Als Wai zu sich kam konnte er sich nur verschwommen
an vorher erinnern. Kouwahs Stadtgarde war angerannt gekommen, hatte sie
wortlos gepackt und dann war es schwarz um ihn geworden. Sein Kopf dröhnte.
Es musste ein harter Schlag gewesen sein. Er tastete um sich, spürte
Gitterstäbe.
Auf einmal hörte Wai aus der Ferne ein
Husten.
"Ist da jemand?", rief er in die Finsternis.
"Wer soll da schon sein!", antwortete eine
fremde und entkräftete Stimme. "Hier sind die Todgeweihten, Gangster,
alle, die in Kouwah etwas verbrochen haben. Aber es ist wirklich sehr seltsam,
dass du nicht weißt, wer wir sind, wenn du ins Verlies geworfen wurdest."
"Ein Verlies!", wisperte Mallow erschrocken
und klammerte sich an Wais Arm.
Das erklärte auch das Gitter. Ein plötzlicher
Feuerstrahl schoss hinter Wais Rücken hervor und schmolz das Schloss
in Sekundenschnelle.
"Riyonn!", fuhr Imogen zusammen. "Spinnst
du? Spar dir deine Kräfte."
Doch Riyonn schüttelte nur den Kopf.
Er befand sich sowieso schon wieder im Halbschlaf. Wai stieß mit
dem Fuß gegen etwas am Boden. Mit seiner Hand fühlte er danach.
Als er merkte, dass es sich um einen Totenschädel handelte, ließ
er ihn sofort los. Angewidert zog er seine Hand zurück. Dann stemmte
er sein Bein gegen das Gitter. Es gab widerstandslos nach, und Wai trat,
Riyonn geschultert und gefolgt von Imogen und Mallow, in den Mittelgang
des Verlieses.
Mit langsamen vorsichtigen Schritten gingen
sie den Gang entlang. In der Ferne erblickten sie den Schein einer Fackel.
"Vielleicht ist da der Ausgang.", meinte Imogen
und ging zögernd voraus.
Tatsächlich folgte der Fackel eine Steintreppe.
An der Wand gelehnt schlummerten zwei eingenickte Wächter mit den
Schlüsseln. Bald folgten mehr Fackeln, die den Weg auf der Treppe
wiesen.
Irgendwann, es kam der Gruppe vor wie eine
Ewigkeit, endete auch diese Treppe und mündete in einen großen
hell erleuchteten Raum.
"Ich kann nicht mehr", stöhnte Imogen
und sank zu Boden. Auch Mallow musste sich setzen.
"Das geht nicht! Wir müssen Riyonn zu
einem Arzt bringen, sofort!", entgegnete Wai, den eigentlich nur noch der
Gedanke an Riyonns möglichen Tod weiter trieb.
Aber Imogen und Mallow konnten beim besten
Willen nicht mehr. Wenn auch Wai nur noch sehr wenig Kraft hatte, riss
er sich zusammen und beschloss alleine weiterzugehen. Doch dazu kam es
nicht. Zwei stark gerüstete Wachen standen vor ihnen, hinter ihnen
ein Mann, der in ein edles königsblaues Gewand gekleidet war und sich
seinen Hut bis tief ins Gesicht gezogen hatte.
"Wen haben wir denn da?", grölte einer
der Wachen und zog Wai an seinem Zopf.
"Flossen weg!", erregte sich Wai und schnitt
mit seinem Lyk-tai die Hand des Wächters ab.
"Du widerlicher... das wirst du bereuen!"
Die Wachen zogen ihre gewaltigen Zweihänder.
"Halt!", warf der Mann ein. "Was ist mit ihm?"
Der Mann zeigte auf Riyonn.
"Er ist schwer verletzt und liegt im Wundfieber.",
antwortete Wai.
Der Mann nickte verständnisvoll.
"Wart ihr Jasons Sklaven?"
"Nein, wir waren... Opfer... Opfer für
seinen Sektenkult...", erklärte Wai.
"Kommt mit, alle vier. Wachen, helft ihnen!"
Er ging voraus, über mehrere Treppen
und Wendeltreppen, bis sie schließlich in einem kaminbeheizten Raum
mit Weidenmatten auf dem Boden und einem großen Bett, einer Wanne
und zwei Stühlen angekommen waren. Mit einer Handbewegung schickte
der Mann die Wachen fort und flüsterte ihnen noch etwas zu.
"Leg ihn aufs Bett, ich lasse einen Heiler
kommen.", meinte er zu Wai.
Mallow und Imogen nahmen neben Riyonn Platz.
Ohne dass sie dort lange saßen kippten sie vollends auf das Bett
und schliefen ein. Wai konnte sich auf den Weidenmatten auch nicht lange
zwingen wach zu bleiben. In der Zwischenzeit besorgte der Mann mit dem
Hut die Waffen seiner Gäste.
Einige Zeit war vergangen. Wai schlug die Augen
auf. Sein Kopf pochte, der Rücken schmerzte. Ein starkes Hungergefühl
stieg in ihm auf. Auch Mallow und Imogen saßen wieder auf der Bettkante,
während sie sich den Schlaf aus den Augen rieben und den noch tief
im Schlummer liegenden Riyonn begutachteten. Als er sich aufsetzte, bemerkte
er den Mann mit dem Hut, der ihm eine Schale mit einem undefinierbaren
Eintopf entgegenstreckte.
"Esst etwas. Ihr seht aus, als ob Ihr längere
Zeit über nichts mehr zwischen den Zähnen gehabt hättet.",
meinte der Mann lächelnd.
"Wer bist du? Und weshalb hilfst du uns?",
fragte Wai.
Der Mann lachte. Er nahm den Hut ab und nun
konnte Wai in ein braungebranntes, fröhliches jugendliches Gesicht
sehen. Mit einer schlanken geraden Nase, aufgeweckten braungrünen
Augen und lange, in einen Zopf gebundenen schwarze Haare, die im Licht
rot glänzten.
"Ich bin Rot, Rot Deus, Thronfolger von Randuin."
