Der Stein des Anstoßes von Pai
Kapitel 1

Simon lief durch die engen Straßen seines Heimatdorfes. Er war auf dem Weg zum Fußballspiel, und verdammt spät dran. Simon hatte noch einmal an seinem Arbeitsplatz in der Dorfbibliothek vorbeigeschaut, was ihn ziemlich in der Tagesplanung zurückwarf. Nun eilte er durch die verlassenen Straßen in Richtung Waldstadion. Wegen des ziemlich frischen Wetters trug er seine dicke Winterjacke, die Simons schlanke, sportliche Gestalt verbarg. Den Kragen der Jacke hatte er hochgeschlagen und die Mütze tief ins Gesicht gezogen, da der Wind ihm die Tränen in seine blauen Augen trieb. Der Vereinsschal war von Simon um Mund und Nase gewickelt, so dass dieser die gröbste Kälte vom Gesicht abhielt. In der letzten Nacht hatte es den ersten Frost in diesem Herbst gegeben, den Vorboten des sich nähernden Winters. Tagsüber war die Temperatur nicht nennenswert angestiegen, so dass der Boden mit Raureif bedeckt blieb.
Ein alter Traktor holperte über die schlechte Straße und verlangsamte seine Fahrt, je näher er Simon kam. Auf dem Bock saß ein Nachbar, der Simon freundlich grüßte. Es stellte sich heraus, dass er auf seinem Weg in der Nähe des Waldstadions vorbeikam. Er bot an, Simon ein Stück mitzunehmen, was dieser natürlich nicht ausschlug.

Die kurzen, schwarzen Haare klebten Simon im nassen Gesicht. Er schwitzte immer noch, trotz der beißenden Kälte. Seine Stimme war vom Anfeuern ganz heiser. Die Dorfmannschaft hatte leider verloren. Schuld war natürlich der Schiri, der den heimischen Spielmacher, und Torschützenkönig der Liga, mit einer unbegründeten roten Karte frühzeitig zum Duschen geschickt hatte. Nach dem Schlusspfiff verspürte Simon keine Lust mehr, länger als nötig am Vereinshaus zu bleiben. Er fand nicht so sonderlich viel Gefallen an den Saufgelagen, die nach jedem Spiel stattfanden. Zwar waren die Gespräche durchaus interessant, aber Simon hatte heute eigentlich noch genug zu tun.
Ihm war mittlerweile wieder eisig kalt, und so beschloss er, den Heimweg über die Felder abzukürzen. Zügig schritt Simon voran. Unter seinen Fußsohlen knisterte die angefrorene Erde. In langen Bahnen zogen sich Furten durch die Äcker. Der Feldweg gabelte sich immer wieder und Simon beschleunigte seine Schritte weiter. Ohne fahrbaren Untersatz war der Weg zurück ins Dorf verdammt lange. Streckenweise lief er immer wieder ein Stück, was endlich wieder Wärme in seine kalten Glieder brachte, zu seinem Leidwesen aber nie sonderlich lange anhielt und auf Dauer ziemlich anstrengte. Jetzt verfluchte er sich auch, dass er seine Handschuhe daheim liegen gelassen hatte. Seine Finger waren schon ganz kalt und kribbelten unangenehm.
An einem alten Baum musste Simon pausieren, er hatte beim Laufen Seitenstechen bekommen. Mit einem Seitenblick sah er zu den ersten Höfen hinüber. Niemand zu sehen, dann konnte sich auch keiner beschweren. Simon setzte zu einem Sprint über das nahegelegene Feld an. Doch bevor er es überhaupt erreichte, übersah er eine Baumwurzel. Mit dem Fuß blieb er hängen und fiel der Länge nach hin. Simon war nicht reaktionsschnell genug und schlug mit dem Kopf an einen Stein. Zum Glück dämpfte die dicke Vereins-Wollmütze das meiste des Aufschlages ab, jedoch blieb Simon für einige Sekunden benommen am Boden liegen.
Nur langsam richtete er sich wieder auf. Er hatte leichte Kopfschmerzen. Wütend kickte er nach dem Stein, um ihn fortzuschleudern, doch das gestaltete sich mit einem mal schwerer als gedacht. Der Stein schien größer und im Boden tiefer verankert zu sein, als von oben auszumachen war, und Simons Fuß tat nun ziemlich weh. Voller Unmut legte er seine rechte Hand auf den Stein, um ihn herauszuziehen, als er verblüfft innehielt. Bildete er sich das nur ein oder war der Stein wirklich warm? Nun griff Simon auch mit der anderen Hand zu, und wurde in seiner Annahme bestätigt. Der Stein war tatsächlich warm. Simon sah sich um. Überall war der Boden gefroren, und er konnte keinen Grund für dieses seltsame Verhalten des Steines finden. Er beschloss ihn auszugraben und mit nach hause zu nehmen.
Es war kein einfaches Unterfangen, den Stein aus dem angefrorenen Boden auszugraben. Je tiefer er grub, desto mehr wunderte er sich über die Form des Steines. Er sah aus wie ein Ei, ein sehr großes Ei. Deutlich behutsamer als zuvor befreite er es von Erdresten und befühlte die Oberfläche. Obwohl er diesem Ding zweimal ziemlich übel mitgespielt hatte, konnte er keinerlei äußerliche Beschädigung ausmachen, und es strahlte nach wie vor eine Art von Wärme aus. `Was für ein seltsames Ding` wunderte er sich, wickelte es in den Vereinsschal, und lief weiter nach Hause.
Dort reinigte er es mit einem feuchten Lappen. Es schien sich tatsächlich um ein Ei zu handeln. Die Schale war grau- braun. Man konnte es wirklich für ein großen Klumpen Erde halten, wenn man nicht genau hinsah.
Trotz wiederholter Suche im Internet und in diversen Büchern erhielt Simon keinerlei Aufklärung über dieses seltsame Ding. Er hatte keine Ahnung, was und ob da überhaupt in diesem Ei heranreifte. Als er es gegen die Lampe hielt, konnte er jedenfalls nichts im Inneren erkennen, da kein Lichtstrahl hindurchdrang. Er konnte es wohl nur erfahren, wenn er einfach mal den Versuch unternahm es auszubrüten. Aus einem Korb und älteren Kleidungsstücken baute er ein provisorisches Nest. Dieses stellte er auf den Sims seines Kamins. Er hatte keine Ahnung, ob überhaupt noch etwas daraus ausschlüpfte.
Die Tage vergingen, wurden zu Wochen, und Simon zweifelte immer mehr an seinem Vorhaben. Der Winter verging, und der Frühling hielt im Land Einzug.
