Sieben gegen Sieben von Itariss
Kapitel 10: Castell Armion

Als Wai zu sich kam konnte er sich nur verschwommen an vorher erinnern. Kouwahs Stadtgarde war angerannt gekommen, hatte sie wortlos gepackt und dann war es schwarz um ihn geworden. Sein Kopf dröhnte. Es musste ein harter Schlag gewesen sein. Er tastete um sich, spürte Gitterstäbe.
Auf einmal hörte Wai aus der Ferne ein Husten.
"Ist da jemand?", rief er in die Finsternis.
"Wer soll da schon sein!", antwortete eine fremde und entkräftete Stimme. "Hier sind die Todgeweihten, Gangster, alle, die in Kouwah etwas verbrochen haben. Aber es ist wirklich sehr seltsam, dass du nicht weißt, wer wir sind, wenn du ins Verlies geworfen wurdest." 
"Ein Verlies!", wisperte Mallow erschrocken und klammerte sich an Wais Arm.
Das erklärte auch das Gitter. Ein plötzlicher Feuerstrahl schoss hinter Wais Rücken hervor und schmolz das Schloss in Sekundenschnelle.
"Riyonn!", fuhr Imogen zusammen. "Spinnst du? Spar dir deine Kräfte."
Doch Riyonn schüttelte nur den Kopf. Er befand sich sowieso schon wieder im Halbschlaf. Wai stieß mit dem Fuß gegen etwas am Boden. Mit seiner Hand fühlte er danach. Als er merkte, dass es sich um einen Totenschädel handelte, ließ er ihn sofort los. Angewidert zog er seine Hand zurück. Dann stemmte er sein Bein gegen das Gitter. Es gab widerstandslos nach, und Wai trat, Riyonn geschultert und gefolgt von Imogen und Mallow, in den Mittelgang des Verlieses.
Mit langsamen vorsichtigen Schritten gingen sie den Gang entlang. In der Ferne erblickten sie den Schein einer Fackel.
"Vielleicht ist da der Ausgang.", meinte Imogen und ging zögernd voraus.
Tatsächlich folgte der Fackel eine Steintreppe. An der Wand gelehnt schlummerten zwei eingenickte Wächter mit den Schlüsseln. Bald folgten mehr Fackeln, die den Weg auf der Treppe wiesen.
Irgendwann, es kam der Gruppe vor wie eine Ewigkeit, endete auch diese Treppe und mündete in einen großen hell erleuchteten Raum.
"Ich kann nicht mehr", stöhnte Imogen und sank zu Boden. Auch Mallow musste sich setzen.
"Das geht nicht! Wir müssen Riyonn zu einem Arzt bringen, sofort!", entgegnete Wai, den eigentlich nur noch der Gedanke an Riyonns möglichen Tod weiter trieb.
Aber Imogen und Mallow konnten beim besten Willen nicht mehr. Wenn auch Wai nur noch sehr wenig Kraft hatte, riss er sich zusammen und beschloss alleine weiterzugehen. Doch dazu kam es nicht. Zwei stark gerüstete Wachen standen vor ihnen, hinter ihnen ein Mann, der in ein edles königsblaues Gewand gekleidet war und sich seinen Hut bis tief ins Gesicht gezogen hatte.
"Wen haben wir denn da?", grölte einer der Wachen und zog Wai an seinem Zopf.
"Flossen weg!", erregte sich Wai und schnitt mit seinem Lyk-tai die Hand des Wächters ab.
"Du widerlicher... das wirst du bereuen!"
Die Wachen zogen ihre gewaltigen Zweihänder.
"Halt!", warf der Mann ein. "Was ist mit ihm?"
Der Mann zeigte auf Riyonn.
"Er ist schwer verletzt und liegt im Wundfieber.", antwortete Wai.
Der Mann nickte verständnisvoll.
"Wart ihr Jasons Sklaven?"
"Nein, wir waren... Opfer... Opfer für seinen Sektenkult...", erklärte Wai.
"Kommt mit, alle vier. Wachen, helft ihnen!"
Er ging voraus, über mehrere Treppen und Wendeltreppen, bis sie schließlich in einem kaminbeheizten Raum mit Weidenmatten auf dem Boden und einem großen Bett, einer Wanne und zwei Stühlen angekommen waren. Mit einer Handbewegung schickte der Mann die Wachen fort und flüsterte ihnen noch etwas zu.
"Leg ihn aufs Bett, ich lasse einen Heiler kommen.", meinte er zu Wai.
Mallow und Imogen nahmen neben Riyonn Platz. Ohne dass sie dort lange saßen kippten sie vollends auf das Bett und schliefen ein. Wai konnte sich auf den Weidenmatten auch nicht lange zwingen wach zu bleiben. In der Zwischenzeit besorgte der Mann mit dem Hut die Waffen seiner Gäste.