Imogens und Mallows Münder klappten vor
Erstaunen auf. Er grinste, gab den Mädchen ebenfalls etwas zu Essen,
welches diese freudig annahmen und in sich hineinschaufelten, und meinte
weiter:
"Ihr erzähltet davon, dass Ihr Jasons
Opfer wart. Für eine ganze Sekte sind drei Gefangene außer euch
aber nicht berauschend viele..."
"Drei? Es sind viel mehr!" Mallow stand auf
und trat vor Rot. "Ich kenne Euch."
"Es ist nicht schwer mich zu kennen, das ganze
Reich kennt mich."
"Nein, ich meine, ich glaube mich zu erinnern,
Euch als Kind schon gekannt zu haben."
Rot fuhr erstaunt auf.
"Wie heißt du?"
"Mallow Miren. Aber ich bin seit meinem dritten
Lebensjahr verschollen gewesen, zusammen mit meinem älteren Bruder
Fiodri."
"Fiodri... Mallow, diese Namen kommen mir
bekannt vor. Auch Miren glaube ich schon gehört zu haben."
Rot kratzte sich am Kopf.
"Wie heißen deine Eltern?"
"Ich... ich weiß es nicht mehr. Ich
war meistens bei meinen Zofen und meinem Bruder. Er war damals schon siebzehn
und ich habe ihn geliebt und bewundert. Vielleicht könnt Ihr euch
besser erinnern wenn ich ihn Euch beschreibe. Er hatte sehr helle, fast
weiße lange Haare, eisblaue kalte Augen und schwarze Augenränder.
Er war immer totenbleich, trug oben meist nichts, eine beige Leinenhose
und schwarze Lederstiefel mit großen Schnallen. Er hatte stets durchtrainierte
Muskeln und hatte immer eine Kette mit einem Siegelring um den Hals. Vor
seinem freiwilligen Tod hat er mir diesen überlassen. Kurz bevor er
sich mit mir dieser Sekte angeschlossen hatte, hatte er sich vier Ohrringe,
einen Lippen-, Augenbrauen- und Bauchnabelpiercing und zwei Brustwarzenpiercinge
stechen lassen. Er... hm. Kanntet Ihr ihn?"
Rot überlegte.
"Es... tut mir leid, ich habe gerade irgendwie
eine große Gedächtnislücke. Aber ich kann meinem Gedächtnis
im Laufe der Zeit bestimmt auf die Sprünge helfen."
"Mallow?", kam Imogen dazwischen. "Dieser
Siegelring, du kamst aus einer sehr wohlhabenden Familie, hab ich Recht?"
"Ja, glaube ich. So selten wie ich meine Eltern
sah... sie waren zumindest Adlige, soweit kann ich mich erinnern."
"Wie alt bist du, Mallow?", wollte Rot wissen.
"Vierzehn... glaube ich."
"Ihr müsst mir jetzt die ganze Geschichte
erzählen. Habt keine Angst, ihr könnt mir vertrauen.", forderte
Rot Wai, Imogen und Mallow auf. Wai zuckte mit den Schultern und begann
alles von ganz vorne zu schildern, ab dem Zeitpunkt von Riyonns Erlebnis
mit Don Diaven im Feuer Teras Andums. Als er fertig erzählt hatte,
standen Mallow und Rot völlig verwundert da.
"Unglaublich. Kann ich diesen Brief einmal
sehen?", meinte Rot überwältigt.
Imogen zog ihn hinter Riyonns Gürtel
hervor und reichte ihn Rot. Dieser nickte und überflog das Schriftstück.
"Was ist jetzt mit der Sekte? Sie werden ihre
grausamen Rituale weiterhin durchführen, auch ohne Jason und Zed Ray!",
erinnerte Mallow.
"Ich werde einige meiner Soldaten über
das Loch im Fußboden hinunterschicken und das Gesindel ausmerzen
lassen. Solche Dinge gehören zu meinem Sachbereich.", meinte Rot nur.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
"Ich bin es, mein Prinz, der alte Riordun!",
erschall eine Stimme von außen.
"Der Heiler!", erklärte Rot. "Komm herein!"
Ein alter buckliger Mann mit müden braunen
Augen und weißem Haar, das unter seiner Kutte hervorlugte, trat herein.
"Er ist ein Priester der Nûdadron von
Kouwah. Er arbeitet in der burgeigenen Kapelle und beherrscht die Kunst
des magischen Heilens.", meinte Rot weiter.
Riordun stellte sich vor Riyonn.
"Uuhh, sehr schlecht!", stöhnte der Mann,
als er Riyonns Wunde begutachtete und über die schweißtriefende
Stirn fuhr.
"Das erfordert viel Kraft. Vaeloc!"
Beim Ausruf seines Schlüsselworts breitete
sich über Riyonn ein warmer gelblicher Schleier. Die Wunde begann
sich nach und nach zu schließen, bis Riyonn auf einmal die Augen
aufschlug und erstaunt in das von Falten zerfurchte, angestrengte Gesicht
Riorduns blickte.
"Wo bin ich?"
Imogen sprang zu ihm und umarmte ihn überglücklich.
Wai belächelte Imogens Freude. Riordun zwinkerte Rot mit freundlichem
Lächeln zu und verließ den Raum. Rasch steckte Mallow den Brief
zurück hinter Riyonns Gürtel.
"Wohin wollt ihr jetzt gehen?", wandte sich
Rot an Wai.
"Eigentlich hatten wir vor, die anderen Auserwählten
zu suchen, dazu müssten wir Randuin verlassen."
"Ausgezeichnet! Nehmt mich mit!"
Wai sah Rot misstrauisch an.
"Wozu?"
"Ich bin ein Prinz, das kann eurem Unternehmen
nur von Nutzen sein. Ich kann gut kämpfen, bin intelligent, stark
und attraktiv. Außerdem habe ich absolut nicht die geringste Lust
meinen Hintern ein Leben lang auf diesem Thron zu wärmen, und als
Truchsess irgendwelche langweilige Staatsgeschäfte abwickeln. Ich
bin durch und durch Abenteurer, kein Schoßhund.", erklärte Rot.