Am Anfang hatte er das Ei tagtäglich aus dem Nest genommen und auf Veränderungen überprüft, doch er hatte keine feststellen können. Immer öfter vergaß er es nun, bis er sogar gar nicht mehr daran dachte. Das Nest war zu einem festen Bestandteil seines Schlafzimmers geworden, dem er kaum noch Beachtung schenkte.

Eines Nachts wurde er aus seinen Träumen gerissen. Ein fremder Klang hallte durch den Raum. Simon setzte sich auf und horchte. Da war es wieder. Ein leises Knacken. Langsam sah Simon sich um. Er hatte doch wohl keine Mäuse im Haus? Vorsichtig stieg Simon aus seinem Bett und schlich durch das Zimmer. Das Knacken wiederholte sich. Jetzt, da Simon im Zimmer unterwegs war, war es ihm ein leichtes, die Ursache des Geräusches auszumachen. Es kam vom Kamin, in dem nur noch ein schwaches Feuer glomm. Simon sah in das künstliche Nest. Das Ei war unter den Kleidungsstücken verschwunden. Vorsichtig zog er sie auseinander, bis er das Ei erkennen konnte. Was er sah, veranlasste ihn dazu, die Stehlampe aus dem Wohnzimmer zu holen und einzuschalten. Das Ei hatte Risse bekommen. Ein Gefühl von Ratlosigkeit beschlich Simon. Sollte er jetzt einfach nur abwarten oder das Ei weiter aufbrechen.
Ihm wurde die Entscheidung abgenommen, denn just in diesem Augenblick zersprang die Schale endgültig. Die Splitter flogen quer durch das ganze Zimmer, doch das interessierte Simon im Augenblick nicht. Sein Blick war auf das Innere des Nestes gerichtet. Darin lag ein etwa faustgroßes, vollkommen schwarzes Etwas, das seinen kleinen, schmalen Kopf hob, Simons Blick mit grünen Augen erwiderte und dann in höchsten Tönen anfing zu kreischen.
Später wusste Simon nicht mehr, wie er auf die Idee gekommen war, aber er eilte in die Küche und kehrte mit seinen Vorräten aus dem Kühlschrank zurück. Die darauf folgende Stille wurde nur von dem Schmatzen dieses Etwas unterbrochen, das genuss- und geräuschvoll Simons Wurst und Obst vertilgte. Das Gemüse verschmähte es größtenteils. Dann rollte es sich zusammen und kurz darauf war es eingeschlafen.
Simon nutzte die Gelegenheit, sich das Kleine mal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Vorsichtig hob er es aus dem Nest heraus, trocknete es mit einem der Kleidungsstücke ab und sah es sich von allen Seiten an. Dann säuberte er das Nest von den restlichen Schalen, legte ein paar neue Handtücher hinein und den Kleinen ganz obenauf.
Leise wollte er das Zimmer verlassen, doch die Schalen, die noch überall herumlagen, machten sein Vorhaben zunichte. Ein Knirschen und Knacken begleitete seinen Schritt. Zum Glück wachte der Kleine nicht auf. Vorsichtig schloss Simon die Tür und trat in sein Wohnzimmer. Dort griff er nach einer Flasche und gönnte sich erst mal einen Schluck. Das hatte er nicht erwartet, und war dementsprechend baff und ungläubig zugleich. Das, was da in seinem Zimmer lag, war ein kleiner nordischer Drache. Aber Drachen waren doch Sagengestalten, die nur in Märchen vorkamen.

Der Kleine schreckte Simon aus seinem Schlaf auf. Er war im Sessel eingeschlafen. Die Flasche war aus seiner Hand gerutscht und auf dem Boden aufgeschlagen. Der Inhalt hatte sich größtenteils über den Teppich verteilt. Mühsam erhob er sich aus dem Sessel. Er hatte Kopfschmerzen. Die Uhr auf dem Handgelenk zeigte 4 an. Kaum hatte er die Tür zu seinem Zimmer geöffnet, als er es bereute. Der Krach war schlimmer als von draußen gehört. Simon stöhnte, als sich seine Kopfschmerzen verstärkten. Plötzlich herrschte Stille. Überrascht und beunruhigt sah Simon zu dem Nest herüber. Er konnte den Kleinen nicht erkennen. Hastig eilte er zu dem Nest hinüber. Da saß er, ganz munter und schaute Simon erwartungsvoll an. Dann krächzte er leise und kaute an einem der herumliegenden Salatblätter. "Hast du etwa schon wieder Hunger?" Irrte Simon sich, oder hatte der Kleine genickt? Aber was sollte er ihm geben? Der kleine Drache hatte eben schon fast seinen ganzen Kühlschrankinhalt verdrückt.
Zurück in der Küche suchte Simon nach etwas, was er dem Kleinen noch geben konnte. Irgendwo musste er doch noch Dosen haben. Er fand ein paar im hinteren Bereich des unteren Küchenschrankes. Doch ein Blick auf das Haltbarkeitsdatum bewegte ihn dazu, die Dinger sofort in den Abfalleimer zu befördern. Er wollte ihm etwas zu essen geben, nicht vergiften.
Simon trat in den Kühlkeller hinab. Dort, wusste er, hing noch der gute Schinken, den ihm seine Mutter zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Er fand auch noch ein paar Dosen mit Obst und Thunfisch in den Regalen. Zusammen mit dieser Ausbeute kehrte er in sein Schlafzimmer zurück. Dort wurde er bereits sehnlichtst erwartet.
Der kleine Drache hatte sich erhoben und war nun auf dem weichen Untergrund um einen festen Stand bemüht. Dabei stellte er sich ziemlich tollpatschig an. Irgendwie hatte die ganze Szenerie schon etwas witziges, und Simon musste grinsen. Der Kleine hatte Simons Anwesenheit bemerkt, denn der Kopf wandte sich wieder in seine Richtung und er krächzte erneut leise. Dann streckte er seine kleinen, noch völlig zerknitterten Flügel aus. Er stützte sich mit den zwei Vorderbeinen an dem Rand des Korbes ab, wobei er seine kleinen Klauen um den Rand schloss, während er mit den Hinterbeinen einen halbwegs festen Stand in dem weichen Untergrund suchte, und Simon hatte auf einmal eine böse Vorahnung.
