Ein roter Blitz!
Und dann fiel eine zarte Mädchenhand erschlafft auf das duftende
Gras.
Der Wind wehte Rosenblätter aus ihr hervor, bis auf das letzte.
Dieses nahm er ganz behutsam in die Höhlung seiner beiden Hände,
als beschützte er einen verwundeten, kleinen Vogel. Immer noch war
er zu erstaunt und verwirrt, um zu begreifen, was soeben passiert war.
Wie unheimlich es aussah, so wie sie regungslos in seinen Armen
lag. Von Augenblick zu Augenblick zog ihre Wärme sich aus ihrem Körper
zurück, und er wusste, sie nahm all das mit sich fort, was er geliebt
hatte: Ihr Lächeln, ihre Freude, ihre Art zu tanzen, Dinge zu sagen,
zu weinen, ihn anzusehen, ihn zu küssen, ihre Träume, ihre Pläne
... sie ging fort, ohne ihn, für immer.
Und er hatte sie getötet.
Auch wenn ER die größte Schuld an allem trug ... ER hatte
den todbringenden Schuss nicht abgegeben.
In jenem Augenblick hatte eine wilde Bestie seine Seele als Geisel
genommen, zerfleischte ihren Kerker mit scharfen Krallen aus Schuld und
mörderischen Reißzähnen aus Verzweiflung.
In jenem Moment, da war auch die Wärme aus seinem Herzen geflohen,
geflüchtet vor der eisigen Trauer, vor der dunklen Einsamkeit darin.
In jener Sekunde stürzte er in eine kalte Nacht, die keinen
Sonnenaufgang mehr kannte, sondern nur noch Hass gebar. Hass auf
Ihn, der sie beide mit seinem Zorn überrascht hatte, ohne sie anhören
zu wollen, vor allem aber grenzenlosen Hass auf sich selber.
Nichts als jenes Rosenblatt war von ihr geblieben, und er trug es
immer an seinem Herzen, geschützt vor seinen Händen. Denn ...
welche grausame Ironie des Schicksal oder eines zynischen Gottes ... Er
konnte keine Rose auf dieser Welt mehr berühren, ohne dass sie in
seinen Händen zu Asche verbrannte. Dies hatte Er vor langer Zeit bewirkt,
Er war schließlich der mächtigste von allen und überaus
spitzfindig. Und Er hatte die Rosen verändert, auf dass sie in den
Händen derjenigen verbrannten, die nicht von dieser Welt stammten
und das Leben darauf, ja, das Leben selber gering schätzten. Niemand
von ihnen, in dessen Seele eine haßerfüllte, mitleidlose Bestie
lauerte, konnte eine Rose halten.
Seitdem hatte er sich in ein Reich aus Finsternis und Kälte
geflüchtet.
Dunkelheit und blutiges Eis beherrschten diese Welt, in der eine
schwarze Burg aus dem gefrorenen Meer herausragte. Sie war über und
über mit seltsamen, sich kreuzenden Linien bedeckt, die wie sinnlos
in das Gestein graviert wirkten. Doch in Wahrheit wiederholten sich die
scheinbar willkürlich verlaufenden, schwach rot glühenden Striche.
Sie waren sogar in dem Bluteis zu finden und im Felsen der dunklen Berge
ringsum. Und es war kein Muster, sondern Worte in einer seltsamen Schrift.
Er lebte in diesem grauenvollen Palast.
Bilder blitzten auf; sie zeigten ein Geschöpf, das angekettet
in einem der Türme gefangen war, dort regungslos im Dunkel kauerte,
ohne Hoffnung auf Befreiung.
Dunkle, monströse Wolken, sich bedrückend tief und sterbenslangsam
dahinschleppend, bewachten diese einsame, bittere Welt. Niemals mehr würde
auch nur ein einziger Sonnenstrahl oder Sternenfunkeln das Land aus Schuld
und Verzweiflung erreichen.
Für immer würde das Grabesdunkel und die unerbittliche
Kälte unberührt bleiben, nichts konnte den todesähnlichen
Frieden, den sie schenkten, stören.
›Was für ein unauslöschliche Sünde auf mir lastet!‹,
schrie der Gefangene auf einmal auf und brach dann weinend zusammen.
Endlich wurde Tigris klar, dass sie träumte.
Und sie erkannte diese Stimme sofort.
Jener Dämon war es wieder, dessen Stimme sie damals in jenem
furchtbaren Wüsten-Alptraum vernommen hatte.
›Ich wünschte, der Hass auf mich selber könnten deinen
Namen in mich brennen und meinen Körper und meine Seele verglühen
lassen. Aber es gibt keinen erlösenden Tod für mich.
Ich bin so müde ... die Qual, die ich verdient habe, schmerzt
manchmal nicht mehr so sehr. Die Erinnerungen an dich berühren manchmal
meine Seele nicht mehr. Ich habe Angst. Ich habe Angst ... ich fürchte
mich so sehr, dich zu vergessen. Eines Tages vergesse ich sogar das einzige,
was mir von dir geblieben ist. Doch wenn selbst die Schmerzen und die Erinnerungen
fort sind, besitze ich wahrhaftig nichts mehr, bin ich nichts mehr, bin
ich tot, ohne gestorben zu sein.‹
Welch ein Wahnsinn, was für eine grenzenlose Verzweiflung aus
der Stimme klang. Und doch bäumte sich Tigris’ Innerstes auf, so irritierte
sie erneut deren Vertrautheit.
›Schmiedet uns zusammen, für alle Zeiten. Gibt uns Kraft, wird
uns sicher leiten‹, schoss es ihr plötzlich und für sie selber
überraschend durch den Kopf.
Die bedrückende Umgebung verdichtete sich zu absolutem Schwarz
und wurde plötzlich wie ein Schleier fortgezogen. Bunte Lichter glitzerten
zu ihren Füßen. Großstadtlärm klang aus der Tiefe
empor: Motorengeräusche, Autohupen, Musik und leises Rauschen.
Sie sah vom Dach eines Wolkenkratzers herab auf eine riesige Metropole,
einem Labyrinth aus Quadern und Säulen, geschmückt von erleuchteten
Fenstern, Leuchtreklame und Lichtpünktchen.
›Ich weiß nicht, wer du bist, wo du bist und was du bist‹,
grollte die Stimme des Dämons durch ihren Geist. ›Aber wieso, verdammt,
kennst du dieses Lied?‹ Wie erschreckend kalt vor Wut die Worte ausgespieen
wurden!
›Ich weiß es nicht. Es fiel mir plötzlich so ein!‹, hörte
sie sich ängstlich antworten.
›Einfach so? Was für ein grenzenloser Zufall. Du lügst.
Niemand kennt es außer mir und -‹ Die Stimme schwieg abrupt, als
ob ihr plötzlich die Kraft fehlte, weiterzusprechen.
›Wer bist du? Wieso kann ich deine Gedanken manchmal hören?‹,
fragte Tigris ängstlich.
›Niemand fragt sich das mehr als ich. Wo ist dieser Ort, an dem
du bist? Und wie ist dein Name?‹
Nun erschrak Tigris gewaltig. Wenn das ein Traum war, begann er
unheimlich zu werden. Konnte derjenige, der mit ihr in ihren Gedanken redete,
tatsächlich genauso durch ihre Augen sehen, wie sie durch die seinen
sah? Aber sie schlief doch, oder nicht?
›Es nützt nichts, es mir zu verschweigen‹, erklärte er
spöttisch. ›Ich finde den Ort, an dem du dich aufhältst. Und
ich finde dich. Dann werde ich dich schon dazu bringen, es mir zu beichten.‹
›Ich weiß es wirklich nicht. Wer bist du?‹
›Inzwischen hat man mir viele Namen gegeben. Such dir einen davon
aus: Monster, Seelenfresser, AntiDaimon, Seelenterrorist, Undaimon, Ewigverdammter...‹
Seelenfresser! Tapfer fragte sie weiter: ›Dann... dann willst du
diese Welt vernichten...‹
›Wie wahr, in der Tat habe ich das vor. Vor allem, da sie einer
bestimmten Person überaus lieb und teuer ist. Zufälligerweise
hasse ich diesen Jemand abgrundtief. Es wird mir Genugtuung verschaffen,
ihn ein wenig von der Qual kosten zu lassen, die ich seinetwegen nahezu
jeden Augenblick erlebe. Er trägt die größte Schuld. Er
war nicht der, für den ich ihn gehalten habe. Er wollte mir nicht
zuhören. Stattdessen überrollte uns sein Zorn. Nur seinetwegen
ist es geschehen.‹
Tigris erschrak, als plötzlich wieder die Erinnerung des Dämonen
für einen Moment auftauchte.
Das Mädchen auf der Wiese!
Sie rannte auf das vielfarbige Licht zu, das schnell die Berghänge
herunter glitt.
Ein roter Blitz.