"Herr!"
Ein in ärmliche Kleidung gekleideter
Mann hatte einen Spalt der Türe geöffnet.
"Euer Onkel möchte Euch sehen, und auch
die Fremden."
"Er konnte natürlich den Mund nicht halten.",
seufzte Rot.
"Riordun?", hakte Imogen nach. Rot bejahte.
"Onkelchen kann jetzt ruhig ein wenig warten.
Zuerst gilt es sich der Sekte anzunehmen.", beschloss er, zog sich seinen
Hut auf den Kopf und forderte die anderen auf ihm zu folgen. Riyonn erhob
sich noch etwas unsicher von dem Bett, Mallow, Imogen und Wai beeilten
sich mit Rot mitzuhalten, der fast rennend das Zimmer verließ und
eine Treppe hinunter lief.
Als sie Rot einholten, waren sie im Burghof
Castell Armions angekommen.
"Kriyle!", hörten sie den Thronfolger
rufen.
Ein gut gerüsteter Gardist trat aus einer
der vielen Eingänge in die Burg integrierte Kaserne. Er salutierte
vor Rot.
"Was ist los, Rot? Laut einiger meiner Schützlinge
beherbergt Ihr plötzlich Sektenanhänger in Eurem Gemach.", wunderte
sich der Gardist, fuhr sich durch seine langen schwarzen Haare.
"Vier ihrer Opfer, Kriyle. Die Sekte bestand
aus mehr als nur drei Anhängern außer dem Häuptling."
"Schön. Gehen wir auf Sektenjagd."
Rot grinste und winkte Mallow, Imogen, Wai
und Rot zu sich her.
"Ihr könnt mitkommen oder dableiben,
wie ihr wollt."
"Ich komme mit!", entschied sich Riyonn.
Wai sah in ungläubig an.
"So was nannte sich vor ein paar Stunden noch
krank! Er ist nicht nur schon wieder kerngesund sondern auch verrückt!
Und hinterlistig! Er weiß genau, dass ich automatisch hinter ihm
her watscheln muss."
"Ich habe den Eid nicht geleistet.", meinte
Riyonn Schulter zuckend.
"Auf mich könnt ihr zählen.", strahlte
Imogen und zerrte Mallow hinter sich her, die sich bei ihr untergehakt
hatte.
Rot führte sie grinsend zu den Ställen,
wies allen Pferde zu, und ritt voraus aus dem Castell Armion. Kriyle mit
fünf Gardisten, Mallow, Imogen, Riyonn und Wai folgten.
Nach kurzem Ritt durch die Straßen und
Gassen Kouwahs erreichten sie die Handwerkergasse und deren Nummer drei.
Rot schwang sich von seiner Fuchsstute und begutachtete die drei Pferde,
die vor dem Hauseingang festgebunden waren.
"Die werden dann ja wohl euch gehören.",
meinte er und zwinkerte Imogen zu.
Kriyle schob sich an Rot vorbei und versuchte
die Türe aufzustoßen.
"Verschlossen und verriegelt. Mich würde
nicht wundern, wenn das Ding sogar meiner Klinge gegenüber resistiert.",
gab Kriyle klein bei. "Wir könnten wieder die Hintertüre..."
"Ach was! Zur Seite!", drängte sich Riyonn
vor die Türe, murmelte ein unverständliches Wort und versengte
das Holz der Türe mit einem einzigen Flammenstoß aus seiner
Handinnenfläche.
"Nicht schlecht. Seid Ihr schon irgendwo als
persönlicher Türöffner engagiert?", hakte Rot grinsend nach
und betrat das Haus, die anderen folgten.
Kriyle und die Gardisten zogen ihre Schwerter.
Kriyle streifte sich seine schwarzen Haare aus dem vernarbten Gesicht.
"Die Sache stinkt. Hier ist keine Menschenseele.",
bemerkte er und starrte misstrauisch von Wand zu Wand.
"Woher wollt Ihr das wissen, Kriyle? Habt
Ihr denn die Bewohner schon gefragt, ob sie nicht da sind?" Rot lächelte.
Er lächelte die ganze Zeit über.
"APOKALYPSE! KOMMT ZUM MEISTER!", brüllte
er.
Kriyle zerrte ihn am Ärmel.
"Ihr habt sie wohl nicht mehr alle! Die verpissen
sich doch automatisch, wenn sie hören, dass wer hier ist.", mahnte
er den Thronfolger. Dieser grinste nur.
Riyonn betrachtete das Loch im Boden.
"Wenn ein paar von uns sie von unten nach
oben treiben und die anderen den Ausgang bewachen würden, steckten
sie in der Falle. Wenn wir über einen normalen Weg nach unten gingen,
könnten sie den Braten riechen und über unbekannte Gänge
abhauen. Angenommen Wai, Imogen, Mallow und ich würden denselben Weg
auf dem wir die Sekte verlassen haben wieder anrücken, käme denen
erst gar nicht in den Sinn, dass wir überhaupt draußen waren,
würden also weder mit Gardisten noch mit Rot rechnen.", führte
Riyonn seinen Gedanken vor den anderen aus.
Rot zögerte.
"Angenommen, die Apokalypser nehmen ihrerseits
an, dass ihr nicht das Haus verlassen habt, wie erklären sie sich
dann, dass ihr euch erst nach knapp einem ganzen Tag wieder blicken lasst,
zudem sie euch bestimmt schon verzweifelt gesucht haben?"
"Sie konnten uns gestern nicht mehr verfolgen,
weil wir den Weg versperrt haben. Wenn wir über diesen Weg zurückkämen,
würden sie vermuten, dass wir in der Sackgasse vor lauter Hunger und
Durst das Heil in der Flucht auf in die andere Richtung suchen wollten.",
erklärte Wai.
Rot nickte ruhig, klopfte Riyonn anerkennend
auf die Schulter und grinste.
"Das habe ich eigentlich gewusst."
"Weshalb fragt Ihr dann so blöd?", fuhr
Wai auf und funkelte Rot finster an.