Er ließ die Sachen fallen und hechtete zu dem Nest hin. Der Kleine versuchte ganz offenbar zu fliegen, denn er stieß sich vom Rand des Nestes ab, so kräftig, dass es vom Kamin fiel. Leider war es nicht das einzige was fiel. Mit einem erschrockenen Quietschen trat er ebenfalls die Reise nach unten an. Simon ließ sich auf die Knie fallen und streckte die Hand aus. Ihm gelang es im allerletzten Moment den Kleinen aufzufangen. "Tu das ja nicht noch einmal." Mit leicht drohendem Finger richtete sich Simon wieder auf. Der Kleine schaute ihn mit entschuldigendem Hundeblick an und ließ wieder ein leises Piepsen hören. Dann versuchte er über Simons Arm auf seine Schulter zu gelangen, was ihm trotz seiner Tollpatschigkeit ziemlich gut gelang. Seine kleinen Krallen suchten beim Aufstieg in der Wolle von Simons Hemd halt, und waren durch das dünne Textil auf der Haut spürbar, taten aber nicht weh. Auf der Schulter angelangt, legte er sich mit einem leisen Seufzer nieder und ließ seinen langen Schwanz an Simons Rücken hinabbaumeln, während er seinen kleine Kopf an Simons Hals bettete. Er war überraschend leicht, und Simon ließ ihn auf der Schulter liegen, während er wieder vorsichtig die Sachen aufsammelte, die Treppen hinunterging.
In der Küche angelangt, schnitt er ein Stückchen vom Schinken ab, öffnete die Dosen und verteilte deren Inhalt auf einem Teller. Sofort hob der Kleine wieder seinen Kopf und wartete bis Simon den Teller auf dem Küchentisch abgestellt hatte. Dann sprang er, jetzt immer sicherer werdend, von seiner Schulter und fing wieder an zu fressen. Langsam ließ sich Simon auf einem Stuhl nieder und schaute zu. "Ich brauche noch einen Name für dich. Nur wie soll ich dich nennen?" Der Kleine schaute kurz zu Simon und fraß dann weiter. Simon grübelte. Irgendwie fiel ihm kein richtiger Name ein, der zu dem Kleinen passen würde. Er seufzte. Diejenigen, die ihm ins Gedächtnis kamen, waren viel zu banal, oder irgendwo schon mal benutzt worden. Es sollte ein außergewöhnlicher Name sein.
Er stand auf und griff nach einem seiner Bücher, die überall im Haus verstreut lagen. Es war ein Buch über alte Sagengeschichten. 'Passend,' bemerkte er in Gedanken trocken. "Jason, der den Drachen im Schlaf überlistete...Nein nicht wirklich..." Leise murmelte Simon vor sich hin, während er die Seiten umschlug. Plötzlich hielt er inne und las einen Abschnitt mehrere Male. "Wie wär’s mit Tannin. Tannin der weise Drache von Babylon." Simon grinste und sah den Kleinen an, der sein Mahl unterbrochen hatte und den Blick erwiderte. "Na ja, weise bist du ja wohl noch nicht..." Sofort fing der Kleine an zu protestieren, so als wolle er Simon vom Gegenteil überzeugen. "Dir gefällt der Name also?" Der Kleine gab gurrende Geräusche von sich und trippelte in Simons Richtung. Nur um sich so vor ihm niederzulassen, dass sein kleiner Kopf auf Simons Hand ruhte. Dann schloss Tannin die Augen und rieb mit seinem Köpfchen so lange über Simons Hand, bis er anfing den Kleinen unter dem Kinn zu kraulen. Tannin schien es zu genießen und auch bei Simon machte sich tiefe Befriedigung breit.
In dieser Nacht ging Simon nicht mehr ins Bett. Nachdem Tannin zuende gefressen hatte, waren sie zum Sofa gegangen. Während Simon Platz genommen hatte, war Tannin wieder auf seine Schulter geklettert und eingeschlafen.
Irgendwann war Simon auch im Sitzen eingenickt, und schreckte hoch, als ihm die aufgehende Sonne unangenehm ins Gesicht stach. Es war nach 8 Uhr. Eigentlich müsste er jetzt zur Arbeit. Normalerweise öffnete er um 10 die Bibliothek. Als Simon sich von dem Sofa erhob, um seine müden und total verspannten Glieder zu strecken, schreckte auch Tannin aus dem Schlaf. Fragend zirpte er ihm ins Ohr. "Ich muss zur Arbeit," meinte Simon entschuldigend. Tannin wollte ihn gar nicht gehen lassen. Simon musste ihn mit dem restlichen Schinken bestechen, um sich dann heimlich aus dem Staub zu machen.
Den ganzen Tag dachte er an Tannin und fragte sich, wie es dem Kleinen ging. So allein in diesem großen Haus. Ihm tat Tannin leid, doch er musste seiner Arbeit nachkommen.
An diesem Tag schloss die Bibliothek überpünktlich. Auf dem Nachhauseweg sprang Simon im örtlichen Supermarkt hinein. Die Kassiererin fragte ihn, ob er Besuch hätte, da er soviel Fleisch und Obst einkaufte. Das war doch ungewöhnlich. Doch Simon wich der Beantwortung der Frage irgendwie aus und beeilte sich nach Hause zu kommen.
Dort wurde er schon sehnlichst erwartet. Tannin schien nicht besonders begeistert darüber zu sein, dass Simon ihn den ganzen Tag allein gelassen hatte, denn kaum war Simon zur Tür rein, ging das große Gezeter los. Tannin war außer sich, und ließ Simon das auch spüren. Er ließ sich erst nach und nach von den mitgebrachten Speisen wieder beruhigen. Trotzdem hatte Simon den Eindruck, als Tannin seine Schulter erkletterte seine Klauen doch nicht ganz so vorsichtig einsetzte wie in der Nacht davor. Doch als Tannin sich niedergelassen und Simon ihn unter dem Kinn kraulte, schien die Welt wieder in Ordnung zu sein.
Tannin behielt die Angewohnheit bei, Simon immer wieder Nachts aus dem Bett zu werfen, damit er etwas zu fressen bekam. Doch er schien sich daran zu gewöhnen, den Tag über allein verbringen zu müssen. Dafür stellte er aber in dieser Zeit mächtig viel Unfug an. Außerdem wurde er immer größer, was sich auch in seinem Appetit niederschlug.

