Der Stein des Anstoßes von Pai
Kapitel 2

Am nächsten Morgen wurde Simon von heftigem Türklopfen unsanft aus seinem Schlaf geholt. Er fühlte sich wie gerädert. Schlaftrunken suchte er nach etwas zum anziehen. Tannin hatte sich ursprünglich auf den Matratzen zusammengerollt gehabt, doch nun sah er in Richtung Tür. Simon meinte eine leichte Beunruhigung von Tannins Seite zu spüren. Ihn beschlich ein übles Gefühl. Langsamer als sonst, begab er sich zur Tür. Ein Blick durch den Spion verriet Simon, dass sich eine nicht grade kleine Anzahl von Dorfbewohnern vor seiner Tür eingefunden hatten. Er schluckte, denn sie sahen nicht danach aus, als ob sie eine freudige Botschaft überbringen wollten.
Langsam entriegelte Simon die Tür und öffnete sie einen Spalt breit. Mit verstellt müdem Gesicht blickte er nach draußen und sprach mit schläfriger Stimme: "Was wollen sie zu solch früher Stunde?" - "Dir unsere Entscheidung mitteilen." Simon wollte nicht unfreundlich sein, obwohl ihm das um diese Uhrzeit überhaupt nicht passte. Er öffnete die Tür so weit, dass die Leute eintreten konnten. "OK. Dann kommt doch rein." Doch die sechs, die vor seiner Tür standen, zögerten. "Was ist denn?" - "Dein Ding ist doch da drin, oder?" - "Das ist kein Ding, sondern ein Drache und er heißt Tannin, und ja er ist hier." In Simon stieg wieder Ärger auf, bezeichneten die Tannin als Ding. Am liebsten hätte er ihnen die Tür vor der Nase wieder zugemacht. Die Männer rührten sich immer noch nicht.
"Das ich so was noch erleben darf. Mein Vater zittert vor Espenlaub und macht sich fast in die Hose vor Angst." Grinsend erschien Marco vor Simon und schlüpfte ohne Umschweife durch die geöffnete Tür. Einer der sechs Männer, der eigentlich ziemliche Ähnlichkeit mit Marco aufwies, wenn man mal davon absah, dass er nur noch einen roten Haarkranz besaß, der eine Glatze einrahmte, und etwas gebeugt ging, hatte plötzlich einen hochroten Kopf bekommen und schrie nun so laut, dass Simon schon befürchtete, das ganze Dorf könnte den Wutausbruch mitbekommen. "Marco, komm sofort her. Warte erst, bis wir wieder daheim sind. Du wirst da nicht hinein gehen." - "Dann komm und hol mich doch wieder raus." Marco schaute durch die Tür und verschwand im Inneren. Innerlich grinste Simon. Er bewunderte diese Art von Dreistigkeit, die man sich doch nur als Kind leisten konnte. Aber wenigstens schien dies nun Erfolg bei den Erwachsenen zu haben. Denn sie setzten sich nun langsam in Bewegung und kamen näher. 'Rudelbildung' dachte Simon.
Die sechs schienen sich nicht sonderlich wohl zu fühlen, oder wann sah man schon, dass erwachsene Männer miteinander Händchen hielten. Sie drückten sich so durch die weit geöffnete Tür, dass zwischen ihnen und Simon Abstand herrschte. Keiner gab die Hand zum obligatorischen Gruß. "Wo ist dieser Drache jetzt." Ein schmächtiger, junger Mann, der als letzter durch die Tür trat, blickte Simon mit angstvollem Blick an. "Im Schlafzimmer, und er wird nicht herauskommen, wenn ich es nicht möchte." Damit schien der junge Mann etwas beruhigt und sie gingen gemeinsam ins Wohnzimmer.
Simon hatte gar nicht so viele Stühle, wie sich jetzt auf einmal Leute im Raum befanden. Doch da die meisten eh stehen blieben, um wahrscheinlich schnellstmöglich die Flucht ergreifen zu können, war die Sache nicht weiter problematisch.
"Wo ist mein Sohn!" Marcos Vater, der mit Vornamen Georg hieß, so meinte sich Simon jedenfalls zu erinnern, dass Marco mal diesen Namen im Bezug auf seinen Vater mal erwähnte, hatte in der Gruppe offensichtlich die Führung übernommen. Simon zuckte die Schulter. "Wahrscheinlich bei Tannin." Einigen der Männer verschlug es hörbar den Atem. "Ich möchte nicht, dass er mit diesem Ding... diesem Drachen zusammen ist. Holen sie ihn sofort her." - "Dieser Drache, wie sie es nennen, heißt Tannin, und es steht Marco frei zu kommen und zu gehen, wann er will. Sie können ihn ja holen gehen. Das Schlafzimmer ist den Gang runter links." Simon schwieg und schaute erwartungsvoll in die Runde. Keiner rührte sich und die Gesichtsfarbe von Marcos Vater war von rot auf weiß umgeschwenkt. "Schon gut." Simon seufzte. "Marco, kommst du mal bitte her", rief er durch den Flur. "Och menno."
Es dauerte, bis Marco aus dem Schlafzimmer geschlendert kam. Die Haare waren noch mehr zerzaust, als vorher, aber ansonsten war er unversehrt, was bei seinem Vater eine sichtbare Erleichterung hervorrief. Sofort zog er seinen Sohn zu einem nahegelegenen Stuhl und drückte ihn darauf nieder, dann positionierte er sich so, dass er Marco beim Aufstehen hindern konnte, wenn er es wollte. "Geht es dir gut?", fragte er Marco in leisem Ton. Marco grinste seinen Vater an. "Natürlich." Simon sah sich die Gesichter der Anwesenden nacheinander an. Er kannte sie alle, und sei es nur von der Arbeit. In ihren Gesichtern spiegelte sich allerdings, was Simon sehr bedauerte, stellenweise die pure Angst wieder.
"Was gibt es nun so wichtiges, was ihr mir erzählen müsst?" - "Es ist so", gluckste der Bauer von nebenan herum: "Wir haben uns gestern Abend noch lange beraten und sind...", er zögerte erneut. Marcos Vater ergriff das Wort: "Entweder dein Tannin verschwindet aus dem Dorf, oder du gehst mit ihm. Das ist jetzt nicht gegen dich, aber wir müssen auch an das Wohl unserer Kinder denken." Sein wütender Blick schien Simon regelrecht aufspießen zu wollen.
Mit einem erstickten Schrei fuhr Marco vom Stuhl hoch, wurde aber wieder hinuntergedrückt. Schweigen breitete sich in dem Raum aus. Mit bedauernder Miene sah Simon die Anwesenden an. "Wenn das wirklich euer Wunsch ist, dann werde ich das Dorf verlassen. Doch bitte ich euch um einige Zeit, damit ich mir eine neue Wohnung besorgen kann." Marcos Vater nickte nur. Er wandte sich ab, und zog seinen heftig protestierenden Sohn hinter sich her. Auch die anderen Anwesenden folgten ihm, nachdem sie Simon teils mitleidige und aber auch erleichterte Blicke zuwarfen. 'Die Angst ist doch der stärkste Feind', dachte Simon bekümmert, als er die Tür ins Schloss fallen ließ.