"Nur um das richtig zu stellen: gefragt habe
ich nicht. ... Nicht wirklich. Ich habe lediglich gezögert.
Das heißt... was aber eigentlich... äh... zumindest im Grunde...
habe ich mein Zögern in Worte gefasst, oder..."
"Es reicht! Riyonn, Wai, Imogen, Mallow, ihr
verschwindet jetzt unter dem Fußboden und Rot, ich und meine Jungs
behalten die Steintreppe im Auge.", warf Kriyle genervt ein. "Rot, Ihr
bringt es immer wieder fertig aus purer Freude Mücken zu Elefanten
zu verformen."
"Kein großer Trick, Kriyle. Ich könnte
ihn Euch beibringen..."
"Rot, Ihr kommt mit mir und den Gardisten."
"Höre ich jetzt nicht richtig oder...
Nehme ich hier gerade Befehle von einem meiner zu Befehligenden an? ...irgendwann
musste das Weltende ja kommen...", bemerkte Rot theatralisch mit den Gesichtsmimiken
spielend. Kriyle zog aufseufzend die Augenbrauen hoch und verließ
den Flur gefolgt von den Gardisten und einem selbstgefällig grinsenden
Thronanwärter Randuins.
* * *
"Dieser Rot Deus irritiert mich ein wenig.",
dachte Imogen laut, als sie als letzte in den dunklen und feuchtkalten
Raum unter dem Holzfußboden stieg. "Ich meine, zuerst machte er einen
völlig ernsten, fast schon zu strengen Eindruck, und jetzt kommt er
einem vor, wie ein idiotischer Schwachkopf, der keinen blassen Schimmer
von so etwas wie Reichsführung oder Politik hat."
"Das nennt man verborgene Intelligenz. Aber
solange sie verborgen bleibt, kann man nicht von Intelligenz sprechen.",
grinste Riyonn.
Mit seinem Feuer leuchtete er den Weg.
* * *
"Sie haben den Meister und drei unserer Brüder,
meine Brüder.", begann der vermummte Anhänger seine Rede hinter
dem schwarzen Blut verseuchten Altar. "Einige von uns sind noch übrig
geblieben, weil wir uns VERSTECKT HABEN! Versteckt vor der Welt, vor unseren
Feinden, versteckt vor der Wahrheit und dem einzigen und reinen CHRORTOC!
Wollt ihr, DASS WIR HIER UNTEN VERSCHIMMELN UND UNS VERBERGEN, AUS ANGST
JEMAND KÖNNTE UNS BEDROHEN? JEMAND KÖNNTE CHROTOCS MACHT, DIE
DURCH UNS SICHTBAR WIRD, IN FRAGE STELLEN? IHN? UNS? APOKALYPSE? Verzeiht
mir meinen lauten Ton, liebe Brüder, aber ist es gerecht, vor Chrortoc,
vor der Welt, vor unseren Brüdern, die das ewige Seelenheil schon
ihm Tode bei Chrortoc fanden? Können wir in dieser einsamen, verruchten
Finsternis unter der Erde die Ewigkeit für unseren Kult finden? Die
Antwort lautet NEIN! NEIN! NEIN! NEIN UND NOCHMALS UND IMMER WIEDER NEIN!
Wir MÜSSEN! MÜSSEN uns stellen! Müssen unsere Opfer WÄHLEN!
Wir können Chrortoc nicht mit dem helfen, was uns über den Weg
läuft, oh nein! Für ihn und uns ist das Beste gerade genug! Das
Beste vom BESTEN! DIE GANZE WELT!"
Einer der Versammelten trat vor.
"Eure Haltung in Ehren, Bruder, aber was Ihr
von uns verlangt ist Wahnsinn. Selbst mit geeinter Macht könnten wir
nicht einmal halb Randuin beherrschen, geschweige denn die ganze Welt."
"Oh Ungläubiger! Chrortocs Macht in uns
IST STÄRKER, ALS ALLES DIESER WELT! Wir können uns die Apokalypse
erzwingen, wir müssen Chrortocs Plan folgen und in eine neue Welt
einziehen. Auch ohne unseren geschätzten Meister und Propheten Jason.
Zum Beweis: Ich habe Schriften gefunden, ich habe lange, sehr, sehr lange
gestöbert, bis ich uralte Runen und Beschreibungen von Riten fand,
die unseren Zwecken dienen könnten. Es gab vor langer Zeit einen Kult,
der unserem sehr ähnelte. Allerdings beschäftigten sich diese
mehr und mehr mit der Erforschung ihrer verborgenen Kräfte, und derer
ihrer Gottheit. Und sie fanden die Vollkommenheit. Die absolute Macht!
Runen zur Geisterbeschwörung, zur Erfüllung geheimer Ängste
seiner Gegner, Sprüche und Rituale zur ganzen Hingabe und Erleuchtung
vor ihrem Gott. Der Name dieser Leute war LICH! Sie kannten ALLES! Sie
KONNTEN ALLES! SIE WUSSTEN ALLES, UND WUSSTEN ES ANZUWENDEN! Warum machen
wir uns nicht von diesem Wissen Gebrauch... WARUM..."
"Nein, Krayde, das ist nicht unser
Weg. Unser Weg führt nicht in die Erfüllung unserer Wünsche,
sondern in die Erfüllung eines einzigen Traumes: die Erschaffung einer
neuen und vollkommenen Welt.", widersprach derselbe wie vorhin.
"Meine Brüder! Mit der Macht, die wir
dadurch erlangten, könnten wir TAUSEND NEUE WELTEN ERSCHAFFEN!"
"Wir? Ihr sprecht falsch und überheblich,
Krayde. Nicht wir tragen die Macht. Sondern Chrortoc. Nur für die
Macht, die wir von uns aus geben können, können wir auch die
Verantwortung tragen. Mehr steht uns nicht zu. Mehr ertragen wir dank unseres
Schöpfers nicht. Und mehr brauchen wir nicht, als unsere Gaben, und
die Seelen Chrortocs Opfer."
"Durch Leute wie Euch, mein Bruder, werden
wir schwach... Aber wir brauchen einen STARKEN Führer..."