Eines Nachts, es kam jetzt häufiger vor, dass Simon mal durchschlafen konnte, wurde er unsanft aus seinen Träumen gerissen. Etwas großes und schweres lag über seinem Gesicht und nahm ihm die Luft zum Atmen. "Tannin, geh da runter. Ich krieg keine Luft," grummelte er im Halbschlaf vor sich hin. Tannin ließ zwar nun von Simons Gesicht ab, begann dafür aber in sein Ohr zu zirpen. Noch immer genervt durch die nächtliche Schlafstörung wollte Simon nach Tannin greifen und ihn an eine andere Stelle seines Bettes setzen, doch seine Hand griff ins Leere. Überrascht hielt er inne. Wo war Tannin? Simon öffnete seine Augen und schloss sie sogleich wieder. Das träumte er sicher noch. Gleich würde er richtig wach sein. Langsam öffnete Simon die Augen erneut, doch die Szenerie hatte sich nicht verändert. Über seinem Gesicht machte Tannin Flugversuche, verlor prompt wieder den Takt und klatschte neben Simon erneut unsanft aufs Bett. Jetzt wusste dieser auch, was ihn geweckt hatte. Mit einem Zirpen, das sich ganz wie eine Entschuldigung anhörte, versuchte Tannin sich wieder aufzurichten und fuhr, als er das Gleichgewicht verlor, Simon mit einer seiner Klauen direkt durch das Gesicht. Er hinterließ eine blutige Schramme auf Simons Wange. Dieser schrie mehr vor Überraschung als vor Schmerz auf. Sofort verzog sich Tannin in die dunkelste Ecke des Zimmers und verhielt sich ganz still.
Simon tastete vorsichtig nach seiner Wange und zuckte leicht zusammen, als er die Wundstelle berührte. Er hatte Blut an den Fingerspitzen, als er diese wieder zurückzog. Mühsam erhob Simon sich und ging ins Bad, um sich seine Wange genauer anzusehen.
Das ganze sah schlimmer aus, als es in Wirklichkeit war. Der Kratzer war zwar lang, aber nicht sonderlich tief und hörte nach wenigen Minuten auch schon wieder auf zu bluten. Er verzichtete auf ein Pflaster. Einerseits war er jetzt viel zu müde, um im Arztschränkchen danach zu kramen, und zum anderen störten die Dinger ihn dann eh nur bei seiner Arbeit. Gähnend kehrte er in das Schlafzimmer zurück, nur um festzustellen, dass Tannin noch nicht an seinen angestammten Platz auf dem Kopfkissen zurückgekehrt war, sondern noch immer in der Ecke kauerte und Simon mit furchtsamen Blicken ansah. "Du kannst ruhig herauskommen. Es ist nicht so schlimm. Ich bin dir nicht böse", versuchte er den total verstörten Tannin aus der Ecke zu locken, doch dieser gab nur ein verängstigtes Zirpen von sich und blieb weiterhin in der Ecke hocken. Es kostete Simon viel Zeit und Mühe, bis sich Tannin aus der Ecke traute und langsam wieder zu ihm kam. Simon bot ihm seine Hand an, damit er ihn wieder auf seine Schulter setzen konnte, doch Tannin zögerte. Simon musste ihm noch etwas zureden bis Tannin auf seine Hand trat. Doch auf die Schulter kletterte er nicht. Stattdessen rollte er sich zusammen und piepste leise vor sich hin. Als Simon ihn vorsichtig auf seinen Schlafplatz legte sah Tannin nur kurz mit betrübten Augen auf und legte seine Kopf erneut auf seine Vorderpfoten nieder. Eine gewisse Zeit sah Simon noch auf Tannin herab, ehe er sich selbst wieder schlafen legte.
Am nächsten Morgen musste Simon feststellen, dass Tannin seinen Schlafplatz verlassen hatte und auf dem nackten Sims über dem kalten Kamin lag. Tannin hatte einen unruhigen Schlaf und er zitterte immer wieder, so als ob er frieren würde. Simon trat an seinen Schrank und kramte nach einigen warmen Sachen. Er breitete einen Wollpullover auf dem Sims aus und hob dann Tannin vorsichtig darauf. Dieser erwachte nicht, hörte aber auf zu zittern als Simon ein weiteres Wollhemd über ihn legte. Auf leisen Sohlen verließ er das Schlafzimmer und ging in die Küche. Dort bereitete er einige Fleisch- und Obststücke vor, mit denen er wieder in das Schlafzimmer zurückschlich und sie Tannin vor die Schnauze stellte. Dann verließ er das Zimmer erneut, ließ aber die Tür nun offen.
Völlig außer Atem erreichte Simon seinen Arbeitsplatz. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und schien warm auf das Dorf herab. Ein herrlicher Frühlingstag. Simon öffnete alle Fenster in der kleinen Bibliothek, damit die frische, warme Luft durch die Regale streichen konnte. Dann wandte er sich dem Einstellen der Bücher zu. Die Leserkartei wollte auch noch geordnet werden, bevor er die Bibliothek für die Leser öffnete. Es war kurz vor 10 Uhr, als Simon mit seiner vorläufigen Arbeit fertig war. Er kramte seinen großen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss die Haupttür auf, so dass die Leute in das Innere der Bibliothek konnten. Nun begann die eigentliche Arbeit. Heute war der erste Ferientag der Frühlingsferien und so waren nach kurzer Zeit eine Menge Kinder in der Bibliothek, die lärmend durch die Regale rannten und sich kaum bändigen ließen. Die Kleineren zogen Bücher und CDs aus den Regalen und stellten sie ein, wo es ihnen gefiel. Simon hatte alle Hände voll zu tun, aber sie zeigten keine Lust auf seine Worte zu hören. Allerdings war die Schramme, die Simons Gesicht immer noch gut sichtbar zierte, ein Highlight. Immer wieder erzählte Simon, dass er der Nachbarskatze hatte vom Baum retten wollen, und war dabei von ihr gekratzt worden. Diese Antwort schienen ihm alle abzunehmen.
So gegen 12 Uhr begann Simon zu verzweifeln, und noch lagen 4 Stunden Öffnungszeit vor ihm. Natürlich war keiner der Eltern mitgekommen uns so blieb Simon keine andere Wahl als zu versuchen zu retten, was noch zu retten war.