Einige Zeit war vergangen. Wai schlug die Augen auf. Sein Kopf pochte, der Rücken schmerzte. Ein starkes Hungergefühl stieg in ihm auf. Auch Mallow und Imogen saßen wieder auf der Bettkante, während sie sich den Schlaf aus den Augen rieben und den noch tief im Schlummer liegenden Riyonn begutachteten. Als er sich aufsetzte, bemerkte er den Mann mit dem Hut, der ihm eine Schale mit einem undefinierbaren Eintopf entgegenstreckte.
"Esst etwas. Ihr seht aus, als ob Ihr längere Zeit über nichts mehr zwischen den Zähnen gehabt hättet.", meinte der Mann lächelnd.
"Wer bist du? Und weshalb hilfst du uns?", fragte Wai.
Der Mann lachte. Er nahm den Hut ab und nun konnte Wai in ein braungebranntes, fröhliches jugendliches Gesicht sehen. Mit einer schlanken geraden Nase, aufgeweckten braungrünen Augen und lange, in einen Zopf gebundenen schwarze Haare, die im Licht rot glänzten.
"Ich bin Rot, Rot Deus, Thronfolger von Randuin."
Imogens und Mallows Münder klappten vor Erstaunen auf. Er grinste, gab den Mädchen ebenfalls etwas zu Essen, welches diese freudig annahmen und in sich hineinschaufelten, und meinte weiter:
"Ihr erzähltet davon, dass Ihr Jasons Opfer wart. Für eine ganze Sekte sind drei Gefangene außer euch aber nicht berauschend viele..."
"Drei? Es sind viel mehr!" Mallow stand auf und trat vor Rot. "Ich kenne Euch."
"Es ist nicht schwer mich zu kennen, das ganze Reich kennt mich."
"Nein, ich meine, ich glaube mich zu erinnern, Euch als Kind schon gekannt zu haben."
Rot fuhr erstaunt auf.
"Wie heißt du?"
"Mallow Miren. Aber ich bin seit meinem dritten Lebensjahr verschollen gewesen, zusammen mit meinem älteren Bruder Fiodri."
"Fiodri... Mallow, diese Namen kommen mir bekannt vor. Auch Miren glaube ich schon gehört zu haben."
Rot kratzte sich am Kopf.
"Wie heißen deine Eltern?"
"Ich... ich weiß es nicht mehr. Ich war meistens bei meinen Zofen und meinem Bruder. Er war damals schon siebzehn und ich habe ihn geliebt und bewundert. Vielleicht könnt Ihr euch besser erinnern wenn ich ihn Euch beschreibe. Er hatte sehr helle, fast weiße lange Haare, eisblaue kalte Augen und schwarze Augenränder. Er war immer totenbleich, trug oben meist nichts, eine beige Leinenhose und schwarze Lederstiefel mit großen Schnallen. Er hatte stets durchtrainierte Muskeln und hatte immer eine Kette mit einem Siegelring um den Hals. Vor seinem freiwilligen Tod hat er mir diesen überlassen. Kurz bevor er sich mit mir dieser Sekte angeschlossen hatte, hatte er sich vier Ohrringe, einen Lippen-, Augenbrauen- und Bauchnabelpiercing und zwei Brustwarzenpiercinge stechen lassen. Er... hm. Kanntet Ihr ihn?"
Rot überlegte.
"Es... tut mir leid, ich habe gerade irgendwie eine große Gedächtnislücke. Aber ich kann meinem Gedächtnis im Laufe der Zeit bestimmt auf die Sprünge helfen."
"Mallow?", kam Imogen dazwischen. "Dieser Siegelring, du kamst aus einer sehr wohlhabenden Familie, hab ich Recht?"
"Ja, glaube ich. So selten wie ich meine Eltern sah... sie waren zumindest Adlige, soweit kann ich mich erinnern."
"Wie alt bist du, Mallow?", wollte Rot wissen.
"Vierzehn... glaube ich."
"Ihr müsst mir jetzt die ganze Geschichte erzählen. Habt keine Angst, ihr könnt mir vertrauen.", forderte Rot Wai, Imogen und Mallow auf. Wai zuckte mit den Schultern und begann alles von ganz vorne zu schildern, ab dem Zeitpunkt von Riyonns Erlebnis mit Don Diaven im Feuer Teras Andums. Als er fertig erzählt hatte, standen Mallow und Rot völlig verwundert da.
"Unglaublich. Kann ich diesen Brief einmal sehen?", meinte Rot überwältigt.
Imogen zog ihn hinter Riyonns Gürtel hervor und reichte ihn Rot. Dieser nickte und überflog das Schriftstück.
"Was ist jetzt mit der Sekte? Sie werden ihre grausamen Rituale weiterhin durchführen, auch ohne Jason und Zed Ray!", erinnerte Mallow.
"Ich werde einige meiner Soldaten über das Loch im Fußboden hinunterschicken und das Gesindel ausmerzen lassen. Solche Dinge gehören zu meinem Sachbereich.", meinte Rot nur.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
"Ich bin es, mein Prinz, der alte Riordun!", erschall eine Stimme von außen.
"Der Heiler!", erklärte Rot. "Komm herein!"
Ein alter buckliger Mann mit müden braunen Augen und weißem Haar, das unter seiner Kutte hervorlugte, trat herein.
"Er ist ein Priester der Nûdadron von Kouwah. Er arbeitet in der burgeigenen Kapelle und beherrscht die Kunst des magischen Heilens.", meinte Rot weiter.
Riordun stellte sich vor Riyonn.
"Uuhh, sehr schlecht!", stöhnte der Mann, als er Riyonns Wunde begutachtete und über die schweißtriefende Stirn fuhr.
"Das erfordert viel Kraft. Vaeloc!"
Beim Ausruf seines Schlüsselworts breitete sich über Riyonn ein warmer gelblicher Schleier. Die Wunde begann sich nach und nach zu schließen, bis Riyonn auf einmal die Augen aufschlug und erstaunt in das von Falten zerfurchte, angestrengte Gesicht Riorduns blickte.
"Wo bin ich?"
Imogen sprang zu ihm und umarmte ihn überglücklich. Wai belächelte Imogens Freude. Riordun zwinkerte Rot mit freundlichem Lächeln zu und verließ den Raum. Rasch steckte Mallow den Brief zurück hinter Riyonns Gürtel.
"Wohin wollt ihr jetzt gehen?", wandte sich Rot an Wai.
"Eigentlich hatten wir vor, die anderen Auserwählten zu suchen, dazu müssten wir Randuin verlassen."
"Ausgezeichnet! Nehmt mich mit!"
Wai sah Rot misstrauisch an.
"Wozu?"
"Ich bin ein Prinz, das kann eurem Unternehmen nur von Nutzen sein. Ich kann gut kämpfen, bin intelligent, stark und attraktiv. Außerdem habe ich absolut nicht die geringste Lust meinen Hintern ein Leben lang auf diesem Thron zu wärmen, und als Truchsess irgendwelche langweilige Staatsgeschäfte abwickeln. Ich bin durch und durch Abenteurer, kein Schoßhund.", erklärte Rot.
"Herr!"
Ein in ärmliche Kleidung gekleideter Mann hatte einen Spalt der Türe geöffnet.
"Euer Onkel möchte Euch sehen, und auch die Fremden."
"Er konnte natürlich den Mund nicht halten.", seufzte Rot.
"Riordun?", hakte Imogen nach. Rot bejahte.
"Onkelchen kann jetzt ruhig ein wenig warten. Zuerst gilt es sich der Sekte anzunehmen.", beschloss er, zog sich seinen Hut auf den Kopf und forderte die anderen auf ihm zu folgen. Riyonn erhob sich noch etwas unsicher von dem Bett, Mallow, Imogen und Wai beeilten sich mit Rot mitzuhalten, der fast rennend das Zimmer verließ und eine Treppe hinunter lief.