"Ja, den brauchen wir. Einen starken, neuen
Führer. Einen Repräsentanten unserer Ziele und unseres Zwecks.
Und der seid Ihr nicht."
Krayde begehrte auf und stieß den Aufrührer
zu Boden.
"Könnt Ihr das bestimmen? Seid Ihr der
BESTIMMER? Nein! NEIN! Unsere Sekte lebt DEMOKRATIE!"
"Nur solange wir uns nicht demokratisch einen
neuen absolutistischen Führer im Sinne Chrortocs gewählt haben,
mehr
nicht. Und gewählt seid weder Ihr, noch ich!"
"Dann lasst abstimmen! Alle die meine Meinung
teilen, kommen hinter den Altar, alle die diesem Schwätzer ihr Vertrauen
schenken, bleiben wo sie gerade sind."
Die Masse teilte sich. Zu gleichen Hälften
standen sie nun um die beiden theoretischen Führer herum.
"Es scheint, als ob sich unsere Einigkeit
hier entzweit.", seufzte Krayde. Er verließ die Opferhalle gefolgt
von seinen Anhängern, während der Aufrührer mit seiner Hälfte
stehen blieb, und mit gemischten Gefühlen hinter den Brüdern
herblickte.
* * *
"Hier ist schon der Kerzenständer, der
den Weg versperrt.", informierte Wai die Nachkommenden.
Er nahm den Kerzenständer aus seiner
Querstellung heraus und zog die Türe auf. Nichts. Stille.
"Also allmählich wird mir das unheimlich.
Geben die eigentlich überhaupt einmal einen Laut von sich, den man
hier noch hören könnte?", wollte Imogen wissen.
Mallow verneinte und schüttelte den Kopf.
"Hier wird weniger geredet, als gehandelt.
Zumindest war es so, als Jason noch Anführer war. Aber selbst wenn
sie in der Opferhalle schreien würden, du würdest es hier ganz
bestimmt nicht hören."
"Aha. Sehr beruhigend.", murmelte Imogen.
Die Gruppe trat durch die Tür in den
Gang, von dem aus sie in wilder Hast irgendeine Türe herausgegriffen
hatten. Jetzt wiederum wussten sie nicht mehr, woher sie gekommen waren.
Blindlings eine Tür zu wählen war leicht, aber jede auszuprobieren,
bis vielleicht die richtige dabei war, barg schon das große Risiko
in sich, plötzlich von Apokalypsern umstellt und überwältigt
zu werden, ohne dass sie wussten, wie ihnen überhaupt geschah. Nein,
dieses Risiko wollten und durften sie nicht eingehen. Aber welcher Weg
führte daran vorbei? Es gab keine Ausweichmöglichkeit, außer
jene, sie aufzuteilen, und jeden einzeln nach seinem Weg suchen zu lassen.
Mallow kannte sich ein wenig hier unten aus, aber dieses bisschen war kein
überzeugendes auskennen.
"Ich schätze wir müssen ausprobieren.",
sprach Imogen aus, was sie alle dachten.
* * *
"Mir ist todlangweilig. Was ist los? Hat irgendwer
Lust auf ein nettes Spielchen?"
Rot blickte in die Runde.
"Ihr seid heute ein wenig hyperaktiv, Rot.",
wies Kriyle kühl von der Aufforderung ab.
"Wie würde es Euch denn ergehen, wenn
Ihr Euer Leben lang in einem goldenen Käfig Eure Tage verbringen würdet,
und nie die Schönheit eines einzigen jungen Mädchens erfahren
haben konntet? Und plötzlich seid Ihr umgeben von geradezu atemberaubenden
Geschöpfen..."
"Ihr meint Imogen und Mallow, richtig?"
"Tja, meiner Meinung nach sind Wai
und Riyonn nicht nachweisbar weiblich veranlagt."
"Ihr habt Probleme, Rot..."
"Ja, bitte?"
"Heiratet doch einfach diese Truchsesstochter
aus Pedraswhen, dann habt Ihr ein Objekt, an dem sich Eure Augen ergötzen
können."
"Wer spricht hier von Augen, und überhaupt
will ich keine fremde Frau vom anderen Ende Valyars so Mir-nichts Dir-nichts
ehelichen, bloß weil das einen Handelsvertrag mit deren Vater herausschlüge.
Kriyle, ich habe noch nie zuvor eine eventuelle Gefährtin so nah zu
Gesicht bekommen."
"Armes reiches Schwein!"
"Vielen Dank für dein ungeteiltes Mitgefühl."
Rot grinste.
"Oh bitte! Es ist schon schlimm, einen Menschen
zu kennen, der mal extrem ernst und mal extrem bescheuert ist. Könntet
Ihr Euch nicht vielleicht einen Mittelwert suchen?"
"Ihr meint zwischen bescheuert und irre?"
"Bei den Nûdadron und Enuâr
zugleich!"
"Nimm’s doch nicht so schwer, Kriyle."
"War das ganze jetzt Ernst oder Scherz?"
"Wie war das noch mal mit dem Mittelwert?"
"An dieser Stelle hätte ich den jetzt
am aller gernsten nicht erfahren."
"Jedem das, was ihm zusteht!"
Rot musste lachen. Seine türkisbraunen
Augen leuchteten vor ungebremster Lebensfreude.
* * *
Die erste Türe mündete in einen türenlosen
Gang, so wie sie ihn von ihrer Flucht noch in Erinnerung hatte. Mit guter
Hoffnung gingen sie diesen entlang.
"Ich habe das Gefühl, dieser Gang ist
der falsche.", gestand Imogen nach einer Weile. Ihre rotbraunen Augen wanderten
über die Wandmalereien. Die blutenden Kritzeleien erinnerten sie stark
an Kleinkinderkunstwerke.
"Was bedeuten diese Zeichnungen?", wandte
sie sich an Mallow.
Diese fuhr mit ihren Fingern über das
trockene Blut.
"Sie beschreiben die Vorstellung einer neuen
Welt... der Traum der Apokalypse... mit jedem Opfer wächst ihre Macht,
und die Aussicht auf das Paradies, das sie durch Chrortoc herbeirufen möchten..."