Plötzlich verstummten die Kinder schlagartig, und Simon schaute erstaunt auf. Was war passiert? Er verließ seinen Stuhl hinter dem Ausleihschreibtisch, wo er sich eben niedergelassen hatte, und trat mit hastigem Schritt durch die Regalreihen zur Kinderabteilung. "Ist alles in Ordnung?", fragte er verunsichert. Als er durch die Regale lugte, konnte er nichts erkennen. Dass sich eines der Kinder wehtat, war das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Einige der Kinder fingen an zu lachen, und Simon verlangsamte seinen  Schritt. Ganz offensichtlich war doch keiner verletzt. Als er um das letzte Regal trat, sah er, was der Grund für die Heiterkeit war und erstarrte. Das war jetzt das, was er am wenigsten hatte gebrauchen können. Simon fluchte innerlich. Er hatte wohl vergessen, das Fenster daheim in der Küche zu schließen. Jedenfalls saß Tannin nun auf einem der Regale, und die Kinder versuchten ihn von dort oben herunterzulocken. Dabei stellten sie sich erstaunlich kreativ an. Es sah fast so aus, als amüsiere sich Tannin über die Versuche der Kinder. Als er jedoch Simon erblickte, stieß er einen freudigen Schrei aus, breitete seine Flügel aus und stieß sich vom Regal ab. Tannin legte eine Punktlandung auf Simons Schulter hin, was diesen ziemlich überraschte und fast aus dem Gleichgewicht brachte. Ganz offensichtlich hatte Tannin sich vom Schrecken der letzten Nacht erholt. Das erklärte Simon wie Tannin in die Bibliothek gekommen war. Was ihn jedoch überraschte war, wie Tannin ihn hier gefunden hatte.
Dieser ließ seinen Schwanz zuerst wieder an Simons Rücken hinabhängen, legte ihn aber dann doch lieber um Simons Hals herum, weil einige der kleineren Kinder versuchten daran zu ziehen. Sofort war Simon die Person mit der meisten Aufmerksamkeit in der ganzen Bibliothek. Die Katzengeschichte nahmen ihm die Kinder jetzt natürlich überhaupt nicht mehr ab. Stattdessen wollte jeder der Kinder Tannin anfassen und streicheln. Tannin schien die ganze Aufmerksamkeit zu gefallen.
Zuerst hatte er nur die Kinder eines nach dem anderen gemustert, dann aber war er wieder von Simons Schulter herabgesprungen und vollführte halsbrecherische Kunststücke in der Luft. Mehr als einmal hatte Simon die Befürchtung, dass Tannin wieder abstürzen würde, doch dieser schien aus seinen Fehlern gelernt zu haben.
Immer wieder flog er dicht über die Köpfe der Kinder hinweg, nur um im letzten Moment wieder aufzusteigen, wenn sie nach ihm greifen wollten. Es sah so aus, als wollte er mit ihnen spielen und sie necken. Dabei stieß er immer wieder fröhliche Pfeiflaute aus. "Ist es ein er oder eine sie?" wollte eines der Mädchen wissen. "Ich glaube es ist ein er", entgegnete Simon. So genau wusste er es selbst nicht. "Hat er einen Namen?" Einer der größeren Jungen, der Tannin eben fast erwischt hatte, sah Simon fragend an. "Er heißt Tannin." - "Was mag er am liebsten?" Simon wurde mit allerlei Fragen bestürmt. So gut wie er konnte beantwortete Simon die Fragen der Kinder.
Während der ganzen Fragerei schien Tannin langsam müde geworden zu sein, denn er ließ sich wieder auf Simons Schulter nieder, legte seinen Kopf gegen Simons Hals und schloss die Augen. Die Kinder waren von dem Anblick ganz fasziniert.
Eher durch Zufall schaute Simon auf die Uhr und erschrak. Es war kurz vor 4. Er hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit jetzt vorübergegangen war. "So, leider müsst ihr für heute nach Hause gehen." Simon versuchte die Kinder in Richtung des Ausganges zu bugsieren, doch diese blieben kurz davor stehen. "Wir gehen nur, wenn Tannin morgen wieder da ist. Versprochen?" Simon war baff und sprachlos. Nun war es an Tannin, der seinen Kopf hob und seinen langen Hals in Richtung Simons Gesicht bog. Irgendwie hatte er einen bittenden Ausdruck in seinen Augen. Simon hob kapitulierend die Hände. "OK. Aber ihr müsst mir unbedingt versprechen, niemandem etwas von Tannin zu erzählen." - "Indianerehrenwort", sagte einer der Großen und alle anwesenden Kinder hoben schwörend die Hände. Alle Anwesenden fingen an zu grinsen, dann stürmten die Kinder wieder lärmend aus der Bibliothek und Simon schloss die Tür.
Tannin war unterdessen auf den Ausleihschreibtisch geflogen und hatte es sich dort gemütlich gemacht, wo die Sonne ihre wärmenden Strahlen durch das Fenster scheinen ließ. Jetzt erst fiel Simon auf, dass Tannins Schuppen gar nicht vollkommen schwarz waren, sondern einen bläulichen Schimmer inne hatten. Erst das Sonnenlicht deckte diese feinen Nuancen auf.
Simon war etwas ratlos. Wie sollte er Tannin jetzt nach Hause bekommen. Auf der Straße war zuviel los und das letzte, was er jetzt noch brauchen konnte, waren unnötige Fragen und dummes Geschwätz. Er wunderte sich eh, dass Tannin auf dem Hinweg offenbar von niemand gesehen worden war.
Er rätselte vor sich hin, als jemand gegen die Tür klopfte. Hatte wohl jemand wieder vergessen, seine Bücher rechtzeitig zurückzugeben. Langsam ging Simon zur Tür, drehte den Schlüssel und öffnete sie so weit, dass man von außen den Schreibtisch nicht einsehen konnte. "Wir haben bereits geschlossen." - "Ich weiß." Simon schaute nach unten. Es war keiner der erwachsenen Leser, sondern ein kleines Mädchen aus der Nachbarschaft. Sie trug einen Katzenkorb vor sich her. "Marco hat gesagt, dass du das vielleicht gebrauchen könntest." Konnte der Junge Gedanken lesen? Sie hielt ihm das Ding unter die Nase. "Äh...Danke." - "Hast du jetzt Katzen daheim?" Sie musterte seinen Kratzer auf der Wange. Simon atmete auf. Offensichtlich hatte Marco doch nichts von Tannin erzählt. Er nickte leicht. "Darf ich sie mal sehen?" Simon schluckte. Er hatte die Story vergessen, und jetzt war es zu spät. "Im Moment noch nicht, sie ist noch zu scheu." - "Ach so." Die Kleine wirkte enttäuscht. Irgendwie tat sie Simon leid, aber er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. "Tschüss dann." Die Kleine wandte sich ab und lief in Richtung Elternhaus davon. Kurz winkte Simon ihr noch hinterher und schloss dann die Tür wieder ab. Ihm behagte es überhaupt nicht, wenn er Kinder anlügen musste.