Als sie Rot einholten, waren sie im Burghof Castell Armions angekommen.
"Kriyle!", hörten sie den Thronfolger rufen.
Ein gut gerüsteter Gardist trat aus einer der vielen Eingänge in die Burg integrierte Kaserne. Er salutierte vor Rot.
"Was ist los, Rot? Laut einiger meiner Schützlinge beherbergt Ihr plötzlich Sektenanhänger in Eurem Gemach.", wunderte sich der Gardist, fuhr sich durch seine langen schwarzen Haare.
"Vier ihrer Opfer, Kriyle. Die Sekte bestand aus mehr als nur drei Anhängern außer dem Häuptling."
"Schön. Gehen wir auf Sektenjagd."
Rot grinste und winkte Mallow, Imogen, Wai und Rot zu sich her.
"Ihr könnt mitkommen oder dableiben, wie ihr wollt."
"Ich komme mit!", entschied sich Riyonn.
Wai sah in ungläubig an.
"So was nannte sich vor ein paar Stunden noch krank! Er ist nicht nur schon wieder kerngesund sondern auch verrückt! Und hinterlistig! Er weiß genau, dass ich automatisch hinter ihm her watscheln muss."
"Ich habe den Eid nicht geleistet.", meinte Riyonn Schulter zuckend.
"Auf mich könnt ihr zählen.", strahlte Imogen und zerrte Mallow hinter sich her, die sich bei ihr untergehakt hatte.
Rot führte sie grinsend zu den Ställen, wies allen Pferde zu, und ritt voraus aus dem Castell Armion. Kriyle mit fünf Gardisten, Mallow, Imogen, Riyonn und Wai folgten.

Nach kurzem Ritt durch die Straßen und Gassen Kouwahs erreichten sie die Handwerkergasse und deren Nummer drei. Rot schwang sich von seiner Fuchsstute und begutachtete die drei Pferde, die vor dem Hauseingang festgebunden waren.
"Die werden dann ja wohl euch gehören.", meinte er und zwinkerte Imogen zu.
Kriyle schob sich an Rot vorbei und versuchte die Türe aufzustoßen.
"Verschlossen und verriegelt. Mich würde nicht wundern, wenn das Ding sogar meiner Klinge gegenüber resistiert.", gab Kriyle klein bei. "Wir könnten wieder die Hintertüre..."
"Ach was! Zur Seite!", drängte sich Riyonn vor die Türe, murmelte ein unverständliches Wort und versengte das Holz der Türe mit einem einzigen Flammenstoß aus seiner Handinnenfläche.
"Nicht schlecht. Seid Ihr schon irgendwo als persönlicher Türöffner engagiert?", hakte Rot grinsend nach und betrat das Haus, die anderen folgten.
Kriyle und die Gardisten zogen ihre Schwerter. Kriyle streifte sich seine schwarzen Haare aus dem vernarbten Gesicht.
"Die Sache stinkt. Hier ist keine Menschenseele.", bemerkte er und starrte misstrauisch von Wand zu Wand.
"Woher wollt Ihr das wissen, Kriyle? Habt Ihr denn die Bewohner schon gefragt, ob sie nicht da sind?" Rot lächelte. Er lächelte die ganze Zeit über.
"APOKALYPSE! KOMMT ZUM MEISTER!", brüllte er.
Kriyle zerrte ihn am Ärmel.
"Ihr habt sie wohl nicht mehr alle! Die verpissen sich doch automatisch, wenn sie hören, dass wer hier ist.", mahnte er den Thronfolger. Dieser grinste nur.
Riyonn betrachtete das Loch im Boden.
"Wenn ein paar von uns sie von unten nach oben treiben und die anderen den Ausgang bewachen würden, steckten sie in der Falle. Wenn wir über einen normalen Weg nach unten gingen, könnten sie den Braten riechen und über unbekannte Gänge abhauen. Angenommen Wai, Imogen, Mallow und ich würden denselben Weg auf dem wir die Sekte verlassen haben wieder anrücken, käme denen erst gar nicht in den Sinn, dass wir überhaupt draußen waren, würden also weder mit Gardisten noch mit Rot rechnen.", führte Riyonn seinen Gedanken vor den anderen aus.
Rot zögerte.
"Angenommen, die Apokalypser nehmen ihrerseits an, dass ihr nicht das Haus verlassen habt, wie erklären sie sich dann, dass ihr euch erst nach knapp einem ganzen Tag wieder blicken lasst, zudem sie euch bestimmt schon verzweifelt gesucht haben?"
"Sie konnten uns gestern nicht mehr verfolgen, weil wir den Weg versperrt haben. Wenn wir über diesen Weg zurückkämen, würden sie vermuten, dass wir in der Sackgasse vor lauter Hunger und Durst das Heil in der Flucht auf in die andere Richtung suchen wollten.", erklärte Wai.
Rot nickte ruhig, klopfte Riyonn anerkennend auf die Schulter und grinste.
"Das habe ich eigentlich gewusst."
"Weshalb fragt Ihr dann so blöd?", fuhr Wai auf und funkelte Rot finster an.
"Nur um das richtig zu stellen: gefragt habe ich nicht. ... Nicht wirklich. Ich habe lediglich gezögert. Das heißt... was aber eigentlich... äh... zumindest im Grunde... habe ich mein Zögern in Worte gefasst, oder..."
"Es reicht! Riyonn, Wai, Imogen, Mallow, ihr verschwindet jetzt unter dem Fußboden und Rot, ich und meine Jungs behalten die Steintreppe im Auge.", warf Kriyle genervt ein. "Rot, Ihr bringt es immer wieder fertig aus purer Freude Mücken zu Elefanten zu verformen."
"Kein großer Trick, Kriyle. Ich könnte ihn Euch beibringen..."
"Rot, Ihr kommt mit mir und den Gardisten."
"Höre ich jetzt nicht richtig oder... Nehme ich hier gerade Befehle von einem meiner zu Befehligenden an? ...irgendwann musste das Weltende ja kommen...", bemerkte Rot theatralisch mit den Gesichtsmimiken spielend. Kriyle zog aufseufzend die Augenbrauen hoch und verließ den Flur gefolgt von den Gardisten und einem selbstgefällig grinsenden Thronanwärter Randuins.