Etwa einen Monat, nachdem Simon dieses Ultimatum gestellt bekommen hatte, verließ er das Dorf. Er hatte sein Haus verkauft, in dem er geboren, und 29 Jahre gelebt hatte. In der Nähe einer Kleinstadt erstand er ein neues Haus. Dort hatte er ebenfalls wieder eine Stelle in der Bibliothek angetreten. Sein neues Haus stand außerhalb, weshalb er einen weiten Anfahrtsweg in Kauf nehmen musste, aber das war ihm nur allzu recht. Es stand ziemlich einsam und in der Nähe gab es einen Wald in dem Tannin kleinere Ausflüge unternehmen konnte, ohne dass die Gefahr bestand, sofort entdeckt zu werden.
Das nutzte dieser natürlich sofort aus. Hatte er doch im Dorf keine Flüge am Tag durchführen können. Nun jagte er im Slalom zwischen den Bäumen und immer mal wieder oben drüber, wie ein kleiner Wildfang. So hatte Simon Ruhe beim Ausladen des angemieteten Umzugsautos. Den größten Raum richtete er für Tannin her, denn er fragte sich immer noch in Gedanken, wie groß Tannin nun wirklich werden würde, wenn er erst einmal ausgewachsen war. Das Haus ging über drei Etagen. Mehr als genügend Platz für sie beide. Das Erbe und das Geld aus dem Verkauf des alten Hauses würden sicher noch eine gewisse Zeit reichen.
Simon brauchte etwa einen halben Tag, bis er das Haus fertig eingerichtet hatte. Erst als er sich auf dem Sofa im neuen Wohnzimmer niederließ, das fast ebenso groß wie Tannins Zimmer war, kamen die alten Erinnerungen wieder, die sich unbarmherzig in den Vordergrund drängten. Allen voran tat ihm Marco leid. Hatte dieser sich doch immer so um Tannin gekümmert. Wenn Simon mal krank war, oder auch wenn es Tannin mal nicht so gut ging. Simon lehnte sich zurück, und schloss sie Augen.
--
Fast alle Kinder waren anwesend gewesen, und auch die meisten Erwachsenen. Doch als Simon mit Tannin aus dem Haus trat, waren die Erwachsenen hastig zurückgewichen. Die Kinder waren nach vorne gekommen, um Tannin ein letztes Mal zu streicheln, oder ihnen Süßigkeiten zuzustecken. Ihnen standen Tränen in den Augen und Simon hatte sie nicht zu trösten vermocht. Die Gesichter der Eltern waren von Schreck und Angst gezeichnet. Sie versuchten immer wieder, ihre Kinder von Tannin wegzuziehen, doch diese entwanden sich deren Griffen und waren wieder zu Simon und Tannin zurückgekehrt. Sie wollten ihn und Simon nicht gehen lassen, aber alles Betteln und Weinen brachte bei ihren Eltern keinen Erfolg. Vereinzelt wurden sogar Rufe der Erwachsenen laut, dass sie endlich verschwinden und das Dorf nie wieder besuchen sollten. Dann war Simon zusammen mit Tannin davongefahren. Marco war noch ein Stück mitgelaufen, und dann zurückgeblieben. Auch in seinen Augen standen Tränen. Tannin hatte seinen langen Hals aus dem Autofenster gestreckt und noch lange zurückgeschaut.
--
Simon öffnete die Augen, seufzte und richtete sich wieder auf. Er hatte noch genug zu tun, bevor er morgen seinen Dienst an einer neuen Stelle antrat. Arbeit war das beste, womit er sich im Moment ablenken konnte, und er wollte jetzt nicht mehr erinnert werden. Er ging zum Fenster und fing an, die mitgebrachten Vorhänge aufzuziehen, solange es noch hell war. Nacheinander stellte Simon die Stühle und den Tisch auf. Danach kamen nach und nach die anderen Zimmer mit der Feinabstimmung dran.
Es war fast dunkel bis Simon seine Arbeit zu seiner Zufriedenheit beendet hatte. Mittlerweile war Tannin von seiner Erkundung zurückgekehrt. Er wirkte äußerst zufrieden. Als Simon genauer hinsah, bemerkte er weshalb. Offensichtlich hatte er für heute auch schon gefressen.
Obwohl noch kein Feuer im Kamin, der im Wohnzimmer fest eingebaut war, an war, ließ sich Tannin davor nieder und schloss zufrieden seufzend die Augen. Simon seufzte. Offensichtlich kam Tannin mit der neuen Umgebung besser klar als er. Simon suchte ein paar Holzscheite zusammen, schichtete sie im Kamin auf und entzündete sie. Dann nahm er sich vom Sofa ein Kissen, um sich neben Tannin niederzulassen.
Irgendwann war er dann wohl eingeschlafen, denn als er mitten in der Nacht aufwachte, lag er neben Tannin. Das kleine Feuer im Kamin war ausgegangen, und so fröstelte es Simon. Er stand auf, um sich in sein Bett zu legen.
Simon war noch nicht mal bis zur Tür gekommen, als eine plötzliche Bewegung ihn herumfahren ließ. Erst dachte er, Tannin sei erwacht, doch dieser schlief tief und fest. Simon sah sich um, konnte aber in dem dunklen Zimmer nichts erkennen. Hatte er es sich unter Umständen einfach nur eingebildet? Die Balkontür war offen. Simon wusste nicht, ob er sie gestern einfach nur vergessen hatte zu schließen. Langsam ging er auf die offene Tür zu und lugte hinaus. Da war niemand, und wenn sich jemand im Haus befände, wäre Tannin sicherlich aufgewacht und hätte ihn gewarnt. So begnügte Simon sich damit, die Tür zu schließen und dann leise ins Bett zu schleichen.

Als Simon am nächsten Tag erwachte, wusste er nicht, ob es eine freudige oder eine böse Überraschung war, die sich ihm mit den Strahlen der aufgehenden Sonne erwartete. Tannin lag noch immer zusammengerollt vor dem Kamin, aber er war nicht alleine. Direkt neben ihm lag eine nur zu bekannte Person. Simon fragte sich, wie er ihn hier gefunden hatte, wo er doch seinen neuen Wohnort nie erwähnt hatte, auch aus dem Grund heraus, dass niemand aus dem Dorf herüberkam und Gerüchte streute. Aufwecken wollte er ihn jetzt aber auch nicht, sollte er von alleine wach werden, dann konnte er Simon immer noch erzählen, wie er ihn gefunden hatte. Langsam nahm Simon eine Decke vom Sofa und deckte die am Boden liegende Gestalt vorsichtig damit zu. Dann ging er in die Küche, um Frühstück für sich und den überraschenden Gast zu machen. Sicher war auch er hungrig, wenn er wach wurde.