"Wieso müssen sie das auf solch makabere
Art und Weise tun?"
"Chrortoc ist ein Gott von Tod und Neugeburt.
Tote Seelen stärken den Aufbau von etwas Neuem. So erklärt es
ihr Glaube.", erklärte Mallow. Ein paar Tränen schossen ihr in
die Augen.
"Und der Glaube meines Bruders..."
Imogen legte den Arm um sie.
Derweil hatten Wai und Riyonn das Ende des
Ganges erreicht. Statt einer Tür erwartete sie ein erweiterter sehr
hoher Raum, an den sich ein Portal anschloss.
"Was um alles in der Welt ist das?",
fragte Riyonn erstaunt halblaut.
Das Portal führte in einen Saal, tiefschwarz,
mit einem einzigen riesigen blutenden Auge in der Mitte des geschwärzten
Steinbodens. Auf dem Auge thronte ein schwarzer Altar, auf den wiederum
eine schwarze Schale gestellt worden war. Ein geisterhafter flimmernder
Schleier legte sich um diese Schale.
"Mallow, was ist das?", wollte Imogen wissen.
Das schwarzhaarige Mädchen antwortete
nicht, sondern näherte sich dem Altar.
"Ich weiß nicht was... aber... was wollen
sie hiermit?"
Sie hob die Schale an und sah hinein. Ein
schwarzer Nebel, der sich von der Dunkelheit durch sein noch finsteres
Äußeres abhob, sammelte sich darin und war in einer seltsamen
Bewegung. Abrupt ließ Mallow die Schale zu Boden fallen. Sie zersprang
und der Nebel verlor sich in der Dunkelheit.
"Was ist los, Mallow?", fuhr Riyonn hoch und
betrachtete verwirrt das Mädchen, das am ganzen Leib zitterte wie
Espenlaub.
"Es... es hat geredet... zu mir geredet...
es kannte mich! ES KANNTE MEINEN NAMEN!"
"Schon gut! Ganz langsam!", beruhigte sie
Imogen.
Indessen unterzog Wai den Altar einer näheren
Untersuchung.
"Hier ist sonst nichts Ungewöhnliches.",
stellte er erleichtert fest.
Mallow atmete tief durch.
"Ich glaube... ich meinte die Stimme meines
Bruders gehört zu haben, und nicht nur ihn! Viele Stimmen... alle...
tot!!"
"Du meinst... Fiodri? Die Opfer? Alle?", fragte
Riyonn mit herabgezogenen Brauen.
"Alle! Bestimmt! So viele...", bestätigte
Mallow leise.
"Vermutlich hielt Jason die Seelen seiner
Opfer in dieser Schale gefangen, die er mit seiner schwarzen Magie belegt
hatte. Nur... weshalb?"
"Ich... ich weiß es nicht..."
"Möglicherweise... möglicherweise
brauchte er nur ein paar dieser Seelen und es waren gar nicht alle.
Nur diejenigen, denen er ihre Magiekräfte auf diese Weise abverlangen
konnte. Deshalb brauchte er sein Wort nicht sprechen, da es die
Seelen derer taten, die er beherrschte, und damit er sie von sich
aus nutzen konnte, hatte er sie getötet..."
"Auch Fiodri?"
"Wahrscheinlich..."
Mallow schluchzte leise auf.
"Dieses Monster!"
"Dadurch, dass du die Schale zerstört
hast, ist er gewissermaßen machtlos. Ich schätze seine eigene
Gabe verhilft ihm nicht aus dem Verlies, falls er überhaupt einer
eigenen Magie mächtig ist. Und wenn doch, er wird erst spät aus
seinem Wundfieber erwachen, das ihn dank mir und Rot höchstwahrscheinlich
plagt. Solange ist er machtlos.", vermutete Riyonn grinsend.
Wai hatte inzwischen den Raum inspiziert,
und war zu dem Schluss gekommen, zurückzugehen und einen anderen Weg
zu wählen. Die nächste Tür führte ebenfalls in einen
türenlosen Gang, der von abstrakten Malereien geziert war. Er war
reichlich kürzer und bald vernahmen sie das Gemurmel fremder Stimmen.
"Das sind sie! Wir sind richtig!", erschloss
Riyonn.
Er erstickte die Flamme und öffnete die
Tür einen Spalt weit. Das gedämpfte Licht von Fackeln fiel in
den Gang. Riyonn erkannte Gestalten in schwarzen Kapuzenroben. Er zwinkerte
Wai zu, sprang in die Opferhalle hinein und zog mit lautem Kampfgeschrei
seinen Lyk-tai.
* * *
Der Aufrührer fuhr erschrocken herum,
als er diesen plötzlichen Schrei vernahm. Vor lauter Erstaunen blieb
er dennoch stehen, als die Klinge seinen Körper in zwei Hälften
spaltete. Seine Schützlinge stoben schreiend auseinander, bis sie
ihre Fassung wieder fanden und Formation annahmen, die Kampfstäbe
auf die Eindringlinge gerichtet. Der Aufrührer fiel tot zu Boden,
die letzten Worte, die ihm über seine blassen Lippen huschten, bargen
einen verzweifelten Hilferuf:
"Krayde! Bitte... hilf... hilf uns..."
Seine Worte verklangen in dem Kampfgetöse.
Wai und Riyonn drängten die Apokalypser
immer weiter zurück, Imogen schützte Mallow. Bald hatten sie
die Sekte bis zur Steintreppe getrieben, die hinauf in Jasons Haus führte.
* * *
"Sie kommen!", bemerkte Rot strahlend, wirbelte
seinen Zweihänder in der Luft herum und empfing den ersten Apokalypser
mit einer zirkusreifen Drohgebärde. Die Sekte ergab sich rasch ihrem
Schicksal, ließen sich in Ketten legen und wurden von Kriyles Leuten
in den Burgkerker geleitet.
Erfreut über den glücklichen Verlauf
ihres Plans empfing Rot die anderen.
"Willkommen zurück an der Oberfläche!