* * *

"Dieser Rot Deus irritiert mich ein wenig.", dachte Imogen laut, als sie als letzte in den dunklen und feuchtkalten Raum unter dem Holzfußboden stieg. "Ich meine, zuerst machte er einen völlig ernsten, fast schon zu strengen Eindruck, und jetzt kommt er einem vor, wie ein idiotischer Schwachkopf, der keinen blassen Schimmer von so etwas wie Reichsführung oder Politik hat."
"Das nennt man verborgene Intelligenz. Aber solange sie verborgen bleibt, kann man nicht von Intelligenz sprechen.", grinste Riyonn.
Mit seinem Feuer leuchtete er den Weg.

* * *

"Sie haben den Meister und drei unserer Brüder, meine Brüder.", begann der vermummte Anhänger seine Rede hinter dem schwarzen Blut verseuchten Altar. "Einige von uns sind noch übrig geblieben, weil wir uns VERSTECKT HABEN! Versteckt vor der Welt, vor unseren Feinden, versteckt vor der Wahrheit und dem einzigen und reinen CHRORTOC! Wollt ihr, DASS WIR HIER UNTEN VERSCHIMMELN UND UNS VERBERGEN, AUS ANGST JEMAND KÖNNTE UNS BEDROHEN? JEMAND KÖNNTE CHROTOCS MACHT, DIE DURCH UNS SICHTBAR WIRD, IN FRAGE STELLEN? IHN? UNS? APOKALYPSE? Verzeiht mir meinen lauten Ton, liebe Brüder, aber ist es gerecht, vor Chrortoc, vor der Welt, vor unseren Brüdern, die das ewige Seelenheil schon ihm Tode bei Chrortoc fanden? Können wir in dieser einsamen, verruchten Finsternis unter der Erde die Ewigkeit für unseren Kult finden? Die Antwort lautet NEIN! NEIN! NEIN! NEIN UND NOCHMALS UND IMMER WIEDER NEIN! Wir MÜSSEN! MÜSSEN uns stellen! Müssen unsere Opfer WÄHLEN! Wir können Chrortoc nicht mit dem helfen, was uns über den Weg läuft, oh nein! Für ihn und uns ist das Beste gerade genug! Das Beste vom BESTEN! DIE GANZE WELT!"
Einer der Versammelten trat vor.
"Eure Haltung in Ehren, Bruder, aber was Ihr von uns verlangt ist Wahnsinn. Selbst mit geeinter Macht könnten wir nicht einmal halb Randuin beherrschen, geschweige denn die ganze Welt."
"Oh Ungläubiger! Chrortocs Macht in uns IST STÄRKER, ALS ALLES DIESER WELT! Wir können uns die Apokalypse erzwingen, wir müssen Chrortocs Plan folgen und in eine neue Welt einziehen. Auch ohne unseren geschätzten Meister und Propheten Jason. Zum Beweis: Ich habe Schriften gefunden, ich habe lange, sehr, sehr lange gestöbert, bis ich uralte Runen und Beschreibungen von Riten fand, die unseren Zwecken dienen könnten. Es gab vor langer Zeit einen Kult, der unserem sehr ähnelte. Allerdings beschäftigten sich diese mehr und mehr mit der Erforschung ihrer verborgenen Kräfte, und derer ihrer Gottheit. Und sie fanden die Vollkommenheit. Die absolute Macht! Runen zur Geisterbeschwörung, zur Erfüllung geheimer Ängste seiner Gegner, Sprüche und Rituale zur ganzen Hingabe und Erleuchtung vor ihrem Gott. Der Name dieser Leute war LICH! Sie kannten ALLES! Sie KONNTEN ALLES! SIE WUSSTEN ALLES, UND WUSSTEN ES ANZUWENDEN! Warum machen wir uns nicht von diesem Wissen Gebrauch... WARUM..."
"Nein, Krayde, das ist nicht unser Weg. Unser Weg führt nicht in die Erfüllung unserer Wünsche, sondern in die Erfüllung eines einzigen Traumes: die Erschaffung einer neuen und vollkommenen Welt.", widersprach derselbe wie vorhin.
"Meine Brüder! Mit der Macht, die wir dadurch erlangten, könnten wir TAUSEND NEUE WELTEN ERSCHAFFEN!"
"Wir? Ihr sprecht falsch und überheblich, Krayde. Nicht wir tragen die Macht. Sondern Chrortoc. Nur für die Macht, die wir von uns aus geben können, können wir auch die Verantwortung tragen. Mehr steht uns nicht zu. Mehr ertragen wir dank unseres Schöpfers nicht. Und mehr brauchen wir nicht, als unsere Gaben, und die Seelen Chrortocs Opfer."
"Durch Leute wie Euch, mein Bruder, werden wir schwach... Aber wir brauchen einen STARKEN Führer..."
"Ja, den brauchen wir. Einen starken, neuen Führer. Einen Repräsentanten unserer Ziele und unseres Zwecks. Und der seid Ihr nicht."
Krayde begehrte auf und stieß den Aufrührer zu Boden.
"Könnt Ihr das bestimmen? Seid Ihr der BESTIMMER? Nein! NEIN! Unsere Sekte lebt DEMOKRATIE!"
"Nur solange wir uns nicht demokratisch einen neuen absolutistischen Führer im Sinne Chrortocs gewählt haben, mehr nicht. Und gewählt seid weder Ihr, noch ich!"
"Dann lasst abstimmen! Alle die meine Meinung teilen, kommen hinter den Altar, alle die diesem Schwätzer ihr Vertrauen schenken, bleiben wo sie gerade sind."
Die Masse teilte sich. Zu gleichen Hälften standen sie nun um die beiden theoretischen Führer herum.
"Es scheint, als ob sich unsere Einigkeit hier entzweit.", seufzte Krayde. Er verließ die Opferhalle gefolgt von seinen Anhängern, während der Aufrührer mit seiner Hälfte stehen blieb, und mit gemischten Gefühlen hinter den Brüdern herblickte.

