte er im ganzen Schädel. Er schob einen Finger zwischen die Lippen und ertastete eine Reihe scharfer, spitzer Zähne. "Haha. Beißt euch lieber nicht auf die Zunge." sprach der Alte zu ihm. "Nun, ihr wolltet doch fliegen, dachte ich. Probiert es doch einfach mal aus. Es ist leichter, als es aussieht." Er wies auf einen Hügel in der Nähe von dem aus es lang und gleichmäßig bergab ging. Rophus versuchte sich auf die Beine zu stellen und aufrecht zu gehen aber das Gewicht oberhalb des Becken verhinderte das. Wohl oder übel musste er sich auf allen Vieren fortbewegen. Am Hügel angekommen, sprach ihn Dia Mon von der Seite an: "Versucht es erst mal mit Gleiten. Spannt eure Schwingen, haltet sie ausgestreckt und springt ab. Ihr habt dem Drachen in der Schlucht zugesehen. Das Feingefühl werdet ihr schon von selbst bekommen, wenn ihr erst mal in der Luft seid." Er hatte ihm zugesehen, als er das Drachenblut besorgte? Wie? Er war ein Zauberer, natürlich mit Magie... irgendwie. Aber das war im Moment nicht so wichtig. Rophus konzentrierte sich wieder auf den Flug, der ihm bevor stand.
Wie ihm Dia Mon gesagt hatte, breitete er die Schwingen aus, nahm ein wenig Anlauf und sprang ab.

Er hatte erwartet, dass seine Flügel einfach unter seinem Gewicht nach oben wegknicken würden, aber das taten sie nicht. Ihre Kraft reichte aus, ihn locker zu tragen, anfangs dicht über dem Boden, dann hob er die Schwingen vorne ein wenig an und gewann an Höhe. Er versuchte, ein paar Flügelschläge so durchzuführen, wie er sie in der Schlucht gesehen hatte. Es war etwas anstrengender, als der einfache Gleitflug aber es war auszuhalten. Obwohl er schon mehrere hundert Meter entfernt war, konnte er Dia Mon immer noch deutlich verstehen: "Mein Freund, fliege mit deinen Flügeln. Arme und Beine helfen dir nicht dabei, egal wie schnell du damit schlägst. Leg sie doch einfach an." Er versuchte sich das Lachen zu verkneifen. Dieser fliegende, strampelnde Drache sah einfach zu komisch aus. "Übermorgen bei Sonnenuntergang bist du wieder hier!"

Rophus mochte nicht nach unten sehen. Er hatte den Blick nur nach vorne gerichtet, nach Westen... nach Hause.

Der gerade Weg hierher hätte ihn viele Tage gekostet aber so war es nur noch eine Frage von Stunden, bis er sein Heim erreichen würde. Vielleicht war Fliegen leicht aber nicht so angenehm, wie er erwartet hatte. Der Wind in den Flügeln, den freien Ausblick durch die Wolken auf den Sternenhimmel. Aber er wusste jetzt auch, wie es war, die Welt von hier oben zu sehen, von so weit oben. Die Farben verblassten zu Grautönen aber die Umrisse von Bäumen und Wegen waren selbst bei dieser Dunkelheit noch gut zu erkennen. Auch, dass es ein weiter Weg bis nach unten war, entging Rophus nicht. Schnell sah er wieder nach vorne, um die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken.

Er reduzierte seine Höhe. Von hier aus auf die Erde zu sehen, war weit angenehmer, aber man wurde auch gesehen. Wo immer er auch den Weg eines Wanderers kreuzte, floh dieser sofort in den nächsten Busch oder rannte schreiend davon. Irgendwie kam er sich... großartig vor. Er wurde geachtet, er wurde respektiert, er wurde... gefürchtet. Verflogen war die gute Laune bei diesem Gedanken... Er drehte ab und mied die Wege. Er nahm den geraden Weg direkt über die Felder, den gleichen Weg, den der Drache damals genommen hatte, nur in umgekehrter Richtung. Am frühen Morgen segelte er dicht über die Ähren des Korns hinweg und ließ seine Hand durch die Halme streifen. Er hatte keine Vorstellung, was ihn zu Hause erwartete, aber damit hatte er nicht gerechnet.