Eine zarte Mädchenhand fiel leblos ins Gras, der Wind wehte
Rosenblätter daraus hervor, bis auf eines.
Schmerzhaft verkrampfte sich ihr Herz.
Da verstand sie endlich, dass es seine Qual war, die sie fühlte,
weil sie seine Erinnerung sehen konnte.
›Bru’jaxxelon‹, durchfuhr es sie.
›Bru’jaxxelon, wie mich die Shinnn zu nennen pflegten. Richtig.
Aber du darfst ruhig Bru’ zu mir sagen, wo wir uns doch auf merkwürdige
Weise anscheinend so nahe stehen‹, sagte der Dämon voller kalter Ironie.
›Was für ein Rätsel. Gerechterweise solltest du mir endlich deinen
Namen verraten.‹
›Damit du mich töten kannst? Nein!‹, begehrte sie auf und wünschte
sich für einen Augenblick, seine Stimme und seine schrecklichen Erinnerungen
aus ihrem Geist zu verbannen. Aber dann widerstrebte es ihr unerklärlicherweise,
die Verbindung mit ihm abzubrechen.
›Ich werde dich schon aufspüren. Ich brauche nur einmal dein
Gesicht zu sehen, und dann werde ich die Köpfe aller Geschöpfe
danach durchsuchen, bis ich weiß, wo ich dich finden kann.‹
›Ich kann dir nichts sagen, du würdest nur deine Zeit verschwenden.‹
›Zu spät. Du hast ein Gefühl in mir geweckt, das ich schon
längst vergessen glaubte: Ich bin neugierig geworden. Und deswegen
werde ich dich finden.‹ Er sagte es kühl und gelassen, doch Tigris
fühlte in ihrem Traum, wie es ihr heiß und kalt zugleich wurde.
›Nein! Ich will das nicht!‹, schrie sie.
Als würde sie in kaltes Wasser geworfen, fand sie mit einem
Mal in die Realität zurück.
Sie lag in ihrem Bett, die Augen derart weit aufgerissen, dass sie
schon brannten und tränten.
Es musste ein Alptraum gewesen sein, es gab keine andere Erklärung.
Und Tigris weigerte sich, eine andere in Betracht zu ziehen, auch wenn
sie wie Espenlaub zitterte und noch immer die Erinnerung an seine Stimme
durch ihren Kopf hallte.
Gegenüber schlief Antigua mit dem Rücken zu ihr.
07:15, gleich war Frühstückszeit, Plapperzeit, Messe,
Unterricht... und sie hatte wahnsinnige Kopfschmerzen.
Tokio, gestern. Aévon Zimberdale. ›Und die Schwäche
meines Vaters für kleine, dunkelhaarige Seherinnen ist in den Domén
Arxes überaus bekannt. Ist deine Mutter Seherin?‹
Sie sahen sich bestimmt nur zufällig so ähnlich. Genau
so musste es sein, und nicht anders. Als ob ihr Leben nicht kompliziert
genug geworden war!
Mit einem Mal läutete es Sturm an der Haustür von Rosenhag
3, wo außer ihr noch niemand wach zu sein schien.
Also ging sie missmutig hinunter in die Eingangshalle, während
erste verschlafene Stimmen hinter den Zimmertüren ertönten.
Dheneb von Rosenhag 1 stand im Morgenmantel vor der Tür und
wirkte sichtlich vollkommen neben der Spur. Mit erstickter Stimme sagte
sie: »Ember ist weg.«
Tigris erstarrte auf der Stelle. »Wie... er ist weg? Seit
wann?«
Dheneb fuhr sich hilflos durch die dunklen, kurzen Wuschelhaare
und sprudelte dann ohne Pause los: »Lux Montana kam gerade zu uns.
Sie haben ihn schon seit Stunden gesucht.
Ich und Aure haben ihn zuletzt gestern Abend in der Node von Balkan-Osmania
gesehen, er wollte eigentlich mit uns zu ein paar Bekannten in der Ukraine,
aber das Gedränge war so groß. Und auf einmal war er weg und
... und wir dachten, er hat es sich anders überlegt. Weil er erwähnt
hat, dass er sich mit einer Freundin treffen wollte. Und ... und wir dachten,
er hat sie anscheinend getroffen und ist dann mit ihr losgezogen ... und
dann ist er gar nicht nach Hause gekommen. Aure war die ganze Nacht wach
und hat auf ihn gewartet. Aber er kam nicht. Dann hat er Lux Montana und
Lux Livas Bescheid gesagt, während wir alle seelenruhig schliefen...«
Dheneb hatte den letzten Rest ihrer Fassung verloren und barg den Kopf
in die Hände, weil sie die Tränen nicht mehr aufhalten konnte.
»Wir müssen ihn suchen«, sagte Tigris tonlos und
wollte sich, so wie sie war, sofort auf den Weg zur Burg machen. Doch Dheneb
schüttelte den Kopf und hielt sie sachte zurück.
»Er hat zwei Briefe auf seinen Schreibtisch gelegt, wir haben
sie vor ein paar Minuten entdeckt, sie waren unter seinem Atlas. Einer
war für Lux Livas und die Sippe. Und der hier ist für dich.«
Sie zog einen Umschlag aus der Tasche ihres Morgenmantels und überreichte
ihn zitternd und schniefend an Tigris, die ihn sofort hastig öffnete.
Meine liebe Tigris
Es ist neun Uhr abends an Equinox Veris, und es tut mir sehr leid,
dass ich dir das alles nicht mehr persönlich sagen kann.
Wenn du meinen Brief liest, bin ich längst schon nicht mehr
im Gebiet der Allianz.
Du weißt ja, dass ich immer Probleme mit den Vorstellungen
und Gesetzen der RSA hatte.
Und seitdem ich jemanden kennen gelernt habe, der mir gezeigt hat,
dass ein anderes, freieres Leben möglich ist, spielte ich mit dem
Gedanken, überzulaufen.
Doch die lieben Windwibbs und natürlich du habt mich, ohne
dass ihr es geahnt habt, von diesem Schritt bisher zurückgehalten.
Es war allerdings ein schreckliches Erlebnis vorhin in Kopenhagen,
das den letzten Anstoß brachte, mit der Allianz zu brechen.
Ich habe aus Zufall eine Hasspredigt von Umbriel De Navarris miterlebt.
Es war furchtbar und beschämend, wie er mit seinen Lügen viele
dazu brachte, ihm zu applaudieren und sie ›Tod allen Dämonenfreunden
und Sündern‹ schreien zu hören. Er wird noch einen Krieg zwischen
den Xendii heraufbeschwören, obwohl ich hoffe, dass die Vernünftigen
in der Allianz ihn stoppen, bevor es zu spät ist.
Bitte glaube mir, wenn ich sage, dass die Xendii bei PAGAN keine
Dämonenfreunde sind und keinen Krieg gegen die RSA wollen.
Man bringt mich gleich über illegale Tore in der Ukraine in
ihre Gemeinschaft.
Vielleicht verstehst du eines Tages meine Entscheidung und vielleicht
sehen wir uns irgendwann einmal wieder.
In Liebe
Ember
.
»Weiß Lux Livas, dass Ember -« Noch bevor Tigris
weiterreden konnte, nickte Dheneb heftig mit dem Kopf.
»Er ist übergelaufen. Einfach so«, sagte sie leise.
Tigris wischte sich die Tränen aus den Augen und atmete tief
durch.
Ember war fort, doch statt auf ihn böse zu sein, fühlte
sie sich schuldig und unendlich traurig. Wollte er gestern nicht mit ihnen
mitgegangen sein? Wieso hatte ihn niemand gesucht? Wieso hatte ihn niemand
vermisst, und wieso hatten sie den ganzen Abend keinen Gedanken an ihn
verschwendet?
Und jetzt war er fort, jetzt gehörte er zu den ›Abtrünnigen‹,
jetzt war er ein ›Feind‹.
»Ich scheiße auf PAGAN!«, schrie Tigris plötzlich
auf. »Und auf die RSA und auf diesen Ambriel, oder wie er heißt!
Die ticken doch alle nicht mehr richtig. Ich kämpfe gegen niemand!
Und ich hasse niemanden auf Befehl, weil er auf der ›falschen‹ Seite ist!
Ember ist mein bester Freund. Und das bleibt er, trotz allem.«
Sie wandte sich um, um zurück zur Treppe zu laufen, blieb jedoch
schlagartig stehen: Viele junge Windwibbs von Rosenhag 3 hatten sich inzwischen
auf der Balustrade versammelt und sahen schweigend zu ihr hinunter.
Mit zusammengepressten Lippen stampfte sie die Treppe hoch und rauschte
in ihr Zimmer, vorbei an verdatterten, verwirrten Gesichtern, die das unerwartete
Verschwinden des sanften jungen Sehers überhaupt noch nicht richtig
realisiert hatten.
Im Zimmer schlief Antigua noch immer und schreckte erst auf, als
Tigris die Tür zuknallte.