Es war ein Abenteuer Tannin in den Korb zu bekommen. Er hatte zwar keine Probleme, darin Platz zu nehmen, aber ihm gefiel es nicht, dass Simon ihm die Decke komplett über den Körper zog. Immer wieder streckte er seinen Kopf heraus und Simon musste ihn wieder unter der Decke versenken. "Bleib endlich unten, oder willst du uns Ärger einbringen?" Tannin quietschte protestierend und blieb diesmal aber unter der Decke.
Simon verließ die Bibliothek und schlenderte zum Supermarkt. Überall maßen ihn verwunderte Blicke, aber niemand fragte ihn, was er in dem Korb transportierte. Die Leute grüßten und gingen weiter. Über die Treppe betrat Simon den Supermarkt, weil er neue Sachen für Tannin brauchte. So ganz wohl war ihm bei der Sache nicht.
Langsam schob er den Einkaufswagen vor sich her und griff wahlweise in die Regale und holte verschiedene Dinge heraus. Je näher sie der Fleischtheke kamen, um so unruhiger wurde Tannin im Korb. Er schien das frische Fleisch zu wittern. "Halt still und du bekommst heute ein besonders großes Stück." Das war zwar Erpressung, aber es schien auf Tannin Wirkung zu haben. Es wurde wieder ruhiger im Korb. "Na, was darf es denn heute sein?" Simon stöhnte innerlich. Ausgerechnet Frau Schnader. Sie war die größte Klatschtante im Dorf, was sie wusste, wusste bald das ganze Dorf. Er musste seine Worte jetzt mit Bedacht wählen. Hoffentlich blieb Tannin ruhig. Zuerst schien alles ganz gut zu verlaufen, doch dann siegte bei Tannin doch der Hunger. Er wurde unruhig. Neugierig spähte Frau Schnader über den Tresen in den Korb. Konnte aber zu ihrem Bedauern nichts erkennen. "Was haben Sie denn da drin?" Simon überlegte fieberhaft was er sagen sollte. "Eine Katze. Er hat eine kleine Katze da drin. Das sieht man doch wohl in seinem Gesicht." Der Kopf von Simon ruckte herum. Neben ihm stand Marco, der ihn nun frech angrinste. "Darf man die Kleine mal sehen", bettelte Frau Schnader. "Ich glaube nicht, dass dies der Reinlichkeit ihres Arbeitsplatzes förderlich wäre." Endlich hatte Simon den Faden wiedergefunden. Frau Schnader zog einen Schmollmund, ließ aber nun endlich ab und packte das gekaufte Fleisch in die Tüte. "Einen Moment. Ich glaub, ich hab da noch was." Frau Schnader verschwand im hinteren Teil des Ladens und kam kurz darauf mit einer weiteren Tüte zurück. "Frische Innereien. Das schmeckt ihnen sicher bestimmt, und sind gut für das Wachstum." Sie packte die Tüte zu den anderen Wurstwaren. Besorgt blickte Simon auf den Korb, wo unter der Decke so langsam die Post abzugehen schien. Er wusste nicht, wie lange er Tannin noch vor den Blicken von Frau Schnader verbergen konnte. Es war Marco, der unter die Decke griff, noch bevor Simon etwas sagen konnte. Er hatte sich ein Probe-Wurststück von der Theke geklaut und hielt es nun heimlich Tannin unter die Schnauze, damit dieser vorrübergehend Ruhe gab. "Was macht das zusammen?" - "Die Innereien bekommen Sie umsonst. Ansonsten 30 Euro und 55 Cent." Hastig legte Simon das Geld auf die Theke. "Bis demnächst." Simon verließ so schnell den Laden, dass er die Abschiedsworte von Frau Schnader schon gar nicht mehr mitbekam.
Marco half ihm beim Transport der Tüten nach Hause. Er grinste die ganze Zeit nur von einem Ohr zum anderen. "Das war ganz schön knapp", meinte er lapidar. Simon nickte nur. "Eine Katze." Marco grinste leise vor sich hin. Simons Blick ruhte immer wieder auf dem Korb, doch Tannin rührte sich jetzt nicht mehr. Als er die Decke kurz anhob sah er auch warum. Der kleine Tannin war eingeschlafen. Er war sicherlich erschöpft von dem aufregenden Tag. Auch Simon verspürte Müdigkeit. "Danke übrigens für eben." - "Keine Ursache." Marco grinste noch breiter. "Du führst doch was im Schilde." - "Nein, gar nichts." Simon musterte Marco von oben bis unten. Dieser tat, als sei er der Unschuldsengel in Person. "Das kauf ich dir nicht ab. Du willst doch irgend etwas." - "Och, ich will einfach nur ein bisschen mit Tannin spielen." Aha, daher wehte also der Wind. Nun grinste auch Simon. Das hätte er sich doch auch gleich denken können.
Marco ließ sich jedenfalls nicht abwimmeln und so schafften sie gemeinsam die Einkäufe in Simons Küche, um das Fleisch dann mit Mühe und Not im Kühlschrank zu verstauen. "Tannin frisst soviel?" Marco konnte sich ein Staunen nicht verkneifen. "Das reicht grade mal für 3 Tage", meinte Simon bestätigend. Marco pfiff durch seine Zahnlücke. Das jedoch ließ Tannin in seinem Schlaf hochschrecken. Unsicher durch den unbekannten Laut, blickte er sich suchend um. Marco grinste, als er die Reaktion des kleine Drachen sah und pfiff noch einmal. Tannin erwiderte den Pfiff etwas höher, Simon und Marco grinsten. "Darf ich ihn auch mal halten?" Fragend blickte Marco zu Simon. "Da musst du nicht mich fragen, sondern ihn." Marco stand wie angewurzelt da, und Simon musste ihm einen kleinen Schubs geben, damit er sich überhaupt von der Stelle rührte. "Geh hin und versuche es."
Das war leichter gesagt als getan, denn Marcos Beine schienen plötzlich aus Gummi zu bestehen. Zögerlich und in kleinen Schritten trat er an den Korb heran. "Äh, und was muss ich jetzt tun?" Marco war unsicher, konnte seinen Blick aber nicht von Tannin abwenden. Dieser schaute ihn ebenfalls an, und Marco hatte plötzlich das Gefühl, als könne der Kleine mit seinen grünen Augen bis auf den Grund seiner Seele blicken. Unweigerlich musste Marco an die ganzen Streiche denken, die er den anderen bisher gespielt hatte, und leichte Röte stieg in sein Gesicht.