* * *

"Hier ist schon der Kerzenständer, der den Weg versperrt.", informierte Wai die Nachkommenden.
Er nahm den Kerzenständer aus seiner Querstellung heraus und zog die Türe auf. Nichts. Stille.
"Also allmählich wird mir das unheimlich. Geben die eigentlich überhaupt einmal einen Laut von sich, den man hier noch hören könnte?", wollte Imogen wissen.
Mallow verneinte und schüttelte den Kopf.
"Hier wird weniger geredet, als gehandelt. Zumindest war es so, als Jason noch Anführer war. Aber selbst wenn sie in der Opferhalle schreien würden, du würdest es hier ganz bestimmt nicht hören."
"Aha. Sehr beruhigend.", murmelte Imogen.
Die Gruppe trat durch die Tür in den Gang, von dem aus sie in wilder Hast irgendeine Türe herausgegriffen hatten. Jetzt wiederum wussten sie nicht mehr, woher sie gekommen waren. Blindlings eine Tür zu wählen war leicht, aber jede auszuprobieren, bis vielleicht die richtige dabei war, barg schon das große Risiko in sich, plötzlich von Apokalypsern umstellt und überwältigt zu werden, ohne dass sie wussten, wie ihnen überhaupt geschah. Nein, dieses Risiko wollten und durften sie nicht eingehen. Aber welcher Weg führte daran vorbei? Es gab keine Ausweichmöglichkeit, außer jene, sie aufzuteilen, und jeden einzeln nach seinem Weg suchen zu lassen. Mallow kannte sich ein wenig hier unten aus, aber dieses bisschen war kein überzeugendes auskennen.
"Ich schätze wir müssen ausprobieren.", sprach Imogen aus, was sie alle dachten.

* * *

"Mir ist todlangweilig. Was ist los? Hat irgendwer Lust auf ein nettes Spielchen?"
Rot blickte in die Runde.
"Ihr seid heute ein wenig hyperaktiv, Rot.", wies Kriyle kühl von der Aufforderung ab.
"Wie würde es Euch denn ergehen, wenn Ihr Euer Leben lang in einem goldenen Käfig Eure Tage verbringen würdet, und nie die Schönheit eines einzigen jungen Mädchens erfahren haben konntet? Und plötzlich seid Ihr umgeben von geradezu atemberaubenden Geschöpfen..."
"Ihr meint Imogen und Mallow, richtig?"
"Tja, meiner Meinung nach sind Wai und Riyonn nicht nachweisbar weiblich veranlagt."
"Ihr habt Probleme, Rot..."
"Ja, bitte?"
"Heiratet doch einfach diese Truchsesstochter aus Pedraswhen, dann habt Ihr ein Objekt, an dem sich Eure Augen ergötzen können."
"Wer spricht hier von Augen, und überhaupt will ich keine fremde Frau vom anderen Ende Valyars so Mir-nichts Dir-nichts ehelichen, bloß weil das einen Handelsvertrag mit deren Vater herausschlüge. Kriyle, ich habe noch nie zuvor eine eventuelle Gefährtin so nah zu Gesicht bekommen."
"Armes reiches Schwein!"
"Vielen Dank für dein ungeteiltes Mitgefühl."
Rot grinste.
"Oh bitte! Es ist schon schlimm, einen Menschen zu kennen, der mal extrem ernst und mal extrem bescheuert ist. Könntet Ihr Euch nicht vielleicht einen Mittelwert suchen?"
"Ihr meint zwischen bescheuert und irre?"
"Bei den Nûdadron und Enuâr zugleich!"
"Nimm’s doch nicht so schwer, Kriyle."
"War das ganze jetzt Ernst oder Scherz?"
"Wie war das noch mal mit dem Mittelwert?"
"An dieser Stelle hätte ich den jetzt am aller gernsten nicht erfahren."
"Jedem das, was ihm zusteht!"
Rot musste lachen. Seine türkisbraunen Augen leuchteten vor ungebremster Lebensfreude.