»Mann, Tigris! Pass bitte auf, mein Kopf dreht sich noch immer«,
nuschelte die Ruferin, ohne die Augen zu öffnen.
»Ember ist weg. Er ist jetzt in einer Sippe von PAGAN, es
war seine freie Entscheidung«, eröffnete Tigris ihr auch schon
ohne Umschweife.
Antigua kam aus dem Kissen geschnellt, zeitgleich mit dem Piepsen
des Weckers.
»Verdammt. Sie haben schon wieder gewonnen«, murmelte
sie, immer noch nicht richtig wach.
Tigris setzte sich auf ihr Bett und betrachtete mit schwerem Herzen
die kleine, ordentliche Schrift von Ember auf dem Brief.
»Niemand hat gewonnen. Er hat mir schon von einiger Zeit erzählt,
dass er PAGAN nicht für so übel hält, wie die Allianz es
uns weismachen will. Bestimmt war die Entscheidung nicht einfach für
ihn, er mochte Windwibbenburg. Aber er konnte den ganzen Schwachsinn einfach
nicht mehr unterstützen.«
»Ich habe keine Lust, mit soo einem Kopf und mieser Laune
über die Allianz oder PAGAN zu diskutieren. Meine Güte, ist das
gestern alles wirklich passiert?«
Sie ließ sich zurück ins Kissen fallen und legte ihre
feingliedrige Hand auf ihre Stirn.
Tigris wippte unsicher mit dem Fuß, als sie sagte: »Komisch,
wie ähnlich mir Aévon Zimberdale ist, oder?«
»Purer Zufall. Lux Danubia würde doch niemals etwas mit
jemanden von PAGAN anfangen.«
»Atlantika gehört immer noch zur Allianz.«
»Aber sie wäre niemals so dämlich, sich mit jemanden
einzulassen, der berüchtigt für seine Weibergeschichten ist.«
»Wer ist eigentlich die Mutter von Aévon?«
»Angeblich jemand von PAGAN.« Antigua seufzte noch einmal,
bevor sie sich endlich entschloss, endgültig aufzustehen. Sie setzte
sich wieder auf und kramte in ihrer Schublade nach Zigaretten, während
sie sich Embers Abschiedsbrief durchlas.
»Und was heißt angeblich?«
Antigua nahm erst einmal einen tiefen Zug auf Lunge, bevor sie antwortete:
»Es gibt Gerüchte, dass seine Mutter in Wahrheit aus einer der
übelsten Sekten der B.A.D. Company stammt. Was mich ja wirklich nicht
wundern würde.« Sie schüttelte langsam den Kopf. Bedrückt
sah sie in die Glut ihrer Zigarette. »Meine Güte, Ember ist
nicht mehr da. Ich kann es immer noch nicht glauben.« Sie reichte
Tigris den Brief. Diese faltete ihn langsam und sorgfältig zusammen.
»Ich vermisse ihn schon jetzt. Er war unser ruhiger Pol.«
Doch Embers Verschwinden sollte sich nicht als die einzige unangenehme
Überraschung des Tages herausstelle.
Nach der Messe saßen sie in ihrem Unterrichtszimmer mit den
vielen verschiedenen Sorten von Stühlen und Tischen und warteten auf
die seit einer halben Stunde überfällige Lux Montana. Die Wandler
nutzten die Gelegenheit, um noch weiter über ihre Erlebnisse des Vortages
zu plaudern. Tigris, Bat Furan und Ras Algheti hingegen gaben sich ungewohnt
schweigsam und waren tunlichst darauf bedacht, nicht ein Sterbenswörtchen
über den verbotenen Abstecher zu den Abtrünnigen zu verlieren,
was nicht weiter schwer war, da alle anderen umso begeisterter unermüdlich
von ihren eigenen Erlebnissen und Begegnungen an Equinox Veris berichteten.
Doch schon bald ließen diese harmlosen, unspektakulären Schilderungen
ein winziges, spöttisches Lächeln um die Mundwinkel der Drei
zucken. Verschwörerische, schnelle Blicke gingen zwischen den ihnen
hin und her: Was für ein Kinderkram im Gegensatz zu ihrem Abstecher
nach Tokio...
Angesichts ihres kleinen Geheimnisses hellte sich ihre Stimmung
ein wenig auf.
Dann schneite Lux Montana herein. In den letzten Tagen sah sie wie
viele der Älteren Windwibbenburgs immer gehetzt und übernächtigt
aus. Nachdem sie jeden der jungen Wandler der Reihe nach angesehen hatte,
seufzte sie leise, was bekanntermaßen eine unerfreuliche Neuigkeit
nach sich zog. »Ich hatte noch eine dringende Besprechung mit Lux
Livas. Es ist vielleicht nicht der günstigste Zeitpunkt, aber ich
habe eine wichtige Mitteilung für euch Wandler:
Ich möchte euch an dieser Stelle offiziell über ein kurzfristig
auf morgen früh um fünf Uhr angesetztes Seminar informieren.
Jeder von euch wird daran teilnehmen müssen. Gleichzeitig erbitten
Lux Livas und alle anderen Älteren strengstes Stillschweigen über
diese Veranstaltung gegenüber anderen Sippen. Wir gehen gleich in
die Fabrik und üben noch einmal alle unsere Schusstechniken.«
Nach diesen Worten kannten die jungen Windwibbs kein Halten mehr.
Getuschel kam auf und ein Wort machte unüberhörbar die Runde:
PAGAN.
»Warum müssen wir zu den Abtrünnigen?«, fragte
Arktur stirnrunzelnd. »Haben wir in der Allianz keine guten Lehrer
mehr?«
Lux Montana gönnte ihnen ein knappes Lächeln. »Wenn
man etwas Gutes lernen kann, ist es vollkommen ohne Belang, wer es einem
beibringt. Und vergesst nicht: Selbst die Dämonen -«
»- besitzen Weisheit«, tönte es wenig begeistert
im Chor.
»Aber wie soll eine so große Gruppe in das Gebiet der
Abtrünnigen gelangen, ohne dass die Wächter an den Noden und
Toren misstrauisch werden?«, wunderte sich Arktur.
»Man wird uns gefahrlos dorthin bringen. Morgen früh
erwarten wir unsere Kontaktleute«, erklärte Lux Montana.
Ras Algheti beugte sich daraufhin näher zu seinem Freund und
meinte leise: »Tja, er weiß ja nicht, dass sie überall
illegale Tore haben.«
»Erinnere mich nicht an Illegale Tore«, knurrte Bat
Furan. »Und vor allem nicht, auf wen man treffen könnte, wenn
man sie durchschreitet.«
.
Seit zwei Tagen schon wohnte Danubia in einem prachtvollen Haus an
einem Ort, über den in der Allianz nichts als Gerüchte und Mythen
bekannt waren: Shangri-La.
Und seitdem sie in dem kleinen Büro in London eingetroffen
war und Mira sie in dieses phantastische, aber auch beängstigende
Märchenreich im Himalaja gebracht hatte, gab es für sie nichts
zu tun außer darauf zu warten, wann und wie die Kontinentalräte
PAGANs ihre Entscheidung hinsichtlich der kleinen deutschen Sippe fällten.
Lux Livas erhoffte sich von PAGAN handfeste Unterstützung für
einen Notfall, der hoffentlich niemals eintreffen und es unmöglich
machen würde, die Tore innerhalb der Allianz zu nutzen: Er bat PAGAN
um nicht geringeres als um ein DiSfakt, das augenblicklich ein illegales
Tor in das Gebiet der Abtrünnigen herstellen konnte.
Windwibbenburg.
Wie friedlich und fern aller Intrigen es doch wirkte - und dabei
stand es womöglich schon längst mit im Zentrum des brodelnden
Unheils, das einige Doméns der Allianz und Umbriel ausbrüteten.
Zu Nichtstun verurteilt, beschloss Danubia den Park weiter zu erkunden.
Gleichzeitig hoffte sie, dort nicht derart viele Daimons anzutreffen wie
in der Stadt.
›Was für ein gefährlicher Handel...‹, dachte sie, als
sie an den gut besuchten Cafés und Geschäften vorüberging,
in denen die Überirdischen den Tee servierten, Musik für die
Gäste machten oder unglaublich raffinierte Kreationen für modebewusste
Xendii schöpften - im Gegenzug für ein Asyl auf Erden. Die Tausenden
von ihnen hatten erst diesen Ort überhaupt ermöglicht, wie vielleicht
der eine oder andere unter ihnen seinerzeit König Salomos Tempel mit
errichtet hatte - und die Pyramiden der Pharaonen. Sie durften in den Gebieten
PAGANs nur menschengleiche Gestalt annehmen, doch das machte sie in Danubias
Augen bloß noch unheimlicher. Wie vielen von ihnen konnte man wirklich
trauen, wenn - gottbewahre! - das Aethron in der Atmosphäre zunahm
und sie in eine wahrhaft menschengleiche Gestalt zwingen würde? Dann
würden auch die Neutralen sie sehen können, ungehindert würden
sie unter ihnen leben können. Wer von ihnen war wirklich verfolgt
und verzweifelt, und welche dienten in Wahrheit den Shinnn und würden
nicht eher ruhen, bis die schrecklichen Fürsten der Hölle auf
der Welt wandeln konnten?