Simon stand abseits und grinste. Marcos plötzliche Schüchternheit amüsierte ihn. War es doch das erste mal, dass der ansonsten so freche Marco sich ganz brav verhielt. Tannin ließ diesen noch etwas schmoren, ehe er sich wieder erhob und die Flügel spreizte. Doch anstelle, dass er sich auf die dargebotene Hand setzte, flog er weiter und suchte sich einen anderen Landeplatz. Simon fing an schallend zu lachen. Marcos Augen wanderten langsam nach oben. Tannin hatte es sich auf seinem Kopf bequem gemacht, und zupfte spielerisch an den kurzen braunen Haaren, eh er seinen langen Hals vorstreckte um Marco ins Gesicht zu blicken. Dabei stieß er eine Folge von Zirplauten aus. Marco stand immer noch da wie vom Donner gerührt. Nur zögerlich hob er seine Hand. "Nur nicht so schüchtern", ermunterte Simon ihn. "Er wird dich schon nicht beißen." Das hätte Simon besser nicht gesagt, denn Marcos Hand fiel sofort wieder ab. "Im Laden noch gefüttert, und jetzt hast du etwa Angst?" Etwas überrascht war Simon schon über Marcos Reaktion. Tannin zirpte enttäuscht und fing an, an Marcos Pony zu zupfen. "Hey, lass das." Marcos Hand zuckte wieder nach oben, um Tannin bei seinem Tun zu stören, doch dieser wich Marco spielerisch aus, ohne den Kopf zu verlassen. Stattdessen wartete er ab, bis der Schwung verloren gegangen war, und positionierte seinen Kopf so, dass Marco ihn unweigerlich berühren musste. Damit war der Bann gebrochen und Tannin genoss die Streicheleinheiten, die Marco ihm zukommen ließ. Simon konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu grinsen. "Übertreib es nicht, oder er lässt dich am Ende gar nicht mehr gehen." Ein diebisches Grinsen zuckte über Marcos Gesicht. "Prima, dann nehme ich Tannin mit nach Hause." - "Das hättest du wohl gerne." Spielerisch drohend hob Simon die Hand. "Aber immer doch." Marco nickte so heftig, das Tannin sich mit einem protestierenden Quietschen in dessen Haare verkrallte. Was diesen doch recht unangenehm daran erinnerte, solche Aktionen im Moment zu unterlassen.

Der Abend war fortgeschritten, als Marco durch einen Blick auf die Uhr feststellte, dass er schon längst zuhause sein musste. Tannin hatte es sich in der Zwischenzeit auf einer Decke, die nun auf dem Küchentisch lag, gemütlich gemacht und döste. Was Marco eigentlich auch gar nicht so unrecht war. Tannin hatte schon einiges an Gewicht. Doch Marco hätte zu keinem Zeitpunkt zugegeben, dass Tannin ihm wohl auf Dauer zu schwer geworden wäre. Als sich Marco nun jedoch zum Aufbruch wandte, hob Tannin noch einmal seinen Kopf und fiepte einmal kurz zum Abschied, eh er weiterschlief.

Dank des Katzenkorbes fiel es Simon nicht sonderlich schwer Tannin zwischen seinem Haus und der Bibliothek hin und her zu transportieren. Tannin hatte zudem ein praktisches Gespür entwickelt, wenn Simon mit den Kindern allein in der Bibliothek war. Wenn ein Erwachsener den Raum betrat, schien Tannin sich in Luft aufzulösen und war unauffindbar. Waren die Erwachsenen aber wieder verschwunden, kam er aus seinen Verstecken hervor und spielte weiter mit den Kindern. Außerdem ließ er sich die Leckereien schmecken, mit den ihn die Kinder fütterten wenn Simon einmal nicht hinsah. Das sorgte neben seinem normalen Speiseplan dafür, dass Tannin immer weiter zunahm, aber auch wuchs.
Simon sah sich schon recht bald vor das Problem gestellt, wie er Tannin noch unbemerkt in die Bibliothek bekam. Für den Korb war er mittlerweile zu groß und zu schwer. Auch Simons Schulterplatz hatte Tannin schon vor geraumer Zeit aufgeben müssen. Da kam Simon DIE Idee. Er lud die Kinder zu Lesenachmittagen zu sich nach Hause ein.
Immer öfter wurde Simon nun im Dorf angesprochen, wie er es schaffen würde, dass die Kinder nun soviel lasen und bei jeder sich bietenden Möglichkeit die Bibliothek aufsuchten. Simon grinste innerlich und erzählte den erstaunten Eltern von einem Projekt, das sich 'Erlebnis Lesen' nannte, erwähnte aber keine Details.

So gingen fast 2 Jahre ins Land. Simon hatte mittlerweile eine Hilfskraft in der Bibliothek, so dass er sich jetzt mehr um die Kinder kümmern konnte. Tannin war weiter gewachsen und jetzt fast so groß wie ein Schäferhund. Die Kinder schien das aber nicht zu stören, denn sie kamen immer noch und brachten Leckereien mit, bis jedoch eines der Kinder einen entscheidenden Fehler machte. Er erzählte daheim von Simons Drachen. Die Eltern waren entsetzt, wussten sie doch aus Märchen, dass Drachen schon immer böse Kreaturen waren, die jedem Menschen Leid zufügten. Sie organisierten sich in einer Bürgerinitiative und fingen an Nachforschungen anzustellen.
Zuerst merkte Simon nichts davon, doch als immer weniger Kinder kamen, fing er sich an Gedanken zu machen. Auch die anderen Erwachsenen mieden ihn auf einmal. Besonders stark merkte er es bei den Fußballspielen. Fast niemand unterhielt sich mehr darüber mit ihm. Auch nahm die Benutzerzahl in der Bibliothek stark ab. Zum Schluss blieben nur noch Marco und seine kleine Schwester übrig, die Simon nur noch heimlich besuchen kommen konnten. "Was ist denn auf einmal in die Leute gefahren?" Simon erfuhr es von Marco und konnte die Reaktion der anderen nicht verstehen, zumal sie ja noch nicht mal zu ihm kamen und Tannin kennen lernen wollten. Ebenfalls unterrichtete Marco ihn davon, dass am Samstagabend ein Treffen der Bürgerinitiative im Gasthaus stattfinden sollte. So beschloss Simon, dass es das beste sei, wenn er sich dort blicken ließ und ein für alle mal reinen Tisch zu machen. Mulmig war ihm bei der Vorbereitung für diese Aktion aber schon zumute. Besonders, weil er nicht so genau wusste, wie er die anderen von den guten Absichten Tannins überzeugen konnte, und dass er nicht vor hatte, Böses zu tun.