Spürt den frischen Sauerstoff, der eure Lungen durchzieht!", meinte
er theatralisch mit den Händen fuchtelnd.
"Danke!", grinste Riyonn. "Lasst Ihr die Gänge
dort unten wie sie sind?"
"Nein... es wird besser sein, wir mauern beide
Eingänge nach unten zu. Kriyle, Ihr übernehmt es, dass das ausgeführt
wird."
Kriyle nickte und zog ab. Die Sonne stand
schon in der Abenddämmerung.
"Kommt! Ich habe heute Abend noch ein Rendezvous
mit dem Galgen... äh... na ja... nicht ich... ach ihr versteht schon!",
forderte Rot die Gruppe zum Rückritt auf.
Der Himmel war blutrot, als die Pferde in den
Burghof einliefen. Rot übergab die Tiere den Stallburschen und tauschte
mit ein paar Leute einige Worte aus, während Riyonn, Wai, Imogen und
Mallow in Rots Gemächern ein prächtiges Abendessen aufgetischt
bekamen.
Nach einiger Zeit traf auch Rot in seinem Raum
ein.
"Hat jemand Lust dem Ende von Jason und seinem
Kult beizuwohnen?", warf er fröhlich in die Runde.
Wai, Riyonn, Imogen und Mallow standen unwillkürlich
auf und folgten Rot auf den Galgenplatz im Stadtinneren. Eine große
Menschenmenge hatte sich dort angesammelt. Jason funkelte Mallow und Riyonn
böse an.
"Ist es spaßig einen Toten zu töten?",
keifte er sie an, als die Gruppe seinen Galgen passierten. Kaum ein paar
Minuten später jedoch baumelte er tot in der Seilschlinge. Mallow
betrachtete ihn und die Sektenanhänger befriedigt und erleichtert.
Nie wieder harmlose Menschenopfer für
eine Illusion, oder eine Lüge!
"Rot! Da seid Ihr ja endlich! Euer Onkel ist
schon beinahe wütend! Er wollte doch Eure Gäste begrüßen!",
schimpfte Riordun, als sie dem alten Kauz bei ihrer Rückkehr in Rots
Gemächer im Castell Armion begegneten.
Also folgten Rot, Wai, Riyonn, Imogen und
Mallow dem Heiler durch teppichbehängte Gänge in einen großen
Saal, den Thronsaal.
Schließlich standen sie vor Lord Deus
dem IV. und seiner Gemahlin Kathleia.
"Rot, ich möchte, dass du mir deine Gäste
vorstellst!", sagte die Gemahlin des Truchsesses bestimmt.
"Wai Lonn, General der Diebesgilde von Revol
Taron, Riyonn und Imogen Katapura, seine Mündel, und Mallow Miren,
eine Adlige.", fasste Rot gelangweilt zusammen.
"Miren?", fragte der Truchsess nach.
"Ja.", bestätigte Mallow.
"Das ist der Mädchenname meiner Gattin.
Wir gaben ihn früher auch unseren Kindern, um sie vor Feinden des
Throns zu schützen."
Mallow zuckte erschrocken zusammen.
"Leider ging unser schon fast erwachsener
Sohn vor elf Jahren mit unserer kleinen Tochter fort, wir haben sie seitdem
nicht wieder gesehen.", fuhr Lord Deus der IV. fort.
"Hieß Euer Sohn vielleicht Fiodri?",
wollte Mallow wissen.
"Ja, aber das ist ja bekannt."
"Mir nicht!", warf Rot ein. "Mein Onkel, vor
dir steht deine lange vermisste Tochter Mallow. Sie hat das Schwarz deiner
Haare und das Blau von den Augen deiner Gattin. Sie trägt den Siegelring
des Königtums von Randuin und sie hatte einen Bruder namens Fiodri,
der sich vor einigen Jahren einer Sekte von Verrückten anschloss und
freiwillig Blutopfer wurde. Mallow ist rechtmäßige Thronerbin
von Randuin. Unter diesen Umständen trete ich mein Thronerbe an meine
Cousine ab und werde auf Wanderschaft gehen."
Erstaunt starrten Lord Deus IV. und Kathleia
ihren Neffen an.
"Meine... Tochter?", stotterte der Truchsess
den Tränen nahe.
"Zeig ihnen den Ring!", forderte Rot Mallow
auf.
Mallow zog den goldenen Ring mit dem blauen
Siegel an einer Kette aus ihrem Ausschnitt und streckte ihn dem Herrscher
Randuins entgegen.
"Er ist es!", erkannte Kathleia.
Der Truchsess erhob sich von seinem Thron
und schloss das Mädchen in seine Arme.
"Elf lange Jahre... und nun habe ich mein
Kind wieder!", schluchzte er und weinte in Mallows schwarze Haare.
"Lebewohl, Cousinchen.", lächelte Rot.
"Mallow Deus."
Er drückte sie kurz an sich.
"Du gehst, Rot?", wollte Kathleia von ihrem
Neffen wissen.
"Es ist besser so.", meinte er.
Kathleia umarmte ihn.
"Tu, was du für richtig hältst,
aber vergiss deine alte Tante nicht. Du warst uns auch wie ein Sohn."
"Du warst mir wie eine Mutter, Tantchen.",
lachte Rot, dann winkte er seinem Onkel zu und verließ, gefolgt von
Wai, Imogen und Riyonn den Thronsaal. Dabei grinste er verwegen.
"Auf Wiedersehen Wai, Imogen!", verabschiedete
sich Mallow den Tränen nahe. Der Abschied war ihr zu plötzlich.
Zu spontan, das alles... "Auf Wiedersehen, Riyonn, Rot!"
Auf Nimmerwiedersehen altes Leben, Zed
und Jason, seufzte sie innerlich.
* * *
Rot ließ Wai, Imogen und Riyonn vor seinen
Gemächern warten, während er sich drinnen reisefertig machte.
Als er wieder herauskam trug er eine dunkelbraune Lederhose, kniehohe Stiefel,
schwarze Handschuhe und ein weißes Hemd, das er bis zum Bauchnabel
aufgeknöpft hatte.