Die Tore zur Welt der Überirdischen waren in den Doméns
PAGAN verschlossen worden, dies zumindest beruhigte Danubia ein wenig.
Bei allen Vorurteilen gegenüber den Daimons kam sie nicht umhin,
die Kunstfertigkeit und die Phantasie der Überirdischen zu bewundern,
mit denen sie an Shangri-La gewirkt hatten. In bestaunenswerter Weise waren
von ihnen Blumen aller Farben in den Beeten zu Gemälden angeordnet
worden. Es gab die Nachbildung von Botticellis’ Venus, das Abendmahl von
Da Vinci, einen farbenfrohen Miró und die rätselhaften Uhren
von Dalí. Vereinzelte Koniferen- Arrangements stellten kunstvoll
japanische Schriftzeichen und arabische Worte dar, oder verhießen
schon aus der Ferne ›LOVE‹. Selbst die kleinen Steine der Wege durch die
atemberaubenden Gärten setzten sich zu Weisheiten und klugen Sprüchen
zusammen.
In den Teichen schossen Fontänen in atemberaubend filigranen
Mustern empor und gaben Rätsel auf, wie man Wasser dazu bringen konnte,
solche Formen zu bilden. Und selbst der blaue Himmel über all der
Pracht wirkte vollkommen echt, langsam und heiter zogen zarte Federwolken
in ihm dahin. Nachts funkelten Sternenlichter am künstlichen Firmament,
zu Konstellationen zusammengefügt, die es am wirklichen Erdenhimmel
nicht gab. Eingedenk der zahlreichen Pärchen, die gerne abends im
Park die kleinen Pavillons aufsuchten, hatten die Daimons sogar dafür
gesorgt, dass dann und wann romantischerweise Sternschnuppen durch die
Nacht von Shangri-La zogen und mit einem kleinen Feuerwerk verglühten.
›Selbst die Dämonen besitzen Weisheit‹, erinnerte sich Danubia.
›Und Sinn für Ästhetik. Aber wie kann jemand, der abgrundtief
böse ist, Schönheit erschaffen?‹ Eine knifflige Frage...
Sie hielt auf die kleine Brücke über den Bach zu, die
zwischen duftenden Pinien zu einem kleinen Stück Wildgarten führte,
der so wild und doch wunderschön aussah, dass Danubia sich insgeheim
fragte, ob nicht wieder eine raffinierte, dämonische Planung dahinter
stand.
Ein großer, breitschultriger Mann stand mit dem Rücken
zu ihr auf dem Holzsteg und lehnte sich auf die reich beschnitzte Brüstung,
anscheinend ganz in Gedanken versunken hinunter ins Wasser schauend. Danubia
grüßte höflich, als sie an ihm vorbeiging.
»Ich wusste, dass wir uns eines Tages wieder sehen, Danu.«
Danubia blieb stehen und fühlte ihre Beine weich wie Butter
werden, gleichzeitig polterte ihr Herz beim Klang der nur zu wohlvertrauten
Stimme ungebändigt los.
Procyon.
Langsam wandte er sich zu ihr um und kam näher, ohne sie eine
Sekunde dabei aus seinen wunderschönen Augen zu lassen. Sie wirkten
noch immer geheimnisvoll und Abenteuer verheißend, obwohl mittlerweile
feine Linien von ihnen ausgingen.
Seine fremdländische Schönheit wurde durch den dunklen,
gepflegten Bart nur noch mehr betont, ein Erbe seiner exotischen Vorfahren.
Denn in dem Blut der Zimberdales vereinigten sich nicht nur viele europäische
Völker, sondern auch indisches, arabisches, japanisches und südamerikanisches
Erbgut, weswegen beispielsweise der alte Ataír, Procyons Vater,
nicht die vornehme englische Blässe gehabt hatte, sondern goldbraune
Haut.
Ein Bild von einem Mann, das war Procyon schon immer gewesen - und
er wusste es nur zu gut.
Fast siebzehn Jahre der Trennung schrumpften zu einem unbedeutenden
Augenblick zusammen, wie Danubia an dem Ziehen in ihrem Herzen hilflos
erkannte.
»Natürlich, ich hätte wissen müssen, dass du
hier ein- und ausgehst«, erklärte sie lächelnd und schlang
die Arme fest um sich.
»Danubia. Ich freue mich so sehr, dich zu sehen.« Wie
angenehm samtig diese Stimme immer noch klang, wie sicher und wie warm.
Danubia streckte ihm scheu die zitternde Hand entgegen, die er ergriff
- und nicht losließ, als er fortfuhr: »Du hast dich kaum verändert.
Du bist immer noch so grazil - und so schön.« Er entließ
ihre schmale Hand, um sie leicht unter das Kinn zu fassen und sie mit einem
unergründlichen, tiefen Blick zu mustern. Sie zuckte überrascht
und doch angenehm berührt zusammen, als sie die Wärme seiner
Hand auf ihrem Gesicht fühlte.
»Und du bist immer noch so verrückt, nehme ich an«,
meinte sie betont spröde, um sich ihre innere Aufgewühltheit
ja nicht anmerken zu lassen.
Er lachte sie an und schüttelte belustigt den Kopf. »Sind
das nicht alle Xendii auf ihre Weise?«
Ohne dass sie sich dagegen wehren konnte - oder wollte -, legte
er sanft die Hand auf ihre Schulter und ging mit ihr in das kleine Stück
Wildgarten.
»Erst kürzlich hat mir Mira von ihrem Besuch bei dir
berichtet. Ich bin froh, dass es dir gut geht. Dir und Melisande.«
»Ja, es geht uns gut. Tigris ist putzmunter.« Wie ihre
Stimme zitterte, als sie diese Lüge über ihre Lippen brachte!
Procyon betrachtete sie noch aufmerksamer und durchdringender als zuvor.
»Tigris. Ja, Mira erwähnte diesen Namen. Gefiel dir der
Name Melisande letztendlich doch nicht?«
»Es ist ihr dritter Name. Eigentlich war ich damals zornig
genug gewesen, um ihn völlig zu verwerfen. Aber da ich dir ja unbedingt
versprechen musste, sie Melisande zu nennen, konnte ich es dann doch nicht
über das Herz bringen. Tigris Aurora Melisande geht es also sehr gut.«
»Das ... ist erfreulich«, sagte er, ohne sie anzusehen,
leise und auf eine derart merkwürdige Art, dass Danubia erschrak,
denn sie spürte einen tiefen Kummer von ihm zu sich herüberwehen.
Schon seit damals konnte sie seine Gefühle so viel besser wahrnehmen
als die jedes anderen Menschen - Tigris eingeschlossen. In der kurzen Zeit
ihrer leidenschaftlichen Beziehung hatte es sogar Momente gegeben, in denen
sie einige seiner Gedanken und Erinnerungsbilder eingefangen hatte; weder
beabsichtigt noch gewollt und doch ein Beweis der tiefen seelischen Verbindung
zwischen ihnen.
»Und ihr seid nicht mehr bei deiner Sippe, wie Mira mir erzählte«,
bohrte er weiter.
Viel zu schnell und ohne ihn anzusehen, antwortete sie: »Nein.
Das ausgerechnet ich für meine Sippe die Bittstellerin spiele, liegt
nur daran, dass ich als einzige einen profanen Pass besitze, wie er in
den Kreisen der Neutralen üblich ist. Ich konnte ja schlecht die Tore
benutzen, um in die Zweigstelle PAGANs in London zu gelangen. Die Allianz
misstraut den Zimberdales über alle Maßen.«
»Nun, dazu haben sie auch gute Gründe. Früher oder
später wird Atlantica aus diesem ignoranten Verbund ausscheren. Das
ist nur eine Frage der Zeit. Viele meiner Sippen können es kaum erwarten.«
»Es war klug von dir, zunächst auf das Stillhalte-Abkommen
einzugehen, trotz dieses Umbriel. Ein offener Krieg zwischen uns wäre
das Letzte, was diese geplagte Welt braucht.«
»Niemand hofft mehr, dass sich das Umbriel-Problem bald löst,
als PAGAN.« Für einen Moment glitt ein finsterer, entschlossener
Ausdruck über sein schönes Gesicht. Doch dann tauchte er aus
seinen offensichtlich dunklen Gedanken auf und sah Danubia wieder mit einem
weichen, liebevollen Blick an, der sie vollkommen aus dem Konzept brachte.