Simon setzte sich auf den Küchenstuhl und stützte seine Hände auf dem Tisch ab. Er ließ den Kopf hängen, denn im Moment hatte er einfach keine Ahnung, wie er das heute Abend bewerkstelligen sollte. Tannin kam aus dem Wohnzimmer herüber. Er schien die Traurigkeit von Simon zu spüren. Er setzte sich vor Simon auf den Boden und sah ihn einfach nur an. Simon wusste nicht wie Tannin das anstellte, aber immer wenn er das tat, fühlte er sich sofort besser. "Ach, wenn du doch nur reden könntest, das würde das ganze ziemlich vereinfachen", seufzte Simon vor sich hin. Tannin bettet seinen Kopf in Simons Schoss. Rein automatisch fing Simon an Tannin wieder zu kraulen. Langsam ließ die Anspannung nach. Trotzdem blieb ein mulmiges Gefühl.
Der Abend kam schneller als ihm lieb war und Simon suchte sich neue Klamotten heraus. In Gedanken ging er noch einmal den Text durch, den er nachher erzählen wollte. Simon schluckte, als er das Hemd überzog, den Schlüssel nahm und nach der Tür griff. Tannin streckte seinen Kopf in den Flur und flötete Simon aufmunternd hinterher. Simon lächelte kurz, bevor er das Haus verließ und seine Miene wieder ernst wurde. Mit schweren Schritten lief er die Hauptstraße entlang. Das Dorf schien wie ausgestorben. Schon von weitem konnte man das Gasthaus erkennen. Normalerweise drangen die Stimmen immer noch bis weit auf die Straße hinaus. Heute war es verdächtig still. Allerdings konnte er, je näher er dem Gasthaus kam eine Stimme vernehmen, die ihm nur allzu gut bekannt war. Frau Schnader, die alte Schachtel, machte grade wieder das, was sie am besten konnte, die Leute aufhetzen. Ihre penetrante Stimme wetterte über Simon und die Gefahr, die er und Tannin für das Dorf darstellten. Sie hätte ja schon immer gewusst, dass etwas mit Simon nicht stimmte, diese alte Schlange.
Simon stieg die zwei Stufen bis zur Kneipe herauf und öffnete schwungvoll die Tür. Sofort herrschte eisiges Schweigen im Raum. Noch einmal atmete Simon innerlich tief durch und ging dann langsam zum Tresen. Vor ihm teilte sich die Menge, nur um sich hinter ihm wieder zu schließen. "Sprechen sie ruhig weiter, lassen sie sich nicht durch meine Anwesenheit stören." Simon bestellte sich ein Bier und sah Frau Schnader erwartungsvoll an, die sich in der Rolle der Sprecherin offensichtlich auf einmal nicht mehr so ganz wohl zu fühlen schien. "Ähm...", stammelte sie, total aus dem Konzept gebracht. Doch bevor sie ihren Faden wiederfinden konnte, rief jemand aus dem Publikum: "Der Drache soll verschwinden." Simon sah sich nach dem Sprecher um, konnte ihn aber in der vollbesetzten Kneipe nicht ausfindig machen. "Und warum?", fragte er seelenruhig in die Menge. Wieder herrschte Schweigen. "Weil er unseren Kindern schadet." Eine Frau, die grade erst frisch in das Dorf gezogen war, war aufgestanden. "Tannin würde so etwas nicht tun." - "Hört, hört, er hat dem Drachen sogar schon einen Namen gegeben, und was kommt als nächstes?" Wieder konnte Simon den Sprecher nicht ausmachen. "Doch..." Die Frau wirkte auf einmal etwas unsicher, doch jetzt kam noch erschwerend hinzu, dass einige der Anwesenden den ersten Schreck überwunden hatten und wieder Mut fassten. "Sie sagen also, dass Tannin ihre Kinder verletzen würde, dabei haben sie es noch nicht mal für nötig befunden, sich selbst erst mal ein Bild von ihm zu machen." Simon ließ den Blick durch den Raum schweifen. "Das gilt für euch alle. Ihr solltet Tannin nicht durch Gerüchte verurteilen. Stattdessen solltet ihr ihn selbst kennen lernen, bevor ihr irgendwelchen Gerüchten glauben schenkt. Meine Tür steht jedenfalls für jeden offen, der sich traut die Wahrheit zu erfahren, und nicht irgendwelchen Märchen oder Erfindungen Glauben zu schenken." Simon erhob sich wieder, zahlte das Bier und verließ die Kneipe. Er war fix und fertig, aber endlich hatte er die ganze Sache überstanden, das hoffte er zumindest.
Draußen hörte er nur noch, dass sich die Leute in der Kneipe offensichtlich in zwei Lager gespaltet hatten, die sich nun gegenseitig Beleidigungen und Beschuldigungen zuschoben. Simon bedauerte dies. Er hatte niemals vor gehabt, Zwietracht zwischen die anderen Dorfbewohner zu sähen. Umso überraschter war er über das, was er vor dem Gasthaus antraf. Es sah fast so aus, als hätten sich alle Kinder des Dorfes davor versammelt. "Was macht ihr denn hier? Ihr gehört doch um diese Uhrzeit ins Bett." Simon tat entsetzt, grinste aber innerlich vor sich hin. "Wir wollen wissen, wie es gelaufen ist." Marco trat vor und blieb vor Simon stehen. "Ich habe keine Ahnung. Ich glaube, das werden die nächsten Tage zeigen. Wir müssen halt abwarten." Simon grinste die Kinder an. "Und jetzt husch, husch ins Bett, damit weder ich noch ihr Ärger bekommt, wenn eure  Eltern gleich die Gaststätte verlassen." Wie auf Kommando stürmten die Kinder los und innerhalb weniger Sekunden sah der Vorplatz wieder so aus, als hätte hier keine Versammlung stattgefunden. Simon ging gemäßigten Schrittes nach Hause zurück. Für heute hatte er genug Aufregung gehabt.
Tannin hatte es sich auf zwei zusammengeschobenen Matratzen bequem gemacht, die neben Simons Bett lagen, und sah auf, als Simon das Schlafzimmer betrat. "Morgen, ich erzähle es dir morgen. Für heute möchte ich nur noch schlafen." Simon zog sich aus, wusch sich und kroch unter die Bettdecke. Tannin positionierte sich so um, dass er seinen Kopf auf Simons Bett legen konnte. Sie blickten einander lange einfach nur an, bis Simon die Hand erhob und Tannin wieder zu streicheln begann. "Ich wünschte, sie könnten dich verstehen."
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© Pai
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Und schon geht's hier weiter zum 2. Kapitel...

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