Das Gut seines Vaters war leer, kein Mensch war da. Ein paar Hühner liefen herum und gackerten, sonst war es ruhig. Rophus setzte vor dem Hoftor auf, zog beim Bremsen tiefe Furchen und wirbelte viel Staub auf. Rophus blickte immer noch erstaunt über den Hof. Hatte niemand seine Ankunft bemerkt? Doch, man hatte! Das große Tor der Scheune wurde aufgestoßen, das Korn hinter ihm begann zu rascheln. Wie aus einem Munde dröhnte der Aufschrei: "DER DRACHE!!!"
Sie stürmten mit Mistgabeln und Stangen, Schaufeln und Lanzen auf Rophus zu. Noch ehe er sich einmal komplett umdrehen konnte, um zu schätzen, wie viele es waren, fand die erste Holzstange ihr Ziel an seiner Schulter. Sie konnte den Schuppenpanzer nicht durchdringen und zerbrach. Nicht so die Mistgabel an seiner Taille. Auch die Schaufeln, die wie Äxte gegen seine Fußgelenke geschlagen wurden, schmerzten sehr. Von der Situation völlig überfordert bekam er eine Art Sodbrennen. Er wollte fliehen, doch er wusste nicht recht wohin. Aus dem Stand konnte er nicht starten und die Menge über den Haufen rennen? Er kannte ihre Gesichter, jedes einzelne aus Zeiten, da er noch selbst hier gelebt hatte. Verzweifelt schloss er die Augen, in der Hoffnung, aus einem bösen Traum aufzuwachen. Er spürte den Druck in seinem Inneren steigen, während von außen Hiebe und Stiche auf ihn kamen. Als er die Augen wieder öffnete, sah er noch im letzten Moment eine Lanze auf seinen Kopf zufliegen. Instinktiv duckte er sich. Auf einen langgezogenen Schrei hin blickte er nach vorne. Er sah, wie sein Vater mit einer Heugabel schreiend mit hochrotem Kopf und blankem Hass auf ihn zugestürmt kam. Plötzlich überkam Rophus eine Art Würgreiz. Er schloss seine Augen und öffnete, durch Muskelkrämpfe gezwungen, seinen Mund. Und dann wurde es still. Nur das beständige gedämpfte Rauschen eines rasenden Feuersturms direkt vor ihm war zu hören. Als der Krampf nachließ, schloss Rophus seinen Mund wieder, hielt die Augen aber noch geschlossen. Er hörte ein verängstigtes Raunen durch die Reihen der Angreifer. Ein paar waren in Panik davon gerannt und hatten schon einen ordentlichen Abstand erreicht. Es roch nach Angst unter den Männern, nach Feuer um ihn herum, nach verbranntem Fleisch vor ihm. Es roch nach Tod.
Rophus ließ die Augen geschlossen. Er war sich sicher, keine Hindernisse mehr vor sich zu haben. Er schritt langsam über den verbrannten Boden und die Asche, die vor ihm lagen, er spürte die Wärme an seinen Handflächen und Fußsohlen. Als er wieder die übliche Kälte des Ackers unter sich wusste, begann er zu rennen und so kräftig mit den Flügeln zu schlagen, wie er nur konnte. Mit einem kläglichen Schrei hob er ab, wendete und kehrte nach Osten zurück.

"So früh schon wieder hier, junger Freund. Es ist erst kurz nach Mittag. Ich meinte ihr würdet euren Tag genießen, vielleicht sogar erst morgen wiederkommen."
Rophus schwieg einen Moment, um sich zu sammeln, dann sprach er kurz und schnell: "Verwandelt mich wieder zurück, alter Mann. Schnell!" Dann schwieg er wieder und starrte gerade in Richtung Horizont. "Habt ihr einen schlechten Tag erlebt?" Rophus schluckte, drehte jetzt seinen Kopf zu Dia Mon. "SCHNELL hab ich gesagt!" brüllte er dem Zauberer fast hysterisch ins Gesicht, ein leises verzweifeltes "Bitte..." folgte.
"Schon gut. Harrt einen Moment aus, ich hole das Gegenmittel." Dia Mon verschwand kurz im Haus. Durch das Fenster sah ihn Rophus in einem Buch blättern. Mit einer Flasche, gefüllt mit einer gelben Flüssigkeit kam er wieder heraus. "Hier, trinkt und bereitet euch auf die Rückverwandlung vor." Rophus trank nicht, er warf sich die Flasche ins Maul, zerbiss sie und schluckte alles runter. Körperliche Schmerzen waren ihm egal, er wollte nur diesen Körper loswerden. Wieder begann Dia Mon einen Spruch aufzusagen. Diesmal fügte sich Rophus seinem Körper, legte sich auf den Boden und schlief ein.