»Sieht sie mir eigentlich ähnlich? Wenigstens ein kleines
bisschen?«, fragte er mit wehmütigem Lächeln, das sie rührte.
Sie betrachtete liebevoll seine Züge und sagte dann: »Ein wenig
schon, ja.« Gleichzeitig erinnerte sie sich, wie besorgt sie vor
Equinox Veris gewesen war, dass jemand im Palais Almacielo eine Verbindung
zwischen Procyon und Tigris herstellen würde. Schließlich trafen
sich dort nur die ranghöchsten Sippen und die Oberhäupter der
Allianz - und sie kannten die Zimberdales nur zu gut. Doch ihr schlechtes
Gedächtnis für Gesichter hatte Danubia getrogen. Schon alleine
Tigris’ Augen waren viel heller als die ihres leiblichen Vaters. Und da
er mittlerweile einen Bart trug, konnte man nicht auf Anhieb die Verwandtschaft
zwischen ihm und seiner Tochter erkennen.
»Tigris...« Procyon grinste mit einem Mal breit. »Ist
das etwa eine Anspielung an unser erstes Treffen in Bagdad bei dieser reizenden
irakischen Sippe, die uns dermaßen verwöhnt hat, dass wir ernsthaft
in Erwägung gezogen hatten, uns von ihnen adoptieren zu lassen?«
Danubia errötete und kicherte dann bei der Erinnerung an dieses
Erlebnis. »Ich bin eben so romantisch. Und Tigris gefiel mir. Tigris
Aurora. Morgenröte am Tigris. Es klingt einfach
wundervoll.«
»Du bist wundervoll. Immer noch...«, gestand er und
Danubia spürte, dass er vollkommen aufrichtig war. Er hatte sie damals
angefleht, nicht zu gehen. Doch es war zu vieles passiert, zu viele hässliche
Gerüchte um seinen leichtfertigen Lebenswandel, zuviel Geheimniskrämerei
um die Art und Weise, wie er seine Tochter vor dem Tod gerettet hatte.
Procyon sah sie auf seine schelmisch-jungenhafte Art an, der sie
noch nie widerstehen konnte.
»Darf ich dich in mein Lieblingscafé hier in Shangri-La
entführen? Unverständlicherweise heißt es ›Da Gaudí‹.«
Er lachte, und Danubia genoss das jugendliche Temperament, das daraus hervorklang.
Sie versuchte dennoch, gegen den reißenden Strom ihrer Gefühle
anzuschwimmen. Wie oft hatte sie an ihn gedacht, wie oft hatte die Sehnsucht
nach ihm und seiner Umarmung ihr Herz gequält... und nun stand sie
ihm wieder gegenüber und nur noch lose Anker der Vernunft hielten
sie davon ab, nicht sofort wieder in seine Arme zu fliegen.
»Wieso nicht? Ich habe ohnehin nichts zu tun als zu warten.«
»Ich habe mich schon persönlich dafür eingesetzt,
dass ihr ein RAM erhaltet. Eure Chancen stehen sehr gut.«
»Tatsächlich?« Danubia sah ihn überrascht
an. Welche Stellung hatte Procyon eigentlich mittlerweile bei PAGAN inne?
Ehrgeizig genug war er schon immer gewesen.
Procyon ließ sie nicht aus seinem geheimnisvollen, zärtlich-wilden
Blick, während er mit einem Mal sanft ihren Rücken mit seiner
Hand berührte. »Der Wahrheit zuliebe muss ich gestehen, dass
auch Mira sich für euch stark macht. Und ihr Wort hat noch größeres
Gewicht als meines, wie du sicher weißt.«
»Ja, sie hat es weit gebracht.«
»PAGAN und die Ideale unserer Gemeinschaft sind unbestritten
ihr Leben.«
Als sie zusammen zurück in die prachtvolle Stadt gingen, schlang
er sogar seinen Arm um ihre Taille - wie er es damals immer gemacht hatte.
Und sie ließ es nicht nur zu, sondern schmiegte sich wie damals
ganz selbstverständlich an ihn. In seinen Armen fühlte sie sich
sicher wie sonst nirgendwo, unverwundbar und vollkommen losgelöst
von der Welt.
.
»Guulin Kherem ist eine alte, schon lange verlassene Burg im
mongolischen Teil der Wüste Gobi. Wir hängen hier oft ab, weil
Shangri-La uns viel zu kitschig ist. Und zu voll.«
Shirooka ging mit Hababai vor den neun Wandlern aus Windwibbenburg
her und führte sie durch die kühlen Gänge aus Lehmziegeln.
Als sie mit dem farbigen Hünen vor wenigen Minuten in Windwibbenburg
aufgetaucht war, hatten sich Bat Furans schlimmste Befürchtungen bewahrheitet:
Lux Livas hatte sie also ausgerechnet in ein Seminar der DiSMasters gesteckt.
Und damit nicht genug: Er hatte es sogar zugelassen, dass sie mit
Hilfe einer merkwürdigen silbernen Scheibe ein illegales Tor mitten
in der Burg errichten konnten, das geradewegs in die tausende Kilometer
entfernte Mongolei führte.
Die Windwibbs fühlten sich überhaupt nicht wohl. Sie waren
diesen Leuten hilflos ausgeliefert und trauten ihnen kein Stück über
den Weg. Einzig Ras Algheti schien ganz aufgekratzt zu sein und stürmte
als erster zu den schmalen, rechteckigen Öffnungen, die ein unglaublich
reines Blau einrahmten: Der wolkenlose Himmel spannte sich gebieterisch
und frei über die gelbbraunen Dünen, die sich am flirrenden Horizont
mit ihm verschmolzen. Sie vermittelten dem Betrachter einen beängstigenden
Eindruck von uraltem, erfolgreichem Widerstand gegen den Menschen und gaben
ihm das Gefühl, umzingelt und belagert zu sein. Der Burgkomplex drängte
sich an den Fuß eines kahlen Bergzugs und bestand aus miteinander
verbundenen, turmähnlichen Lehmquadern verschiedener Größe
mit winzigen Scharten als Fenster. Doch die heftigen Sandstürme, die
heiße Sonne und die eiskalten Nächte hatten schon über
einige von ihnen gesiegt, ihnen klaffende Löcher in die Mauern geschlagen,
die Zinnen abgenagt und ihre Schmuckreliefs glatt gerieben.
Die beiden DiSMasters führten sie durch die labyrinthisch verwinkelte
Burg, bis hallendes Stimmgewirr endlich andere Menschen ankündigte.
Eine Gruppe von etwa zwanzig jungen Leute aus anscheinend allen
Völkern der Erde saß in einem großen Raum, dessen Wände
und Boden mit bunten Wollteppichen geschmückt und ausgelegt waren.
Ebenso farbenfrohe Kissen lagen verstreut herum, von denen sich der eine
oder andere Schüler eins geschnappt hatte, um es bequemer auf dem
Boden zu haben. Tische oder Stühle gab es nicht; das einzige Möbel
war ein schlichtes, naturbelassenes Holzregal voller Steingut-Geschirr
und Essenssachen gegenüber dem Durchgang, aus dem die Windwibbs und
die beiden DiSMasters kamen. Die winzigen Fensterscharten knapp unterhalb
der hohen Decke ließen kaum Sonnenlicht herein, weshalb zahlreiche
Kerzenständer im Raum verteilt standen.
Rosanjin, Volta und Celestine saßen etwas abseits der aufgeregt
miteinander redenden jugendlichen Schüler und ließen sich auch
nicht durch das Eintreffen der Windwibbs weiter in ihrem Gespräch
stören.
Doch die anderen Schüler, gespannt auf jeden weiteren Neuzugang,
rissen erstaunt die Augen auf, als sich Tigris mit den anderen Windwibbs
zu ihnen gesellten, wenngleich sie sich etwas abseits hielten und dicht
zusammenhockten. Man tuschelte und warf ihnen immer wieder fragende Blicke
zu. Aber da sich die neun Neuen ziemlich reserviert gaben und auch keine
ausgesprochen freundliche Miene aufsetzten, hatte niemand Mut, sie in ein
Gespräch zu verwickeln - außer Ras Algheti, der offensichtlich
entschlossen war, das Beste aus dem Seminar zu machen und sogleich die
Leute ringsum nach dem Ablauf fragte.
»Keine Ahnung. Wir machen zum ersten Mal ein Seminar bei Aévon
Zimberdale mit«, meinte einer von ihnen.
»Aévon Zimberdale ist unser Lehrer?«, kreischte
Sienna entsetzt auf, was die anderen Seminarsteilnehmer in Gelächter
ausbrechen ließ.
»Es ist jetzt eh’ zu spät, also blamier uns nicht schon
von Anfang an, Sienna«, knurrte Tigris.
»Sag mal, sind wir die einzigen aus der RSA, oder wie?«,
fragte sich der kleinwüchsige vierzehnjährige Vorias, der einzige
Wandler mit Brille, und spähte über die Köpfe aller hinweg
nach einem bekannten Gesicht.