* * *

Die erste Türe mündete in einen türenlosen Gang, so wie sie ihn von ihrer Flucht noch in Erinnerung hatte. Mit guter Hoffnung gingen sie diesen entlang.
"Ich habe das Gefühl, dieser Gang ist der falsche.", gestand Imogen nach einer Weile. Ihre rotbraunen Augen wanderten über die Wandmalereien. Die blutenden Kritzeleien erinnerten sie stark an Kleinkinderkunstwerke.
"Was bedeuten diese Zeichnungen?", wandte sie sich an Mallow.
Diese fuhr mit ihren Fingern über das trockene Blut.
"Sie beschreiben die Vorstellung einer neuen Welt... der Traum der Apokalypse... mit jedem Opfer wächst ihre Macht, und die Aussicht auf das Paradies, das sie durch Chrortoc herbeirufen möchten..."
"Wieso müssen sie das auf solch makabere Art und Weise tun?"
"Chrortoc ist ein Gott von Tod und Neugeburt. Tote Seelen stärken den Aufbau von etwas Neuem. So erklärt es ihr Glaube.", erklärte Mallow. Ein paar Tränen schossen ihr in die Augen.
"Und der Glaube meines Bruders..."
Imogen legte den Arm um sie.
Derweil hatten Wai und Riyonn das Ende des Ganges erreicht. Statt einer Tür erwartete sie ein erweiterter sehr hoher Raum, an den sich ein Portal anschloss.
"Was um alles in der Welt ist das?",  fragte Riyonn erstaunt halblaut.
Das Portal führte in einen Saal, tiefschwarz, mit einem einzigen riesigen blutenden Auge in der Mitte des geschwärzten Steinbodens. Auf dem Auge thronte ein schwarzer Altar, auf den wiederum eine schwarze Schale gestellt worden war. Ein geisterhafter flimmernder Schleier legte sich um diese Schale.
"Mallow, was ist das?", wollte Imogen wissen.
Das schwarzhaarige Mädchen antwortete nicht, sondern näherte sich dem Altar.
"Ich weiß nicht was... aber... was wollen sie hiermit?"
Sie hob die Schale an und sah hinein. Ein schwarzer Nebel, der sich von der Dunkelheit durch sein noch finsteres Äußeres abhob, sammelte sich darin und war in einer seltsamen Bewegung. Abrupt ließ Mallow die Schale zu Boden fallen. Sie zersprang und der Nebel verlor sich in der Dunkelheit.
"Was ist los, Mallow?", fuhr Riyonn hoch und betrachtete verwirrt das Mädchen, das am ganzen Leib zitterte wie Espenlaub.
"Es... es hat geredet... zu mir geredet... es kannte mich! ES KANNTE MEINEN NAMEN!"
"Schon gut! Ganz langsam!", beruhigte sie Imogen.
Indessen unterzog Wai den Altar einer näheren Untersuchung.
"Hier ist sonst nichts Ungewöhnliches.", stellte er erleichtert fest.
Mallow atmete tief durch.
"Ich glaube... ich meinte die Stimme meines Bruders gehört zu haben, und nicht nur ihn! Viele Stimmen... alle... tot!!"
"Du meinst... Fiodri? Die Opfer? Alle?", fragte Riyonn mit herabgezogenen Brauen.
"Alle! Bestimmt! So viele...", bestätigte Mallow leise.
"Vermutlich hielt Jason die Seelen seiner Opfer in dieser Schale gefangen, die er mit seiner schwarzen Magie belegt hatte. Nur... weshalb?"
"Ich... ich weiß es nicht..."
"Möglicherweise... möglicherweise brauchte er nur ein paar dieser Seelen und es waren gar nicht alle. Nur diejenigen, denen er ihre Magiekräfte auf diese Weise abverlangen konnte. Deshalb brauchte er sein Wort nicht sprechen, da es die Seelen derer taten, die er beherrschte, und damit er sie von sich aus nutzen konnte, hatte er sie getötet..."
"Auch Fiodri?"
"Wahrscheinlich..."
Mallow schluchzte leise auf.
"Dieses Monster!"
"Dadurch, dass du die Schale zerstört hast, ist er gewissermaßen machtlos. Ich schätze seine eigene Gabe verhilft ihm nicht aus dem Verlies, falls er überhaupt einer eigenen Magie mächtig ist. Und wenn doch, er wird erst spät aus seinem Wundfieber erwachen, das ihn dank mir und Rot höchstwahrscheinlich plagt. Solange ist er machtlos.", vermutete Riyonn grinsend.
Wai hatte inzwischen den Raum inspiziert, und war zu dem Schluss gekommen, zurückzugehen und einen anderen Weg zu wählen. Die nächste Tür führte ebenfalls in einen türenlosen Gang, der von abstrakten Malereien geziert war. Er war reichlich kürzer und bald vernahmen sie das Gemurmel fremder Stimmen.
"Das sind sie! Wir sind richtig!", erschloss Riyonn.
Er erstickte die Flamme und öffnete die Tür einen Spalt weit. Das gedämpfte Licht von Fackeln fiel in den Gang. Riyonn erkannte Gestalten in schwarzen Kapuzenroben. Er zwinkerte Wai zu, sprang in die Opferhalle hinein und zog mit lautem Kampfgeschrei seinen Lyk-tai.

* * *

Der Aufrührer fuhr erschrocken herum, als er diesen plötzlichen Schrei vernahm. Vor lauter Erstaunen blieb er dennoch stehen, als die Klinge seinen Körper in zwei Hälften spaltete. Seine Schützlinge stoben schreiend auseinander, bis sie ihre Fassung wieder fanden und Formation annahmen, die Kampfstäbe auf die Eindringlinge gerichtet. Der Aufrührer fiel tot zu Boden, die letzten Worte, die ihm über seine blassen Lippen huschten, bargen einen verzweifelten Hilferuf:
"Krayde! Bitte... hilf... hilf uns..."
Seine Worte verklangen in dem Kampfgetöse.
Wai und Riyonn drängten die Apokalypser immer weiter zurück, Imogen schützte Mallow. Bald hatten sie die Sekte bis zur Steintreppe getrieben, die hinauf in Jasons Haus führte.

* * *

"Sie kommen!", bemerkte Rot strahlend, wirbelte seinen Zweihänder in der Luft herum und empfing den ersten Apokalypser mit einer zirkusreifen Drohgebärde. Die Sekte ergab sich rasch ihrem Schicksal, ließen sich in Ketten legen und wurden von Kriyles Leuten in den Burgkerker geleitet.
Erfreut über den glücklichen Verlauf ihres Plans empfing Rot die anderen.
"Willkommen zurück an der Oberfläche! Spürt den frischen Sauerstoff, der eure Lungen durchzieht!", meinte er theatralisch mit den Händen fuchtelnd.
"Danke!", grinste Riyonn. "Lasst Ihr die Gänge dort unten wie sie sind?"
"Nein... es wird besser sein, wir mauern beide Eingänge nach unten zu. Kriyle, Ihr übernehmt es, dass das ausgeführt wird."
Kriyle nickte und zog ab. Die Sonne stand schon in der Abenddämmerung.
"Kommt! Ich habe heute Abend noch ein Rendezvous mit dem Galgen... äh... na ja... nicht ich... ach ihr versteht schon!", forderte Rot die Gruppe zum Rückritt auf.