Vier Gliedmaßen, vier, keine Flügel mehr. Das war das erste, was Rophus auffiel, als er wieder erwachte. Beim Aufstehen bemerkte er, dass er erstens nackt und zweitens ohne Schwanz war. Er hatte seinen gewohnten Körper wieder. Er fühlte sich leicht und warm an. Heiß, ja sehr heiß. Die Sonne musste seit Stunden auf ihn geschienen haben und er kochte innerlich fast. Er suchte Zuflucht hinter einer dicken Eiche, um sich im Schatten etwas abzukühlen. Aus Gewohnheit wollte er sich den Schweiß von der Stirn wischen, aber da war kein Schweiß. Er sah auf seine Hand und erkannte die gleichen rotbraunen Schuppen auf seinem Handrücken, die er auch als Drache noch eben trug. Auch waren immer noch Krallen, was früher einmal Fingernägel waren. Er hatte seine menschliche Form wieder, steckte aber immer noch in der Haut eines Drachen.
Er blickte entgeistert zu der Stelle, wo Dia Mon vorhin noch stand. Jetzt lag er da.
Rophus eilte zu ihm, drehte ihn auf den Rücken und sprang erschrocken von ihm zurück. War der Zauberer eben noch ein alter Mann, jetzt sah er aus, als währe er schon seit Wochen tot. Abgemagert, völlig farbloses Haar, weder Atem noch Puls. 
Hatte ihn das Ritual so sehr ausgelaugt oder wurde er durch eine andere Macht getötet. Jedenfalls musste es passiert sein, als er dabei war, Rophus in einen Menschen zu verwandeln. Das Drachenblut. Es war der Schlüssel. Bestandteil für die Verwandlung und die Rückverwandlung. Vielleicht war noch etwas im Haus versteckt. Nichts. Nur das Buch, in dem Dia Mon vorhin noch geblättert hatte. Rophus verstand kein Latein aber mit den Bildern konnte er etwas anfangen.
Ein Drache, daneben ein Pfeil, der auf einen Menschen wies, darunter eine Art Rezept und daneben ein Vers. Er riss die Seite aus dem Buch. Vielleicht wusste jemand anderes ja etwas damit anzufangen. Ein paar Seiten weiter fand er das gleiche Bild noch mal: Drache-Pfeil-Mensch. Nur waren diesmal keine Worte darunter, sondern noch ein Bild, das einen weiteren Drachen zeigte. Sein Herz war umrandet hervorgehoben und von einem Speer durchbohrt. Würde man also den Drachen töten, durch dessen Blut das Ritual vollzogen wurde, würde die Verwandlung rückgängig gemacht?!? War es wirklich so? Er hatte geschworen, nie einen Drachen zu töten, aber nur der Tod des Drachen konnte ihn erlösen... der Tod des Drachen... der Tod... Tod...

VI Chaos

Rophus schreckte hoch. Das Wort "Tod" schallte noch immer in seinem Kopf. Er sah nach oben. Nur noch die schwindende Abendröte. Er hatte den ganzen Nachmittag verschlafen, ohne dass ihn jemand entdeckt hatte. Er rappelte sich hoch, ging durch die Gasse zum ehemals so prächtigen Marktplatz. Die Stände waren schon abgebaut und kein Mensch lief mehr über die Straßen. Hier war nichts mehr zu holen. Er hielt auf das Schloss zu.

Nur der Wind war durch die Gassen zu hören. Der Wind, seine Schritte und ein gleichmäßiges, leises Flügelschlagen. Rophus stockte, wand sich nach links und blickte in den Nachthimmel. Er erkante die Gestalt des "Großen". Er warf das abgetrennte Horn ein paar Meter in Richtung des Drachen. Wem wollte er einen toten Drachen verkaufen, der gerade auf die Stadt zuhielt? Es war Zeit, zu verschwinden. Rophus suchte wieder die Gasse auf, aus der er gekommen war. Ein Wachmann kam ihm entgegen und rannte ihn fast um. "Aus dem Weg, Bürger, wir werden angegriffen!" Dann war er wieder verschwunden. Rophus bog in seine Gasse ein. Hinter sich vernahm er die ersten Schreie und das Scheppern vieler Rüstungen. Noch einmal blickte er hinter sich und sah den "Großen" am Himmel den ersten Pfeilen ausweichen. Er ergriff einen Wachmann, hob ihn in die Luft und ließ ihn irgendwo zwischen den Häusern fallen. Rophus ging zu seinem Mauerdurchbruch. Wieder erklomm er die Wand und sah erst mal vorsichtig hindurch. Der "Große" hätte jetzt ohne Bedenken der "Kleine" heißen können. Von Norden hielt ein weit größerer, roter Drache auf Trunnar zu. Fast lautlos glitt er dicht über den Boden. Zwischen seinen Zähnen erschien ein rotes Leuchten und er öffnete sein Maul. Rophus sah einen Feuerball genau auf sich zufliegen, zwängte sich fast panisch durch die Öffnung und ließ sich fallen. Einen Augenblick später ging das fliegende Inferno durch sein Loch und schlug auf die Hauswand ein. Rophus sprintete am Graben entlang, drehte sich um und sah, wie das Haus krachend einstürzte und Teile der Mauer einriss. Er setzte seine Flucht fort. Aus einigen hundert Metern hörte er immer noch die Schreie der Menschen und die Explosionen. Das Abendrot verging und die brennende Stadt, über der die zwei Drachen kreisten, tauchte den Nachthimmel in ein leuchtendes Rot.
 

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Hier geht es zum 3. Teil: "Die Helden von Trunnar"


 
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