»Siehst du noch jemanden außer uns, der Overalls trägt?«,
sagte Tigris und wies mit dem Kinn auf die vor ihnen sitzende Mädchen
und Jungs, die wie die jungen Männer im Zelt leichte Baumwollkleidung
in verschiedensten Farben trugen, darunter viele mit bedruckten T-Shirts,
auf denen Sprüche wie ›DiS up your live‹ oder ›Proud to be a Pagan‹
standen.
Mit einem Mal wurde einer der Wandteppiche vor der Gruppe der Schüler
zurückgeschlagen. Aévon kam aus einem Durchgang schwungvoll
herein und baute sich vor ihnen auf. Er trug ein rotes Tuch nach Piratenmanier
auf seinen dunklen Locken, dazu eine weite, helle Hose und präsentierte
ansonsten ungeniert seinen kräftigen, durchtrainierten Körper.
Doch das nahm die Mehrzahl der Windwibbs ohnehin nicht mehr richtig wahr
- beschäftigte sie doch vielmehr sein Gesicht und dessen frappante
Ähnlichkeit mit dem von Tigris.
»Wieso siehst du diesem ... Abtrünnigen so ähnlich?«,
wisperte Dheneb fassungslos.
»Woher soll ich das wissen, ich kenne ihn gar nicht«,
log Tigris schnippisch und wandte sich demonstrativ wieder dem Geschehen
zu, damit niemand mehr weiter darauf herumreiten konnte. Glücklicherweise
begann Aévon auch schon mit seiner Ansprache. Er breitete die Arme
aus und rief ihnen übertrieben weihevoll zu: »Meine lieben Kinder!
Wir sind heute hier zusammengekommen...« Es folgte eine kleine Kunstpause,
in der Aévon andächtig gen Decke schaute und erstes verhaltenes
Gekicher einiger Jugendlicher von PAGAN provozierte. »Damit ich auch
heute wieder viele Leute so richtig schön in den Arsch treten, voller
Genuss anbrüllen und Gewaltphantasien an ihnen zelebrieren kann.«
»Spinner!«, zischte Dheneb leise.
»Und natürlich, damit ich euch an euren Ohren durch den
heißen Wüstenstaub ziehen kann, als Strafe für irgendwelche
unpassenden Kommentare zu meiner Person oder zu den anderen Personen, die
heute eure Lehrer darstellen.«
Dheneb senkte ertappt den roten Schopf und starrte böse auf
ihre Zehen. Natürlich, Aévon besaß durch sein Doppel-Xendium
auch eine gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit, ergo ein besonders gutes
Gehör.
»Zunächst aber möchte ich unsere lieben Freunde
von der RSA begrüßen. Falls ihr mich unverständlicherweise
noch nicht genug hasst, wird sich das im Laufe dieses Tages garantiert
ändern. Was ja auch durchaus im Sinne der Schmusegern-Allianz ist:
Ohne Feindbilder ist das Leben doch nur halb so einfach und schön.«
Tigris musste wider willen still in sich hineinkichern. Obwohl Aévon
schwul war, gehörte er keinesfalls zu jenen theatralischen Geschöpfen,
die einen durch ihre übersteigerte Gestik und Sprechensweise zum Lachen
brachte, sondern vermittelte durchaus den Eindruck eines waschechten Machos.
Soviel Ironie auch in seiner Stimme schwingen mochte - die Schärfe
und Entschlossenheit darin klang für alle überdeutlich hervor.
»Und ich gebe für jeden von euch gerne ein wundervolles
Feindbild ab, solange ihr eurerseits hier alles gebt und euch so richtig
in die Sache hineinkniet. Das erwarte ich von euch. Und vor allem will
ich, dass ihr die Zähne zusammenbeißt und niemals anfangt zu
heulen. Denn ich hasse Heulsusen und Leute, die zwar gerne mit irgendwelchen
Titeln und einem schlechten, coolen Ruf brillieren möchten, aber nicht
bereit sind, dafür bis an ihre Grenzen und darüber hinaus zu
gehen.« Aévons durchdringender Blick erfasste nacheinander
einige Mädchen in den vorderen Reihen, als er weiterredete: »Guulin
Kherem, meine Damen, ist kein lauschiges Café, in dem man herumalbern
und Jungs anbaggern kann. Kaffeekränzchen und Talk-Shows werden von
mir gnadenlos und ziemlich forsch gesprengt.
Und auch ein Wort an die männlichen Individuen und jene, die
glauben, eines zu sein: Wehe, ich erwische einen von euch Muftis dabei,
wenn ihr heulende Weiber tröstet oder grässliche Brandwunden
heile heile pustet! Und nun Näheres zum Tagesablauf.«
Er ließ sich zwischen Rosanjin und Celestine nieder, die mit
einigen anderen DiSMasters bereits entlang der Wand vor den Schülern
saßen.
»Wir haben vier theoretische Blöcke. Der erste schließt
mit einigen Übungen ab, dann folgt eine Pause, in der ihr euch erfrischen,
abknutschen oder sonst was könnt. Danach folgen zwei Blöcke aufeinander,
zwischen denen das Mittagessen liegt. Nach dem dritten Block werden wir
ein kurzweiliges Spielchen spielen, in dem ihr das Gelernte aus den vorhergehenden
Block praktisch anwenden könnt. Nach dem Abendessen folgt die letzte
Theorie-Einheit und ein entsprechender praktischer Teil.« Aévon
ließ seinen Blick über die vor ihm sitzenden Jugendlichen schweifen,
traf die goldbraunen Augen weiter hinten, verweilte einen Moment in ihnen
und fuhr dann zu sprechen fort.
»Und damit keiner behaupten kann, wir wären nicht nett
zu euch, gibt es zum Abschluss eine kleine Überraschung. Apropos:
Ist jemand nicht schwindelfrei?« Aévon sah umher. Einige Finger
gingen zaghaft in die Höhe, darunter die von zwei Windwibbs, nämlich
von Sienna und Vorias.
»Keine Sorge. Ihr dürft euch gerne die Augen und die
Brille vorher verbinden. Und jetzt schicken wir euch in die Wüste!«
Aévon sprang mühelos aus dem Sitzen auf die Beine und hieß
seine Schüler aufzustehen.
Rosanjin und Volta schlugen einen Wandteppich hinter sich zur Seite
und gaben das Tor frei, das verschwommenes Orange und Gelb einrahmte.
Nacheinander traten die Jugendlichen in ein großes Zelt mitten
in der Gobi, dessen Eingang offen stand und hinaus in die Wüste führte.
Aus der kühlen Burg in die Gobi zu gehen, war wie die Tür
eines voll aufgedrehten Backofens aufzumachen und den Kopf hineinzuhalten,
oder besser gesagt: Sich gleich ganz hineinzusetzen.
Nach wenigen Augenblicken lief allen der Schweiß am Körper
herunter.
Sie stellten sich auf Anweisung von Aévon in mehreren Metern
Abstand nebeneinander auf und bekamen von Shirooka und Hababai je einen
kleinen Holzklotz.
Aévon schritt langsam an ihnen vorbei und erklärte mit
lauter Stimme: »Zunächst einmal muss sich jeder von seiner gewohnten
Terminologie verabschieden, sowohl meine lieben Brüder und Schwestern
von PAGAN, aber auch unsere lieben Gäste aus der Allianz. Es gibt
heute kein Aethron, sondern nur noch DiS. Und es wird auch nicht gewandelt,
sondern performt. Allianz-Nebel oder PAGAN-Plasma heißt bei uns schlicht,
aber treffend Spray. Und ihr performt jetzt mit Spray jeder ein hübsches
Schwert oder sonst eine Waffe, mit der man zum Beispiel inkarnierte Daimons
erledigen kann. Man sollte sich nicht mehr darauf verlassen, dass der DiS-Level
ewig unter 9% bleibt. Natürlich kann man auch einen inkarnierten Cherub
mit DiS vernichten. Aber ein sauberer Schnitt mit einer scharfen Klinge
bringt den gleichen Effekt und ist zudem viel befriedigender.«
Und so machte sich jeder daran, Aévons Befehl Folge zu leisten,
den Holzklotz zu levitieren und möglichst genau eine Waffe zu visualisieren,
in die sich hoffentlich der Quader über ihren Handflächen verwandeln
würde.
Die meisten Schüler hatten überhaupt keine Probleme damit,
manche bekamen sogar Edelsteine und phantasievolle Verzierungen auf der
Klinge hin, einige Windwibbs hingegen kriegten überaus unwirsche Kommentare
von Aévon zu hören. Dheneb etwa verschätzte sich in der
Größe und machte aus ihrem Klotz ein Frühstücksmesser
in der Form eines Breitschwertes. Vorias hatte lediglich die Tierfiguren
im Programm, die er in Windwibbenburg gerne herstellte, Bat Furan wiederum
bemühte sich erfolglos um die richtige Konsistenz bei seinem Degen,
weswegen dessen Klinge wie Knete hin- und herschwankte.