Simon kehrte grade mit dem gefüllten Tablett ins Wohnzimmer zurück, als sich die Gestalt unter der Decke regte. "Guten Morgen," meinte Simon, während er das Tablett auf dem Tisch abstellte und die restlichen Holzstücke zusammensuchte, um ein neues Feuer im Kamin zu entfachen. "Ausgeschlafen?" Der Blick verriet ihm aber eher das Gegenteil. "Geht so," murmelte Marco vor sich hin, während er seine steifen Glieder reckte. "Ihr habt hier verdammt kalte Nächte." - "Selbst schuld, wenn du unbedingt auf dem Boden schlafen willst." Marco kniff die Lippen zusammen. "Was hätte ich denn sonst tun sollen? Sicher hättest du mich sofort nach Hause zurückgeschickt. Aber da will ich nicht hin, ich will bei Tannin bleiben." Trotzig streckte er sein Kinn vor und verschränkte die Hände vor der Brust. "Wissen überhaupt deine Eltern wo du bist?" Marco schüttelte den Kopf und Simon seufzte. Das hatte ihm grade noch gefehlt. "Wie hast du uns überhaupt gefunden?" - "Tannin hat es mir gesagt, und die Strecke bin ich dann mit dem Bus und per Anhalter nachgefahren." Marco grinste frech. Simon blickte erst Marco und dann Tannin strafend an, und fragte sich, wie er das angestellt hatte. "Er spricht mit dir?" - "Sicher." Marco tippte sich an den Kopf. "Hier oben drin." Ungläubig blickte Simon Marco an. "Warum hast du mir davon noch nichts erzählt?" - "Du hast mich nicht gefragt." Simon blickte von Marco zu Tannin und wieder zurück. "Seit wann kannst du mit Tannin reden?" - "Seit ich Tannin zum ersten Mal bei dir zu Hause getroffen habe." - "In der Bücherei auch schon?" Marco schüttelte den Kopf. "Erst danach." Irgendwie fühlte sich Simon plötzlich neidisch. Warum redete Tannin nicht mit ihm.
"Wollen wir vielleicht nicht mal was essen?" Marco versuchte das Thema zu wechseln. "Oh, natürlich." Simon setzte sich auf den Sessel, während Marco auf dem Sofa Platz nahm. Auch Tannin war mittlerweile aufgewacht und war nun so an den Tisch herangerückt, dass er mit seinem Kopf über die Tischkante schauen konnte. Mit schleichender Eifersucht bemerkte Simon, das Tannins Blicke mehr auf Marco ruhten. "Willst du deinen Eltern bescheid sagen, wo du bist?" Marco schüttelte zwischen zwei Bissen den Kopf. Das hatte Simon sich schon gedacht. "Ich glaube, dann rufe ich deinen Vater mal besser an, damit er sich keine Sorgen macht." Simon wollte aufstehen, aber Marco sprang auf, so dass sein Saftglas umfiel und der Inhalt sich über den ganzen Tisch verteilte. "Bitte... nicht... anrufen." Er versuchte krampfhaft zu schlucken, um den Mund frei zu bekommen, dann redete er hastig weiter. "Wenn mein Vater rausbekommt, wo ich bin, darf ich nie wieder daheim raus." Simon merkte, dass Marco in einer Zwickmühle steckte. Einerseits wollte er bei Tannin sein, wenn aber sein Vater dies herausbekam, würde er ihn nie wieder unbeaufsichtigt aus dem Haus lassen. Er seufzte und bemerkte plötzlich, dass auch Tannin seinen Blick auf ihn gerichtet hatte, darin lag etwas flehendes, dessen Simon sich nicht zu entziehen vermochte. "Ja, ja, ist schon gut. Aber ich bring dich gleich nach dem Essen nach Hause." Simon hob kapitulierend die Hände und ging zur Küche, um ein Tuch zu holen, mit dem er die Sauerei vom Tisch entfernen wollte. Als er aber zurückkehrte war Tannin grade dabei die Reinigung des Tisches durchzuführen. Mit seiner langen Zunge angelte er nach der Saftlache, schob sie zum Rand und fing die herabfallenden Tropfen mit dem Maul auf. Marco grinste vor sich hin.

Simon schaltete den Motor seines neuen Vans vor dem Dorf ab. Er wollte nicht hineinfahren, und Marco so vor ein noch größeres Problem stellen, als er jetzt schon ohnehin haben würde. "So und jetzt raus mit dir." Marco schaute Simon mit traurigen Augen an. "Und ich darf euch auch jederzeit besuchen kommen?" Simon nickte. "Klar doch." Er nahm einen Zettel und schrieb eine Nummer darauf. "Ruf mich aber beim nächsten Mal auf mein Handy an, dann kann ich dich auch mal abholen kommen. Auf Dauer sind die Busfahrten doch sicher viel zu teuer." Tannin streckte seinen Hals nach vorne und legte ihn auf Marcos Schulter. Irrte Simon sich, oder spürte er einen Anflug von Eifersucht, doch bevor er der Sache genauer auf den Grund gehen konnte, hatte Marco bereits das Auto verlassen und lief zum Dorf hinüber. Tannin sah ihm nach und in seinen Augen lag wieder dieser traurige Ausdruck.
Simon wendete den Van und fuhr zurück, noch bevor Marco das erste Haus des Dorfes erreicht hatte. Der Rückweg verlief schweigend, auch das Radio blieb aus. Tannin hatte sich auf der Rückbank zusammengerollt und die Augen geschlossen. Irgendwie konnte Simon seinen Anblick im Moment nicht so richtig ertragen, denn er schaute kaum noch in den Rückspiegel und konzentrierte sich ganz auf die Straße. Er fühlte sich verraten. Warum sprach Tannin nicht mit ihm, ging es Simon während der ganzen Fahrt durch den Kopf. Was hatte er nur falsch gemacht.