Der Himmel war blutrot, als die Pferde in den Burghof einliefen. Rot übergab die Tiere den Stallburschen und tauschte mit ein paar Leute einige Worte aus, während Riyonn, Wai, Imogen und Mallow in Rots Gemächern ein prächtiges Abendessen aufgetischt bekamen.

Nach einiger Zeit traf auch Rot in seinem Raum ein.
"Hat jemand Lust dem Ende von Jason und seinem Kult beizuwohnen?", warf er fröhlich in die Runde.
Wai, Riyonn, Imogen und Mallow standen unwillkürlich auf und folgten Rot auf den Galgenplatz im Stadtinneren. Eine große Menschenmenge hatte sich dort angesammelt. Jason funkelte Mallow und Riyonn böse an.
"Ist es spaßig einen Toten zu töten?", keifte er sie an, als die Gruppe seinen Galgen passierten. Kaum ein paar Minuten später jedoch baumelte er tot in der Seilschlinge. Mallow betrachtete ihn und die Sektenanhänger befriedigt und erleichtert.
Nie wieder harmlose Menschenopfer für eine Illusion, oder eine Lüge!

"Rot! Da seid Ihr ja endlich! Euer Onkel ist schon beinahe wütend! Er wollte doch Eure Gäste begrüßen!", schimpfte Riordun, als sie dem alten Kauz bei ihrer Rückkehr in Rots Gemächer im Castell Armion begegneten.
Also folgten Rot, Wai, Riyonn, Imogen und Mallow dem Heiler durch teppichbehängte Gänge in einen großen Saal, den Thronsaal.
Schließlich standen sie vor Lord Deus dem IV. und seiner Gemahlin Kathleia.
"Rot, ich möchte, dass du mir deine Gäste vorstellst!", sagte die Gemahlin des Truchsesses bestimmt.
"Wai Lonn, General der Diebesgilde von Revol Taron, Riyonn und Imogen Katapura, seine Mündel, und Mallow Miren, eine Adlige.", fasste Rot gelangweilt zusammen.
"Miren?", fragte der Truchsess nach.
"Ja.", bestätigte Mallow.
"Das ist der Mädchenname meiner Gattin. Wir gaben ihn früher auch unseren Kindern, um sie vor Feinden des Throns zu schützen."
Mallow zuckte erschrocken zusammen.
"Leider ging unser schon fast erwachsener Sohn vor elf Jahren mit unserer kleinen Tochter fort, wir haben sie seitdem nicht wieder gesehen.", fuhr Lord Deus der IV. fort.
"Hieß Euer Sohn vielleicht Fiodri?", wollte Mallow wissen.
"Ja, aber das ist ja bekannt."
"Mir nicht!", warf Rot ein. "Mein Onkel, vor dir steht deine lange vermisste Tochter Mallow. Sie hat das Schwarz deiner Haare und das Blau von den Augen deiner Gattin. Sie trägt den Siegelring des Königtums von Randuin und sie hatte einen Bruder namens Fiodri, der sich vor einigen Jahren einer Sekte von Verrückten anschloss und freiwillig Blutopfer wurde. Mallow ist rechtmäßige Thronerbin von Randuin. Unter diesen Umständen trete ich mein Thronerbe an meine Cousine ab und werde auf Wanderschaft gehen."
Erstaunt starrten Lord Deus IV. und Kathleia ihren Neffen an.
"Meine... Tochter?", stotterte der Truchsess den Tränen nahe.
"Zeig ihnen den Ring!", forderte Rot Mallow auf.
Mallow zog den goldenen Ring mit dem blauen Siegel an einer Kette aus ihrem Ausschnitt und streckte ihn dem Herrscher Randuins entgegen.
"Er ist es!", erkannte Kathleia.
Der Truchsess erhob sich von seinem Thron und schloss das Mädchen in seine Arme.
"Elf lange Jahre... und nun habe ich mein Kind wieder!", schluchzte er und weinte in Mallows schwarze Haare.
"Lebewohl, Cousinchen.", lächelte Rot. "Mallow Deus."
Er drückte sie kurz an sich.
"Du gehst, Rot?", wollte Kathleia von ihrem Neffen wissen.
"Es ist besser so.", meinte er.
Kathleia umarmte ihn.
"Tu, was du für richtig hältst, aber vergiss deine alte Tante nicht. Du warst uns auch wie ein Sohn."
"Du warst mir wie eine Mutter, Tantchen.", lachte Rot, dann winkte er seinem Onkel zu und verließ, gefolgt von Wai, Imogen und Riyonn den Thronsaal. Dabei grinste er verwegen.
"Auf Wiedersehen Wai, Imogen!", verabschiedete sich Mallow den Tränen nahe. Der Abschied war ihr zu plötzlich. Zu spontan, das alles... "Auf Wiedersehen, Riyonn, Rot!"
Auf Nimmerwiedersehen altes Leben, Zed und Jason, seufzte sie innerlich.