»Ein Grillspießchen. Immerhin, Miss Tiggy«, höhnte
Aévon, als er Tigris’ seltsames Werk betrachtete. Dann marschierte
er finster an den Windwibbs entlang und verwandelte ihre eigentümlichen
Kreationen wieder zurück in Holzklötze.
»Mir scheint, ihr habt noch nie ein Schwert oder sonstige
nützliche Dinge jemals ausgiebig betrachtet und visualisiert«,
herrschte er die Windwibbs an. »Als Performer ist es oberstes Gebot,
alle möglichen Gegenstände genau zu betrachten, anzufassen und
sich zu merken, wie sie aussehen und sich anfühlen. Dazu ist jeder
von euch in der Lage. Jeder Performer verfügt über diese außergewöhnliche
Art von Gedächtnis, aus dem er später augenblicklich das Gewünschte
abrufen kann. Und ihr könnt das auch, also fangt endlich damit an.
DiS gehorcht eurem Willen. Aber das Urvertrauen in die Tatsache, dass ihr
das mit DiS machen könnt, was immer euch beliebt, fehlt euch anscheinend.
Ihr dürft niemals darüber nachdenken, ob ihr irgendetwas könnt
oder nicht, ihr müsst es einfach tun. Nicht nachdenken - einfach tun.
Alles klar?«
Aévon nahm etwas Sand auf, warf ihn in die Luft, woraufhin
ein riesiger Krummsäbel genau in seine Rechte fiel. »Einfach
tun, es geht. Ihr könnt das. Ihr seid Performer.«
Er reichte den Säbel als erstes an Tigris, die nicht umhin
kam, Aévons Fähigkeiten zu bewundern, obwohl sie ihn insgeheim
für großspurig und arrogant hielt. Sie schloss konzentriert
die Augen, als ihre Hand an dem Säbel entlang glitt und prägte
sich dann sein Aussehen genau ein.
Als jeder einmal die Waffe in der Hand gehabt hatte, gab Aévon
den Startschuss zum zweiten Anlauf.
Antaris, der stille, engelsgesichtige Blondschopf unter den Windwibbs,
überraschte auf Anhieb vor allem sich selber mit einer fast perfekten
Kopie des Säbels. Das konnte Bat Furan nicht auf sich sitzen lassen
und strengte sich umso verbissener an. Es konnte doch nicht angehen, dass
er, der Tigris so heldenhaft aus den Klauen Excelsiors befreit hatte und
in Windwibbenburg als der Beste Wandler galt, vor einem profanen Schwert
kapitulieren musste.
»Du denkst zuviel! Sei impulsiver!«, brüllte Aévon
ihn an, als seine Waffe immer größer wurde und den jungen Windwibb
beinahe zu erschlagen drohte.
Bat Furan biss die Zähne zusammen und wischte sich mit dem
Arm Blut von der Nase. »Ich muss eine Pause-«
»Keine Pause!«, dröhnte ihm postwendend die zornige
Antwort ins Gesicht. »Mach einfach weiter, dann hört dein Nasenbluten
auch gleich auf. Wenn der Körper auf Performen eingestellt ist, will
er ständig Nachschub an DiS. Jeder Xendi ist im Prinzip nichts weiter
als ein verdammter kleiner DiS-Junkie!« Er warf Bat Furan erneut
den zurückgewandelten Holzklotz zu.
»Ich muss mich übergeben!«, stöhnte Vorias
und sank auf die Knie, wobei seine Brille in den Sand fiel. Doch Aévon
kam sogleich zu ihm gestürmt, zog ihn unsanft hoch auf die Beine und
setzte ihm die Brille wieder auf die Nase. »Niemand kotzt ungestraft
vor meine Füße, Häschen«, fauchte Aévon bedrohlich,
was den schmächtigen Wandler schleunigst seinen Klotz auflesen und
mit einem erneuten Versuch fortfahren ließ. Tigris kochte innerlich
vor Wut. Schon, wie Aévon Bat Furan angefahren hatte, missfiel ihr.
Aber wie er mit dem kleinen, ohnehin unsicheren Vorias umging! Sie hielt
es nicht mehr aus und stampfte zu dem DiSMaster hinüber.
»Sie können nichts dafür, du Sadist!«, schrie
sie Aévon an. »Wir haben nicht vor, wie ihr mordend durch
die Gegend zu rennen und alles umzunieten, das nicht rechtzeitig flüchten
kann. Schwerter, pah! So ein Mist!«
Doch dieser Wutausbruch amüsierte den jungen Zimberdale nur.
»Was glaubt ihr, weswegen euer Oberhaupt euch sonst zu diesem Seminar
geschickt hat? Er weiß nur zu gut, dass ihr euren sippeneigenen Unterricht
vergessen könnt, wenn ihr eines Tages von höchst realen Daimons
oder unsympathischen Xendii angegriffen werden solltet.«
»Der einzige unsympathische Xendi bist du, du Angeber«,
giftete Tigris, was sogar die Jugendlichen von PAGAN erschrocken in ihren
Übungen innehalten ließ.
»Auf eure Sympathien oder Antipathien gebe ich einen Dreck!«,
knurrte Aévon und beugte sich zu Tigris herunter, bis sein Gesicht
ganz nahe an ihrem war. »Ihr seid hier, weil euer Sippenchef sich
eine
Verbesserung eures Könnens erhofft. Es liegt an euch, ihn nicht zu
enttäuschen. Also zurück in die Reihe und weitermachen!«
»Erst wenn du aufhörst, uns fertig zu machen, nur weil
wir nicht von PAGAN sind.«
»Niemand bekommt hier eine Extra-Massage. Zurück, sofort!«
»Du hast mir nichts zu befehlen!«
»Hier und heute sehr wohl!«
Zwischen den beiden honigbraunen Augenpaaren sprühten wütende
Funken.
»Sogar die gleichen Dickschädel habt ihr«, meinte
Hababai erstaunt, als er die beiden Streithähne ausgiebig betrachtete.
»Und auch die gleiche Zornesader an der Schläfe. Jetzt fangen
sie sogar bei euch beiden gleichzeitig an zu pulsieren.«
Schnelle Blicke an die Schläfe des anderen bestätigten
Tigris und Aévon Hababais Beobachtung, bevor sie damit fortfuhren,
sich wütend mit Blicken zu duellieren.
»Woher nimmst du die Unverschämtheit, mit nur höchstens
1,65 m so frech zu sein?«, sagte Aévon, bemüht, weiterhin
ernst und wütend auszusehen, obwohl er am liebsten lauthals gelacht
hätte. Es musste für die anderen köstlich aussehen, dass
dieser kleine Wuschelkopf ihm furchtlos Paroli bot.
»Keine Ahnung. Wut?«, stieß Tigris zwischen den
Zähnen hervor.
»Ach was«, flüsterte er ihr für die anderen
unhörbar zu. »Das ist eindeutig der berühmte Zimberdale'sche
Jähzorn.«
Wortlos wandte sich Tigris ab und marschierte mit gesenktem Kopf
zurück an ihren Platz. Sie war so verwirrt, aber auch wütend,
dass sie gar nicht mehr weiter darüber nachdachte, was sie mit dem
Holzklotz in ihrer Hand anstellte.
»Na bitte. Nicht nachdenken, einfach tun«, sagte Aévon
zu ihr. Sie sah auf - und war erstaunt, dass ein einfaches, aber höchst
real aussehendes Schwert über ihrer Hand schwebte.
Vorias und die anderen Windwibbs probierten ihrerseits unermüdlich
den erfolgreichen Einsatz von Spray und stellten überrascht fest,
dass Aévon recht behalten hatte: Je länger sie fortfuhren,
zu wandeln, desto besser vergingen Übelkeit und Schmerzen.
Die Schüler brachten noch zwei weitere Stunden damit zu, alle
möglichen Gegenstände mit Spray umzuwandeln, einschließlich
die Haarfarbe ihres Partners sowie dessen Kleider. Aévon und die
anderen DiSMasters ließ sich dann von jedem einzelnen Schüler
zeigen, wie gut er den DiS-Nebel intonieren konnte, oder wie Aévon
es im DiSMaster Codex ausdrückte: »Ihr performt jetzt einen
Karaoke Spray. Das ist wichtig für spätere Einsätze unter
Neutralen. Und verschwendet gar nicht erst lange Zeit für einen tollen
Reim, das ist dem Spray ziemlich schnuppe. Ihr könnt den Spray auch
mit einem Kochrezept intonieren, wenn nur eure wahre Absicht dahinter überzeugend
genug ist.«
Gleich darauf gab es sehr viel zu lachen, als jeder seinen Partner
mit dem Karaoke Spray die blödesten Dinge tun ließ. Von den
üblichen Tierimitationen bis hin zu albernen Volkstänzen wurde
nichts ausgelassen. Die DiSMasters machten dabei freudig mit und nicht
einmal Aévon war sich zu schade, von Shirooka zu einem Bauchtanz
›überredet‹ zu werden.