"Keine Rüstung?", wunderte Riyonn sich
über Rots schutzlose Kleidung.
Rot zog eine Augenbraue hoch und klemmte sich
ein Kettenhemd unter den Arm.
"Wer hat Euch überhaupt gestattet, dass
Ihr Euch uns anschließen dürft, Prinzchen?", grinste Wai.
"Hey, ich bin kein Prinz mehr. Ich bin frei!
Frei! Obwohl ich bei so einer angenehmen Gesellschaft wie meinem Cousinchen
gern noch ein paar Tage länger hier bleiben könnte.", meinte
Rot ebenfalls grinsend.
Er führte die Gruppe aus dem Herrengebäude
hinaus ins Freie, genauer gesagt in den belebten Burghof.
"Ich sattele nur noch Ember, und dann kann’s
losgehen.", sagte Rot und sie gingen Richtung Ställe. Dort sattelte
er seine schöne Fuchsstute, stieg auf, während Wai, Riyonn und
Imogen ihre Tiere ungesattelt bestiegen.
"Du hast vergessen, dir den Hut ins Gesicht
zu ziehen!", bemerkte Imogen.
"Jetzt da ich kein Prinz mehr bin, kann man
meine Schönheit ruhig alle bewundern, ich bin ja noch zu haben."
"Blödmann."
Die Gruppe verließ die Burg und durchquerte
Kouwah unter Riyonns Führung, der einen ausgeprägten Orientierungssinn
und einen gewissen Führerinstinkt mit sich trug. Gemeinsam ritten
sie aus der Stadt hinaus.
"Es ist schon seltsam, was wir in dieser abscheulichen
Stadt alles erlebt haben.", meinte Imogen mit einem verträumten Blick
auf Kouwah.
"Riyonn, wohin führst du uns zuerst?",
fragte Rot und legte seine Hand auf Riyonns Schulter.
"Nach Callisto, oder Gesedror, wenn dir das
lieber ist.", beschloss Riyonn.
Rot grinste.
"In Callisto soll’s haufenweise hübscher
Frauen geben."
"Du denkst nicht nur so wie Jersey, du schwingst
sogar dieselben Sprüche wie er auch. Sollten wir ihm jemals wieder
begegnen hättet ihr aneinander Brüder gefunden.", seufzte Wai.
"Wieso? Ist er genauso gut aussehend, anziehend
und liebesbedürftig? Das muss ein furchtbar netter und anständiger
Typ sein, wenn er mir so sehr ähnelt."
"Wenn du es so ausdrückst. Aber Jersey
ist nur sehr direkt und liebt Frauen."
Rot lachte.
"In Callisto haben sie dunkle weiche Haut
und schwarze Locken, erzählt man sich. Nicht dass ich schon in Callisto
gewesen wäre. Das geht schon ins Exotische und das darf einen doch
ein bisschen reizen."
Riyonn schüttelte den Kopf. "Ich sehe
es schon kommen, verfolgt von Heerscharen verzweifelt verliebter Ladies.
Imogen, halt dich von diesem Lustmolch fern!"
Der Mond stand schon hoch am Himmel.
"Hübsches Pony, das da!", meinte Rot
mit einem lässigen Blick auf Ninelives.
"Kein Pony - reinrassiger erstklassiger Revolaner.",
entgegnete Wai gereizt.
"Sieht aber mitgenommen aus."
"Na, deine Ember hat auch noch keine Kämpfe
mit den Andumir durchgefochten. Die Narbe trug er allerdings schon bevor
ich ihn ritt. Es war ein Unfall bei dem mein Vater starb. Rei Lonn, er
war auch General, war stark wie ein Orc und ebenso groß."
"Dann hast du aber nicht viel von deinem Vater
geerbt. Du bist recht schwächlich, ziemlich klein und ein Orc würde
dich mit seinem großen Zeh platt walzen.", machte Rot sich über
Wai lustig.
Imogen verdrehte genervt die Augen.
"Es war nicht sonderlich klug diese Nervensäge
mitzunehmen. Ich finde, Wai sieht gut aus."
Riyonn grinste.
"Es war doch auch nur ein Scherz, ihr Süßen.",
kuschte Rot und hielt schützend die Hände vors Gesicht, konnte
ein Grinsen jedoch nicht verbergen.
"Also, du neunmalkluger Schönling, in
welche Richtung geht’s nach Callisto?", versuchte Riyonn Rot zu testen.
"Nach Westen."
"Und wo liegt der?"
Rot verstummte. Nichts wissend zuckte er mit
den Schultern.
"Keine Ahnung."
Riyonn und Wai lachten, dann ritten sie westwärts
voraus, Imogen und Rot hinterher.
"Du kannst uns ja unterwegs zeigen, was du
alles drauf hast.", meinte Imogen aufmunternd zu Rot.
Rot wühlte in seinem Beutel.
"Übrigens, ich hab hier eine Landkarte
von Valyar, mit sehr vielen Einzelheiten. Ist vielleicht nicht schlecht
für unsere Orientierung. Wenn Riyonn von seinem hohen Ross wieder
unten ist, werde ich sie ihm geben. Sie ist aus der Bibliothek Kouwahs.
Riordun hat sie gezeichnet, als er noch ein junger Spund war und noch viel
gereist ist. Auch im Norden und so. Er soll sogar in den Ländern um
Valyar gewesen sein und auch einmal auf einem anderen Kontinent, auf Kathalos.
Es würde mich auch einmal reizen die Kathalossi zu sehen. Aber ich
war ja noch nicht einmal in Pedraswhen, der Blume des Nordens von Valyar.
Und warum in die Ferne schweifen, wenn das Glück so nah ist?"
Imogen lächelte.
"Wer war denn so versessen darauf seine Heimat
zu verlassen? Ich kenne da so einen ehemaligen Prinzen, der..."
"Schon gut."
Rot grinste und trieb Ember zum Trab an, um
den Vorsprung von Wai und Riyonn wieder aufzuholen. Wai lachte in sich
hinein. Der Wirt wird seinen Schlüssel schön vermissen.
© Itariss
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