* * *

Rot ließ Wai, Imogen und Riyonn vor seinen Gemächern warten, während er sich drinnen reisefertig machte. Als er wieder herauskam trug er eine dunkelbraune Lederhose, kniehohe Stiefel, schwarze Handschuhe und ein weißes Hemd, das er bis zum Bauchnabel aufgeknöpft hatte.
"Keine Rüstung?", wunderte Riyonn sich über Rots schutzlose Kleidung.
Rot zog eine Augenbraue hoch und klemmte sich ein Kettenhemd unter den Arm.
"Wer hat Euch überhaupt gestattet, dass Ihr Euch uns anschließen dürft, Prinzchen?", grinste Wai.
"Hey, ich bin kein Prinz mehr. Ich bin frei! Frei! Obwohl ich bei so einer angenehmen Gesellschaft wie meinem Cousinchen gern noch ein paar Tage länger hier bleiben könnte.", meinte Rot ebenfalls grinsend.
Er führte die Gruppe aus dem Herrengebäude hinaus ins Freie, genauer gesagt in den belebten Burghof.
"Ich sattele nur noch Ember, und dann kann’s losgehen.", sagte Rot und sie gingen Richtung Ställe. Dort sattelte er seine schöne Fuchsstute, stieg auf, während Wai, Riyonn und Imogen ihre Tiere ungesattelt bestiegen.
"Du hast vergessen, dir den Hut ins Gesicht zu ziehen!", bemerkte Imogen.
"Jetzt da ich kein Prinz mehr bin, kann man meine Schönheit ruhig alle bewundern, ich bin ja noch zu haben."
"Blödmann."
Die Gruppe verließ die Burg und durchquerte Kouwah unter Riyonns Führung, der einen ausgeprägten Orientierungssinn und einen gewissen Führerinstinkt mit sich trug. Gemeinsam ritten sie aus der Stadt hinaus.
"Es ist schon seltsam, was wir in dieser abscheulichen Stadt alles erlebt haben.", meinte Imogen mit einem verträumten Blick auf Kouwah.
"Riyonn, wohin führst du uns zuerst?", fragte Rot und legte seine Hand auf Riyonns Schulter.
"Nach Callisto, oder Gesedror, wenn dir das lieber ist.", beschloss Riyonn.
Rot grinste.
"In Callisto soll’s haufenweise hübscher Frauen geben."
"Du denkst nicht nur so wie Jersey, du schwingst sogar dieselben Sprüche wie er auch. Sollten wir ihm jemals wieder begegnen hättet ihr aneinander Brüder gefunden.", seufzte Wai.
"Wieso? Ist er genauso gut aussehend, anziehend und liebesbedürftig? Das muss ein furchtbar netter und anständiger Typ sein, wenn er mir so sehr ähnelt."
"Wenn du es so ausdrückst. Aber Jersey ist nur sehr direkt und liebt Frauen."
Rot lachte.
"In Callisto haben sie dunkle weiche Haut und schwarze Locken, erzählt man sich. Nicht dass ich schon in Callisto gewesen wäre. Das geht schon ins Exotische und das darf einen doch ein bisschen reizen."
Riyonn schüttelte den Kopf. "Ich sehe es schon kommen, verfolgt von Heerscharen verzweifelt verliebter Ladies. Imogen, halt dich von diesem Lustmolch fern!"

Der Mond stand schon hoch am Himmel.
"Hübsches Pony, das da!", meinte Rot mit einem lässigen Blick auf Ninelives.
"Kein Pony - reinrassiger erstklassiger Revolaner.", entgegnete Wai gereizt.
"Sieht aber mitgenommen aus."
"Na, deine Ember hat auch noch keine Kämpfe mit den Andumir durchgefochten. Die Narbe trug er allerdings schon bevor ich ihn ritt. Es war ein Unfall bei dem mein Vater starb. Rei Lonn, er war auch General, war stark wie ein Orc und ebenso groß."
"Dann hast du aber nicht viel von deinem Vater geerbt. Du bist recht schwächlich, ziemlich klein und ein Orc würde dich mit seinem großen Zeh platt walzen.", machte Rot sich über Wai lustig.
Imogen verdrehte genervt die Augen.
"Es war nicht sonderlich klug diese Nervensäge mitzunehmen. Ich finde, Wai sieht gut aus."
Riyonn grinste.
"Es war doch auch nur ein Scherz, ihr Süßen.", kuschte Rot und hielt schützend die Hände vors Gesicht, konnte ein Grinsen jedoch nicht verbergen.
"Also, du neunmalkluger Schönling, in welche Richtung geht’s nach Callisto?", versuchte Riyonn Rot zu testen.
"Nach Westen."
"Und wo liegt der?"
Rot verstummte. Nichts wissend zuckte er mit den Schultern.
"Keine Ahnung."
Riyonn und Wai lachten, dann ritten sie westwärts voraus, Imogen und Rot hinterher.
"Du kannst uns ja unterwegs zeigen, was du alles drauf hast.", meinte Imogen aufmunternd zu Rot.
Rot wühlte in seinem Beutel.
"Übrigens, ich hab hier eine Landkarte von Valyar, mit sehr vielen Einzelheiten. Ist vielleicht nicht schlecht für unsere Orientierung. Wenn Riyonn von seinem hohen Ross wieder unten ist, werde ich sie ihm geben. Sie ist aus der Bibliothek Kouwahs. Riordun hat sie gezeichnet, als er noch ein junger Spund war und noch viel gereist ist. Auch im Norden und so. Er soll sogar in den Ländern um Valyar gewesen sein und auch einmal auf einem anderen Kontinent, auf Kathalos. Es würde mich auch einmal reizen die Kathalossi zu sehen. Aber ich war ja noch nicht einmal in Pedraswhen, der Blume des Nordens von Valyar. Und warum in die Ferne schweifen, wenn das Glück so nah ist?"
Imogen lächelte.
"Wer war denn so versessen darauf seine Heimat zu verlassen? Ich kenne da so einen ehemaligen Prinzen, der..."
"Schon gut."
Rot grinste und trieb Ember zum Trab an, um den Vorsprung von Wai und Riyonn wieder aufzuholen. Wai lachte in sich hinein. Der Wirt wird seinen Schlüssel schön vermissen.
 

© Itariss
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
Zu Valyar und der übrigen Welt, in der diese Geschichte spielt,
gibt es auch eine Übersichtskarte (neues Fenster).


Und schon geht es weiter zum 11. Kapitel: Der Weg ins Ungewisse

.
www.drachental.de