Ein ganzer Monat war vergangen, und Marco hatte ihnen keinen weiteren Besuch abgestattet. Offenbar hatte sein Vater wohl doch etwas mitbekommen, oder ihm einfach nur für sein Verschwinden langen Stubenarrest gegeben. Jedenfalls hatte er sich nicht mehr gemeldet. Aber auch bei Tannin hatte es eine Veränderung gegeben. Er war nicht mehr so zutraulich und verspielt wie am Anfang. Oftmals lag er einfach nur lustlos vor dem Kamin und stand nur auf, um etwas zu fressen. Auch wenn Simon ihn kraulen oder mit ihm spielen wollte, verhielt er sich abweisend. Simon zermarterte sich das Gehirn, was Tannin fehlen könnte. Er hatte doch alles, Freiraum und genügend zu fressen. Trotzdem ließ sich Tannin zu gar nichts bewegen. Simon machte sich ernsthaft Sorgen. Er suchte in Büchern nach irgendwelchen Lösungen, doch wurde einfach nicht fündig. Mit der Zeit übertrug sich Tannins schlechte Laune auch auf ihn und er wurde gereizter, was vor allem die Kollegen in seiner neuen Stelle zu spüren bekamen. Deswegen erhielt er bei einem Gespräch mit seinem neuen Chef auch fast eine Abmahnung.

Als Simon eines Morgens aufstand, war Tannin verschwunden. Der Platz vor dem Kamin war verwaist, und die Balkontür stand offen. Erschrocken rannte Simon zur Tür und schaute hinaus, aber Draußen war nichts zu sehen außer dem angrenzenden Wald. Er rief Tannins Namen, doch nirgendwo gab es eine Reaktion. Simon stürmte zurück in sein Zimmer und zog sich rasch die erstbesten Klamotten an. Als er erneut ins Wohnzimmer trat, fühlte er die Stelle, wo Tannin immer lag. Sie war kalt. Es musste also schon geraume Zeit her sein, dass er verschwunden war. Simon rannte zum Wald und bedauerte es nun, sich noch nie vorher hier genau umgesehen zu haben. Er hatte keine Ahnung, wo er zu suchen anfangen sollte.
Nachdem er über zwei Stunden durch den Wald geirrt war, kehrte er besorgt und geschafft nach Hause zurück. Simon war am verzweifeln, dann kam ihm die Idee. Hastig griff er nach dem Hörer und wählte die Nummer von Marcos Haus. Marco hatte doch gesagt, dass er Tannin hören konnte, vielleicht konnte er ihn auch aufspüren. Zu seiner Überraschung war der Anschluss von Marcos Eltern besetzt. Er probierte es immer wieder, doch er bekam kein Freizeichen.
Als Simon dann nach einer halben Stunde endlich durch kam, hatte er die total verstörte Mutter von Marco an der Strippe. Sie brachte unter Heulkrämpfen kaum ein Wort hervor, und Simon konnte sie fast nicht verstehen. Plötzlich wurde ihr der Hörer aus der Hand gerissen und Simon fand sich mit Georg konfrontiert, der ihn durch die Leitung anschrie. "Was haben sie mit meinem Sohn gemacht." Simon verstand nicht. "Tun sie nicht so nichtwissend. Ihr Drache hat doch unserem Sohn den Kopf verdreht, er spricht von nichts anderem mehr, und jetzt ist er weg. Geben sie zu, er ist bei ihnen." - "Nein. Tannin ist auch verschwunden." - "Wer zum Teufel ist Tannin?" Simon hielt den Hörer ein Stück weit vom Ohr weg und seufzte leicht. "Mein Drache." Für Simon fügte sich nun alles zusammen. Marco war zusammen mit Tannin abgehauen. Einfach großartig, das war das, was Simon jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte. "Unternehmen sie gefälligst etwas, oder ich hetze ihnen die Polizei auf den Hals." - "Und was wollen sie denen sagen? Dass ihr Sohn mit einem Drachen durchgebrannt ist. Ich bitte sie, die sperren sie ein und werfen den Schlüssel weg." Georg schwieg einige Zeit, bevor er mit einem gemäßigteren Ton weitersprach. "Simon, wo wohnen sie? Ich komme zu ihnen." - "Ich gebe ihnen meine Adresse nur, wenn sie mir versprechen, sich abzuregen, bevor sie kommen. Ich brauche hier klare Köpfe."
Nachdem Simon seine Adresse genannt hatte, hängte er auf. Er setzte sich nieder und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Die ganze Sache nahm einen völlig anderen Verlauf und die Situation drohte ihm aus den Fingern zu gleiten. Er wollte eigentlich nichts mehr mit den Dorfbewohnern zu tun haben, aber nun waren Marco und Tannin verschwunden und er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte zu suchen.
Es dauerte etwa eine Stunde, ehe jemand an der Tür klingelte. Simon öffnete mit gemischten Gefühlen. Tatsächlich stand Georg davor, aber er war nicht allein. Traktor an Auto reihten sich die fahrbaren Untersätze an der Straße entlang. Fast das ganze Dorf war mit ihm gekommen. Simon wusste nicht, ob er begeistert sein oder die Hände über den Kopf zusammenschlagen sollte. Eigentlich sollte niemand aus dem Dorf seine neue Adresse je erfahren, und jetzt standen sie alle vor seiner Tür.
Jetzt war es gut, dass sein neues Wohnzimmer so groß war. Trotzdem standen noch einige draußen auf dem Balkon. Simon hatte einen Plan der Umgebung aus dem Regal geholt, und ihn auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet. Sie  unterteilten das Gebiet in Planquadrate und stellten Gruppen zusammen, die diese durchsuchen sollten.
Immer in Fünfer-Gruppen zogen sie los, bis schließlich nur noch Simon, Georg und drei andere Bauern aus dem Dorf übrig blieben. "Für uns habe ich die Strecke zwischen diesem Haus und dem Dorf herausgesucht." Simon deutete an der Straße entlang abwärts. "Es ist zwar das größte Stück, aber da wir fast nur Straße haben, sollte es kein Problem sein." Simon rollte den Plan zusammen und steckte ihn in die Schutzhülle zurück. Er bemerkte den Blick, den Georg ihm zuwarf. "Was ist denn noch?" Im Moment hatte Simon keine Lust, sich mit ihm herumzuschlagen. Er machte sich viel zu viele Sorgen um Tannin und  Marco. "Ich möchte mich für mein Benehmen am Telefon entschuldigen." - "Schon gut." Simon winkte ab. "Lassen wir das. Es gibt im Moment wichtigeres." Georg nickte und sie verließen das Haus. Auf die Frage, warum er die Balkontür offen ließ, antwortete er, nur für den Fall, dass Tannin zurückkehrte und er noch nicht wieder zurück sei. Die Dorfbewohner schienen darüber nicht so begeistert.
Gemeinsam bestiegen sie den Laster von Marcos Vater. Während Simon vorne neben Georg Platz nahm, kletterten die anderen drei auf die Ladefläche. Mit Ferngläsern wollten sie Ausschau halten.
Langsam fuhren sie die Straße hinab. Immer wieder riefen sie Marcos Namen, doch sie erhielten keine Antwort. Schließlich hatten sie das Dorf erreicht. Enttäuscht und bekümmert sank Georg hinter dem Lenkrad zusammen. Tränen rannen über seine Wangen, doch er hielt sich beim Schluchzen zurück. Simon legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. "Wenn Tannin bei ihm sein sollte, wird ihm sicher nichts passieren." Doch Georg schüttelte die Hand ab und versteifte sich. "Tannin! Tannin! Tannin! Die ganze Zeit immer nur dieser Drache! Nur wegen dem ist mein Sohn doch erst abgehauen!" Marcos Vater blickte Simon mit einem hasserfüllten Blick an, der jedoch rasch wieder in Verzweiflung wechselte. "Es tut mir leid, dass ich dich so anschreie, aber du musst meine Situation verstehen. Ich... Simon hörst du mir überhaupt zu?" Georg ergriff nun seinerseits Simons Schulter und rüttelte ihn leicht. Simon starrte ins Leere und schien seine Umwelt überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Unter der fremden Berührung zucke er zusammen und kehrte in die Wirklichkeit zurück. "Simon, was ist los?" - "Keine Ahnung." Simon griff sich an den Kopf. Er wirkte leicht benommen. "Ist aber schon wieder ok." - "Bist du dir da ganz sicher? Willst du nicht lieber nach Hause zurück?" Simon schüttelte den Kopf. "Nein, ich mache weiter", sagte er bestimmt. "Nun gut. Mir soll´s recht sein." Georg wendete das Auto und sie fuhren die Strecke im Schritttempo zurück, die sie eben gekommen waren. Jedoch hielt Marcos Vater nun ein Auge auf Simon. Das letzte, was er jetzt noch brauchen konnte, war, dass Simon ihm im Auto zusammenklappte.
Nachdem sie etwa ein Drittel der Strecke zurückgelegt hatten, veränderte sich Simons Gesichtsausdruck wieder ins Apathische. Sofort brachte Georg das Auto zum Stehen. Die anderen Dorfbewohner fragten was los sei, und ob sie eine Spur entdeckt hätten, doch Marcos Vater beachtete sie nicht. Stattdessen griff er wieder nach Simons Schulter und schüttelte ihn leicht. Doch diesmal zeigte dieser keine Reaktion. Einer der Dorfbewohner war von der Ladefläche abgestiegen und kam nach vorne zum Fenster, um erneut zu fragen, was los sei und warum es nicht weiterging. Als er jedoch Simons apathischen Blick bemerkte, alarmierte er die anderen. Gemeinsam zogen sie Simon aus dem Wagen und betteten ihn auf die Ladefläche. "Der muss dringendst zu einem Arzt", meinte einer von ihnen. "Zu welchem, einem Allgemein- oder einem Nervenarzt", fragte ein anderer gehässig, der aber sofort von den Umstehenden zum Schweigen verdonnert wurde.
Doch bevor sie einsteigen und losfahren konnten, richtete sich Simon hinten kerzengrade auf. "Sie sind hier." Simon sprang förmlich von der Ladefläche und strebte dem Wald entgegen. Die verdutzten Dorfbewohner hielten beim Einsteigen inne und sahen sich verwirrt an. "Ich sagte doch, total durchgeknallt." Der eine, der Simon eben noch zum Nervenarzt bringen wollte, ließ einen Finger an der Schläfe kreisen. "Halt dich gefälligst zurück", fuhr ihn Georg an, und folgte Simon nach. Dass er mit seinem Laster jetzt die halbe Straße blockierte, war ihm im Moment herzlich egal. Die anderen Dorfbewohner zögerten kurz, sahen sich an, und folgten ihnen in den Wald.
Simon wanderte zügig querfeldein, und Georg musste rennen, um wieder aufzuschließen. Immer wieder wurde Simons Blick glasig und er änderte ab und zu die Richtung. Nachdem sie etwa eine halbe Stunde durch die Gegend gelaufen waren, erreichten sie eine kleine Klippe, die eine Schlucht begrenzte. Simon blieb abrupt stehen, so dass Georg fast in ihn hineinlief. Das was sie sahen, ließ ihnen den Atem stocken. Unter ihnen lag Marco. Es sah so aus, als sei er von der Klippe auf den Absatz vor der Schlucht gefallen. Er reagierte nicht auf zurufen. Neben ihm saß Tannin, der bis vor kurzem noch auf Marco gestarrt hatte und nun zu Simon nach oben sah. Warum wacht er nicht mehr auf, wenn ich ihn rufe? war die Frage, die Simon zur Überraschung in seinem Kopf vernahm. Er war sprachlos. Georg hatte unterdessen mit dem Abstieg begonnen.
Als er jedoch endlich unten ankam, zögerte er. "Hey Simon, pfeif mal deinen Drachen zurück." Simon verzichtete darauf, Marcos Vater noch mal darauf hinzuweisen, dass er Tannin hieß, zu verdutzt war er noch darüber, Tannin nun auch hören zu können. Doch der eben Angesprochene bewegte sich bereits von Marco fort, nicht ohne ihn aber erneut mit sorgenvollem Blick angeschaut zu haben. Sofort eilte der Vater zu seinem Sohn. Marco regte sich immer noch nicht. "Nicht bewegen", rief Simon, der sich fieberhaft an seinen erste Hilfe Kurs zu erinnern versuchte, und nun endlich wieder aus seiner Starre erwacht war. Jetzt bemerkte er auch, dass er im Eifer des Gefechts vergessen hatte, das Handy einzustecken. Leise fluchte er. Marcos Vater hatte ebenso wie der Rest der Gruppe auch kein Telefon dabei. Warum reagiert Marco nicht?, fragte Tannin erneut. 'Ich glaube Marco ist verletzt.' - Könnt ihr ihm denn nicht helfen? Simon schüttelte bekümmert den Kopf. Warum holt ihr denn dann keine Hilfe? Tannin überwand die Klippe und ließ sich neben Simon nieder und schaute ihn mit erwartungsvollen Augen an. Simon nickte und rief zu Georg herunter: "Ich leih mir mal kurz deinen Wagen aus und hole Hilfe. Sorg dafür, dass Marco nicht bewegt, aber warmgehalten wird." Simon sauste ohne auf eine Bestätigung zu warten los. Er musste sich jedoch recht schnell eingestehen, dass er keine Ahnung hatte, wie er zurück zur Straße kam. Er war noch nie so weit im Wald gewesen. Ich zeige dir den Weg. Mit einem Krachen brach Tannin durch die Baumwipfel.
Es war ein Spießrutenlauf durch den Wald, bis Simon die Straße wieder erreichte. Dass er sich dabei die Hände und das Gesicht zerkratzte, störte ihn im Moment herzlich wenig. Marcos Vater hatte die Schlüssel im Zündschloss des Autos stecken lassen. Jetzt fuhr Simon mit hohem Tempo zu seinem Haus, wo sich auch schon die ersten der Suchenden eingefunden hatten. Als sie jedoch Tannin kommen sahen, wichen die meisten hastig zurück. So hatte Simon bei seiner Ankunft freie Bahn zum Telefon.
Nachdem er den Rettungsdienst angerufen hatte, zeigte er anhand der Karte und mit Tannins Hilfe, wo sie Marco fanden. Er schickte sie los, damit sie dem Rettungsdienst den Weg zeigten. Er würde auf die andere Gruppen warten und sie informieren, dass sie Marco gefunden hatten. Die meisten Dörfler nahmen den Vorschlag nur zu gerne an. So blieben Simon und Tannin allein zurück.
Erschöpft ließ sich Simon in seinen Sessel sinken. Er war aus irgend einem Grund so verdammt müde. Was ist mit Marco? Tannin sah Simon fragend an. "Die Ärzte werden sich um ihn kümmern." Du bist müde? Simon nickte nur. "War wohl alles ein bisschen zuviel. Erst dein Verschwinden, und dann war Marco auch weg..." Aber ich bin doch nicht ohne Grund los. Marco hat mich gerufen. Er hatte vor irgend etwas große Angst, und dann bin ich los, um ihm zu helfen. Simon hätte Tannin gerne gefragt, ob er wusste, was Marco so verängstigt hatte, doch eine Gruppe Dorfbewohner kam von ihrer erfolglosen Suche völlig frustriert zurück. Simon erhob sich mit einem Ächzen aus dem Sessel und ging auf die Gruppe zu. Da sie nichts genaues über den Stand der Rettungsaktion wussten, blieben sie bei Simon im Garten vor dem Haus. Als sich die meisten nicht so recht in das Haus trauten, bot Tannin an, sich in ein anderes Zimmer zurück zu ziehen. Simon seufzte und nickte leicht, worauf Tannin in Simons Schlafzimmer verschwand. Sofort betraten die Dorfbewohner das Wohnzimmer und ließen sich auf den freien Stühlen nieder.
Sie mussten nicht lange warten. Etwa eine Viertelstunde später erhielten sie einen Anruf. Einer der Dorfbewohner hatte sich Simons Telefonnummer notiert und brachte sie auf den neusten Stand. Marco war in das städtische Krankenhaus eingeliefert worden und man untersuchte ihn grade. Gemeinsam beschlossen sie ins Krankenhaus zu fahren. "Aber dein Drache bleibt hier." Die Leute schauten Simon mit strengem Blick an. Das ist kein Problem für mich. Ich weiß, dass du mir alles wichtige erzählen wirst. Ermutigt von Tannins Worten nickte Simon und stieg mit den anderen in die Autos.
Sie legten den Weg zum Krankenhaus in einer neuen Bestzeit zurück, wobei sie einige Verkehrsregeln außer Acht ließen. Doch das war den meisten, und besonders den Autofahrern, ziemlich egal. Kaum hatten sie die Autos abgestellt enterten sie in großer Gruppe das Krankenhaus. Nur die Stationsschwester der Ambulanz vermochte sie zu stoppen. Sie stellte sich ihnen in den Weg und verlangte zu erfahren, wohin Dshingis Khans Horden denn wollten.
Verdutzt blieben die mittlerweile 18 Leute stehen. Die Schwester jedenfalls blieb streng und schickte die meisten wieder von der Station. Simon gehörte zu den wenigen glücklichen, die bleiben durften. "Besänftige mal diesen Hausdrachen hier. Du kennst dich doch so gut mit diesen Viechern aus." Simon konnte nicht ausmachen, wer diese bissige Bemerkung hervorbrachte. Er setzte sich auf einen der freien Stühle und wartete.
Nach etwa einer halben Stunde kam Georg aus einem der Behandlungsräume. Er war unnatürlich blass, aber er hatte keine Tränen mehr in den Augen. Zielstrebig kam er auf Simon zu und blieb vor ihm stehen. Er schluckte mehrmals, und Simon merkte, dass er etwas sagen wollte, was ihm offensichtlich sehr schwer fiel. "Ich muss mich bei dir und Tannin entschuldigen. Ich habe euch Unrecht getan. Marco hat mir gesagt, das Tannin..." Georg stockte. Ihm standen wieder Tränen in den Augen. "...er sagte, dass Tannin ihm im Wald das Leben gerettet hat." Die anwesenden Dorfbewohner wussten nicht, ob sie richtig gehört hatten. Sie mochten mit etwas anderem gerechnet haben, denn einige von ihnen schüttelten ungläubig die Köpfe. "Darf man zu ihm?" Fragend blickte Simon den sich langsam wieder beruhigenden Vater an. "Ja, aber bitte nur kurz." Simon nickte, stand auf und ging zum Behandlungsraum.
Auf einer Liege lag Marco. Er wirkte nicht mehr ganz so blass. Einige Schwestern und ein Arzt bemühten sich um ihn. Als Simon näher trat, wurde er nicht aufgehalten, aber darauf hingewiesen, dass er es kurz fassen solle. Der Arzt verließ zusammen mit den Schwestern das Zimmer und schloss die Tür hinter sich, so dass Marco und Simon nun allein in dem Raum waren. Kaum dass die Tür zu war, öffnete Marco seine Augen, wendete den Kopf und sah Simon mit einem schwachen Grinsen an. "Was machst du denn für Sachen?" Simon griff sich einen Stuhl und setzte sich an Marcos Bett. "Ich wollte Tannin besuchen." Marco schloss die Augen und seine Gesichtszüge verhärteten sich. Offensichtlich schienen die Erinnerungen nicht sonderlich angenehm zu sein. "Willst du darüber reden?" Marco nickte leicht. "Es ist eine bodenlose Gemeinheit. Mein Vater hat sich tierisch darüber aufgeregt, als er herausgefunden hatte, dass ich dich und Tannin weiter besucht hab. Er drohte mir mit Stubenarrest und behielt mein Taschengeld ein, so dass ich nichts mehr für den Bus hatte. Außerdem war er immer anwesend, wenn ich das Telefon benutzen wollte. Er behauptete, es sei nur zu meinem besten, wenn ich euch nicht mehr sähe." Marco stockte. Tränen liefen über seine Wangen, und er wendete sein Gesicht von Simon ab, so als schäme er sich seiner Tränen. "Es ist schon gut... Du brauchst dich nicht zu schämen. Wenn du willst, kann ich ja noch mal mit deinem Vater reden." Marco drehte sich zu Simon um. "Würdest du das für mich tun?" Simon nickte, dann stand er auf, und wandte sich der Tür zu. Die Leute der Klinik waren wieder in das Zimmer gekommen, und deuteten Simon eh an, dass er jetzt wieder gehen sollte.
Draußen wurde Simon bereits erwartet. Neben den Dorfbewohnern hatte sich eine nicht zu verachtende Zahl Reporter im Krankenhaus eingefunden. Ein vermisster Junge war ein gefundenes Fressen für sie. Simon überlegte, wie diese von der ganzen Sache Wind bekommen hatten. Im Moment interviewten sie alles und jeden, der sich nicht in einen Behandlungsraum oder die Aufzüge flüchten konnte. Als sie jedoch Simon aus dem Behandlungsraum kommen sahen, ließen sie von ihren bisherigen Opfern ab und kamen direkt auf ihn zu. Wobei sie sich im Flur selbst behinderten. Jeder von ihnen wollte der erste sein und die besten Bilder haben. Ein gigantisches Gerangel und Gefluche war die Folge, und Simon sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Es war Marcos Vater, der Simon in einen Raum zog und die Tür verriegelte. Überrascht stellte Simon fest, dass er sich auf der Toilette befand. Auf seine fragenden Blicke zuckte Georg mit den Schultern. "Das ist der einzigste Ort, wo man sich die," er deutete Richtung geschlossene Tür, "vom Leibe halten kann." Er grinste fast so wie Marco.
Plötzlich hörten sie von draußen eine laute Stimme. "Meine Damen und Herren. Ich muss doch sehr bitten. Dies hier ist ein Ort der Genesung und kein Pressezentrum. Bitte verlassen sie umgehend dieses Krankenhaus." Lautes Murren und Proteste wurden laut, doch nach einiger Zeit verstummte sie wieder.
Als Simon dann einen Blick aus der Tür riskierte, musste er feststellen, dass die Reporter und einige der Dorfbewohner verschwunden waren. Ein älterer, etwas beleibter Mann im weißen Kittel stand immer noch in der Mitte des Flures und ließ seine Augen wachsam durch die Abteilung schweifen. Als er Simon erblickte, verhärtete sich sein Blick. "Sind sie etwa auch einer von diesen Reportertypen?" Ein eiskalter Ton schwang in seiner Stimme mit. Es war offensichtlich, was er von ihnen hielt. "Nein. Er gehört zu mir." Georg war hinter Simon aus der Toilette getreten und ging nun zielstrebig auf den Mann zu, der sich sichtlich entspannt hatte. "Das ist Dr. Toro. Er ist der Chefarzt dieser Klinik und rein zufällig sehr gut mit meinem Schwager befreundet." Er stellte Simon Dr. Toro vor und gemeinsam kehrten sie in Marcos Behandlungsraum zurück.

Simon war müde, als er nach hause zurückkehrte. Er war froh, als er feststellte, dass niemand aus dem Dorf mehr im Haus war. So schloss er alle Türen ab, und ging dann in sein Schlafzimmer. Als er die Tür öffnete konnte er sehen, dass es sich Tannin auf dem Bett bequem gemacht hatte. Er war am Schlafen. Simon schaute einige Zeit zu Tannin, und fragte sich, warum er ihn jetzt erst hören konnte, doch er fand keine Antwort darauf. Er wollte sich wieder umdrehen und auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen, als Tannin unvermittelt die Augen öffnete und seinen Kopf hob. Er sah Simon an und verließ das Bett. Wie geht es Marco? - "Schon wieder ziemlich gut. Er muss aber noch einige Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben." Deine Frage kann ich dir übrigens leider nicht beantworten. Die Lösung liegt wohl in dir. Simon blieb überrascht stehen, drehte sich um, und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Doch Tannin schwieg nun und ging langsam an ihm vorbei, hinab ins Wohnzimmer. Simon stand noch etwas herum, bevor er zum Schrank schritt. Er nahm einige Kleidungsstücke heraus und verließ das Zimmer erneut, um ins Bad zu gehen. 'Und komm bloß nicht auf die Idee, Marco da zu besuchen', fügte Simon in Gedanken hinzu. Ich doch nicht, für wen hältst du mich. Simon grinste und schloss die Tür.

Ein lautes, unnachgiebiges Klopfen riss Simon aus seinen Träumen. "Hat man denn hier nicht einmal seine Ruhe," grummelte er vor sich hin, während er etwas zum Überstreifen suchte. Er fühlte sich wie gerädert. Das Klopfen hielt weiterhin an. "Ja, ja, ich komme ja schon," rief Simon nach unten, und wäre im nächsten Moment fast über Tannin gestolpert. Dieser hatte es sich nämlich vor der Schlafzimmertür gemütlich gemacht und döste vor sich hin. Ihn schien dieses dauernde Geklopfe ziemlich kalt zu lassen.
Simon schritt in Schlafanzug und Bademantel die Treppe herunter und öffnete die Tür. Er erwartete niemand bestimmtes, umso überraschter war er über den jungen Postboten, der vor seiner Tür stand. Dieser hielt einen Brief in der Hand. 'Und wegen so ´nem ollen Brief, macht der so´n Theater.' Mürrisch blickte Simon den Postboten an. Der trug auch nicht sonderlich dazu bei, dass sich seine Stimmung verbesserte. "Morgen. Eilzustellung, darf ich nur dem Besitzer des Hauses persönlich übergeben." - "Glückwunsch, scheint so, als sei er auch da." Simon konnte den sarkastischen Unterton nicht vollständig verbannen. Trotzdem schaute ihn der junge Postbote irritiert an. "Na gib schon her." Simon streckte die Hand aus. Es war frisch draußen, und er wollte die Tür so schnell wie möglich wieder schließen. Vor allem aber wollte er seine Ruhe wiederhaben. Er war immer noch hundemüde. "Sie müssen mir vorher aber noch ihren Ausweis zeigen." Simon verdrehte die Augen. Der blöde Ausweis war natürlich in seiner Hose von gestern, und die lag noch im Schlafzimmer. Simon ertappte sich bei dem Gedanken, was denn wohl passieren würde, wenn Tannin ihm den Ausweis jetzt runterbringen würde, doch er verwarf den Gedanken ganz schnell wieder, und hoffte, dass Tannin ihn nicht mitbekommen hatte. "Moment," grummelte Simon, schloss die Tür bis zu einem kleinen Spalt und stieg die Treppe wieder nach oben.
Seine Sorge bezüglich seines Gedankens schien unbegründet. Als er die Treppe verließ, war Tannin zwar vor der Schlafzimmertür verschwunden, aber er schlief trotzdem noch. Ihn hatte die gestrige Sache doch wohl auch etwas mehr angestrengt, als er zuzugeben bereit war. Was Simon etwas wurmte war der Umstand, dass Tannin sich für seinen neuen Schlafplatz ausgerechnet die Mitte von seinem Bett ausgesucht hatte. Da blieb nicht mehr sonderlich viel Platz für ihn, wenn er sich überhaupt da noch einmal hineinzwängen wollte. Simon griff nach seiner Hose und nahm die Geldbörse heraus, in der er auch seinen Ausweis aufbewahrte.
Etwa fünf Minuten später hatte Simon auch endlich die letzte Formalität abgewickelt, und ließ die Tür geräuschvoll ins Schloss fallen. Dann lehnte er sich rücklings dagegen und betrachtete den Brief, den er erhalten hatte. Er zögerte, den Brief zu öffnen. Stattdessen legte er ihn auf die Schuhkommode und ging ins Wohnzimmer.

Er war dann wohl irgendwann in seinem Sessel eingeschlafen, denn er schreckte hoch, als Tannin sich nicht grade leise vor dem Kamin niederließ. Mit seinem Schwanz räumte er nämlich die Schaufel und den Holzheber von ihrem Ständer, so dass sie lautstark zu Boden polterten. Entschuldigung, ich wollte dich nicht wecken, meinte Tannin und ließ seinen Kopf auf seinen Vorderpfoten nieder. Simon winkte ab, und sah auf seine Uhr. Er erschreckte. Es war bereits später Mittag. Als er sich aus dem Sessel erheben wollte, protestierte so ziemlich jeder Muskel in seinem Körper, so dass er sich mit einem Stöhnen zurückfallen ließ. Ein Muskelkater von so ein bisschen Waldlauf hatte ihm jetzt grade noch gefehlt. Wenn du mich suchst, ich gehe mir was zu essen besorgen. Mit diesen Worten war Tannin aus der Terrassentür heraus und im Wald verschwunden. Die Tür war eben noch verschlossen gewesen, doch Simon wunderte sich schon gar nicht mehr richtig. Immer wieder überraschte Tannin ihn mit Dingen, die er ihm eigentlich gar nicht zugetraut hatte.
Seufzend, und die protestierenden Muskeln ignorierend, erhob sich Simon erneut und wankte zur Küche. Er hatte ebenfalls Hunger, was in Anbetracht der Uhrzeit sicherlich nicht untypisch war. Trotzdem konnte er sich nicht dazu durchringen, sich etwas zu kochen, und so beschränkte er sich auf einige belegte Brote. Mit denen kehrte er dann ins Wohnzimmer zurück und schaltete den Fernseher an.
Das Telefon klingelte und riss Simon vom Fernseher los. Es war Marco. Er hatte Simons Festnetznummer über die Auskunft in Erfahrung gebracht. "Hallo?" - "Simon? Ich bin´s Marco." - "Hallo! Wie geht´s?" Eine Pause entstand. "Och, eigentlich schon wieder ganz gut. Aber ich langweile mich so. Wann kommt ihr mich besuchen?" - "Wir?" - "Natürlich, ihr!" Simon konnte förmlich hören, wie Marco am anderen Ende der Leitung die Augen verdrehte. "Heute Abend, wenn die Besuchszeit vorbei ist und diese olle Nachtschwester Dienst schiebt. Mein Bettnachbar hat mir erzählt, dass man die recht leicht ablenken kann." Marcos Grinsen war sicherlich auf der anderen Seite der Leitung gut sichtbar. In Simons Gedanken schlich sich eine üble Vorahnung. "Du hast ihm doch nicht etwa von Tannin..." - "...erzählt? Natürlich nicht." Simon wollte bei Marcos Antwort schon aufatmen, doch dieser sprach weiter. "Ich habe ihnen nur gesagt, dass ich zwei ganz besondere Freunde habe, die mich nicht Tagsüber besuchen kommen können." Simon verdrehte die Augen. Das hatte ihm jetzt noch gefehlt. Nachts in ein Krankenhaus einbrechen.
Simon vernahm ein Geräusch von der Terrassentür. Offenbar war Tannin zurück. "Du, ich weiss nicht, ob das eine so gute Idee ist. Ich..." - "Ihr müsst kommen. Was soll ich denn sonst den anderen sagen." Marcos Stimme klang mit einem mal leicht weinerlich. "Die anderen?" - "Na, die sonst noch alle auf der Station liegen. Sie haben bereits alles für heute Abend vorbereitet." Simon seufzte. Das sah Marco mal wieder ähnlich. "Sag mal, ich dachte du liegst in einem Krankenhaus." - "Tu ich doch auch, aber es ist hier sooo langweilig, und die anderen langweilen sich auch." Ich hätte nichts dagegen, Marco zu besuchen. "Jetzt misch dich nicht auch noch ein," zischte Simon zu Tannin. Doch er hatte aus Gedankenlosigkeit zu laut gesprochen. So konnte Marco ihn am anderen Ende auch hören. "Tannin ist bei dir. Was meint er," fragte er erfreut. Jetzt war eh alles vorbei. Simon seufzte. "Er möchte dich besuchen kommen." - "Super, bis heute Abend dann." - "Warte mal..." bevor Simon noch etwas sagen konnte, hatte Marco das Gespräch beendet.
Verwirrt und auch etwas ratlos ließ Simon langsam den Hörer sinken. Worauf hatte er sich da nur eingelassen. Wir gehen ihn also  besuchen? Simon nickte müde. Warum freust du dich denn nicht? "Weil es nicht richtig ist, was wir zu tun gedenken." Was meinst du damit?  "Es gibt in unserer Gesellschaft Vorschriften, über die man sich nicht so einfach hinwegsetzen kann." Was hat das Ganze mit unserem Besuch zu tun? "Nun, die haben in den Krankenhäusern feste Zeiten, in denen man die Kranken besuchen kann, und ansonsten brauchen sie die restliche Zeit für die Heilung Ruhe." Das verstehe ich nicht ganz. 'Du warst ja auch noch nie wirklich richtig krank', dachte Simon etwas neidisch. Ist das etwa schlimm für dich? "Äh... So hab ich das nicht gemeint. Was ich damit sagen wollte ist, dass..." Simon stockte. Er war völlig verwirrt, und wusste nicht so recht, wie er Tannin das Ganze erklären sollte. Ja? "Ach, vergiss es. Jetzt hast du mich ganz durcheinander gebracht." Simon drehte sich vom Telefon weg und kehrte zu seinem Sessel zurück. Tut mir leid. Das wollte ich nicht. "Ach, ist schon gut." Simon winkte ab. Da hatte er sich ja etwas schönes eingebrockt. Simon hatte die Idee, dass er doch jetzt ins Krankenhaus fahren könnte, um die ganze Sache zu umgehen, doch ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass die Besuchszeit eh vorbei sein würde, selbst wenn sie sofort aufbrächen. So stand er wieder auf und lief durchs Zimmer. Die ganze Sache konnte ihn in Teufels-Küche bringen. Doch konnte und wollte er es riskieren heute Abend einfach nicht hinzugehen und Marco damit zu enttäuschen? Zumal schien Tannin keine Lust zu verspüren, heute Abend zuhause zu bleiben. Obwohl er es nicht sagte, konnte Simon doch an seinem Verhalten sehen, dass er Marco besuchen wollte und auch würde.
.

© Pai
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
.
Und schon geht's hier weiter zum 3. Kapitel...

.
www.drachental.de