Nach dem ausgiebigen Training mit Spray, dessen Anwendung bei den
Meisten endlich saß, gönnte ihnen Aévon eine halbstündige
Pause in der kühlen Burg. Doch auch während sie sich ausruhten,
spielten die Hände aller Windwibbs mit dem Holzklotz und wandelten
ihn ohne zu überlegen in irgendetwas anderes, Kleines. Niemand hatte
Lust, ausgerechnet in der Pause an den Entzugserscheinungen zu leiden.
Als nächstes ging es mit den Strahlen aus DiS weiter, was von
Shirooka präsentiert wurde. Bat Furan ließ sie keine Sekunde
aus den Augen und gab sich noch nicht einmal Mühe, seine Bewunderung
ein wenig zu tarnen.
»Die nächste Stunde beschäftigen wir uns mit Jets,
Strahlen aus DiS. Später zeigt euch Hababai die Dashes, die Kugeln.«
Shirooka stellte sich in einigen Metern Entfernung längs zu der Schülerreihe.
»Wie ihr alle wisst, gibt es drei Stärken, mit denen
man DiS abschießen kann. Grün ist Easy, Blau ist Nice und Rot
ist Wild, aber wir erwähnen nur Nice oder Wild extra. Ohne diese Zusätze
ist ansonsten immer Easy gemeint.«
Und Aévon ergänzte: »Von Wild lassen wir allerdings
hübsch die Finger in diesem Seminar. Damit haben selbst einige von
uns noch Probleme.«
»Jets benutzen wir für punktgenaue Aktionen«, fuhr
Shirooka fort. »Sie treffen dorthin, wo ihr sie haben wollt, sind
aber nach dem Abschießen nicht mehr beeinflussbar, da sie nicht mehr
mit eurer Hand verbunden sind.«
Sie demonstrierte die Technik, indem sie den Jet mehrere Meter weit
entfernt in den Boden schoss. Nach wenigen Sekunden fuhr er an einer ganz
anderen Stelle wieder heraus und verlor sich in dem grenzenlosen Blau des
Himmels.
»Und wieder ein Vogelleben sinnlos vergeudet...«, meinte
Hababai gespielt geknickt.
»Das war ein Gypsy Jet. Er eignet sich gut zum Verwirren des
Gegners und für Überraschungseffekte. Und das...« Shirooka
ließ blitzschnell einen Strahl in die Schüler rasen, der jedoch
mit ihrer Hand verbunden blieb. Sein anderes Ende wand sich um das Käppi
eines chinesischen Jungen und kam damit zurück zu Shirooka. »Das
ist ein Slave, eine sehr nützliche Form des Jets. Durch seine Lenkfähigkeit
ist er vielseitig verwendbar, denn mit ihm kann man Dinge holen oder fortschleudern,
ihn aber auch wie ein richtiges Seil benutzen. Die andere Form eines Jets,
die sehr hilfreich ist, ist hohl. Wir nennen das Pipe. Und in einen Pipe
passt prima etwas Nettes hinein. Wie etwa verzögerte kleine Dashes
oder Karaoke Spray...«
Shirookas Pipe sauste in den Wüstensand vor ihren Füßen.
Dann schickte sie einen Spray hindurch, der den Sand zu Glas schmelzen
ließ.
»Wir können bei Jets, Slaves und Pipes die Geschwindigkeit
bestimmen. Dies wäre ein Shy Slave.« Der abgeschossene Strahl
bewegte sich langsamer als die anderen vorher gezeigten Jets. »Man
benutzt ihn zum Beispiel, wenn man sich noch nicht ganz schlüssig
ist, was man als nächstes tun möchte. Im Gegensatz dazu kann
man natürlich superschnelle Jets erzeugen. Ich zeige euch den Porsche
Jet.«
Der nächste Strahl, den Shirooka vor ihren Augen in die Wüste
feuerte, war so schnell fort, dass sie ihn zweimal wiederholen musste.
»Für den Fall, dass man mehreren Gegnern gegenüber
steht, gibt es auch noch eine schöne Technik: Jet Party.«
Dieser Strahl, von Shirooka in die endlose Wüste hinausgeschossen,
teilte sich nach einigen Metern, und jene Enden teilten sich wieder und
wieder, bis der Jet im Sand verschwand.
»Und viele Techniken lassen sich kombinieren. Hier hätten
wir einen hohlen Strahl mit Spray-Füllung, der sich kurz vor dem Auftreffen
teilen wird, oder wie wir sagen: Spray Pipe Party.«
Als Versuchskaninchen mussten diesmal Bat Furan und Ras Algheti
herhalten. Sie sahen ihn noch nicht einmal heranrasen, da teilte er sich
bereits, fuhr mit beiden Enden in ihre Brust und ließ die obersten
Knöpfe ihrer Overalls zu zwei gelben Puschel werden, was natürlich
erneut für Gelächter sorgte.
»Der Schwachpunkt eines Pipe ist die Gefahr der Rückkopplung,
wenn ihr ihn mit einem Slave kombiniert: Der Feind kann seinerseits etwas
durch euren Slave Pipe hindurchschicken und euch vernichten und ist daher
mit Vorsicht zu genießen.«
Nach der Demonstration mussten alle Schüler die Techniken selber
ausprobieren. Und wer sich zögerlich zeigte oder jämmerlich versagte,
wie etwa Sienna, aber auch Tigris, der bekam entweder spöttische Kommentare
von Shirooka oder Volta zu hören oder wurde gleich mit Windstärke
10 von Aévon angeraunzt.
Ras Algheti ging hingegen völlig darin auf, durch die Wüste
zu rennen und ungezügelt umher zu
schießen, was in den Wäldern Windwibbenburgs oder in der kleinen
Fabrik überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Aber auch Antaris
brillierte wieder einmal und überraschte am meisten sich selber mit
seinen ungeahnten Fähigkeiten. Wacker schlugen sich ebenfalls die
burschikose Dheneb und Arktur, aber auch die temperamentvolle, zickige
Rhenèlle.
»Free your mind, Mann!«, brüllte Aévon Bat
Furan an, obwohl dessen Pipes und Slaves einwandfrei aussahen.
»Mein mind ist free!«, schrie Bat Furan mit einem Mörderblick
zurück. Sein Hass auf den arroganten DiSMaster nahm beinahe schmerzhafte
Ausmaße an.
»Ach ja? Du bist zu langsam, weil du immer noch zuviel nachdenkst.
Los, greif mich an. Und wenn du gewinnst, darfst du mich für immer
›Yvonne‹ nennen. Ich will mehr Temperament bei dir sehen. Du kannst viel
besser sein. Machen - nicht überlegen.«
Provozierend stellte er sich in einigen Schritt Entfernung vor Bat
Furan auf.
Dieser starrte Aévon schwer atmend an.
»Los, schieß schon, irgendetwas. Was ist, kleiner Schnuckelhase?«
Aévon wackelte anzüglich mit den Hüften.
Und das war zuviel für Bat Furan. Mit einem wütenden Gebrüll
feuerte er eine Nice Porsche Jet auf Aévon, der wirkungslos von
dem blauen Gespinst absorbiert wurde, in das Aévon augenblicklich
seine Hand hüllte und dabei auch noch lachte. Doch schon im nächsten
Moment riss er Bat Furan mit einem Slave von den Füßen. Es folgte
eine Antwort in Form einer grünen Kugel, die haarscharf an Aévons
Schulter vorbeizischte.
»Hey, wir sind noch nicht bei Dashes und Frills!«, protestierte
Hababai, der wie die anderen gebannt dem Zweikampf von Bat Furan und Aévon
folgte.
Windwibbenburgs hochgewachsener Wandler schoss mit unglaublicher
Wut, traf Aévon jedoch nie. Weder Gypsy Jets noch Slave Party konnten
dem jungen Zimberdale etwas anhaben, denn viel zu schnell wich er aus oder
sprang hoch in die Luft, hüllte sich rechtzeitig in einen Schild oder
streckte auch nur eine schildbewehrte Hand aus, um die Strahlen, die ihm
um die Ohren flogen, mühelos einzufangen oder fortzuschlagen. Selbst
mit den Füßen konnte er die Strahlen und DiS-Peitschen problemlos
abwehren.
Nach einigen Minuten war Bat Furan vollkommen erschöpft und
ließ sich in den Sand fallen, völlig außer Atem und klatschnass
geschwitzt.
»Schon viel besser«, lachte Aévon. »Warum
hören die meisten erst im Zorn auf, über ihre Schüsse nachzudenken?
Du bist wirklich gut. Ein Monat bei uns - und du könntest problemlos
DiSMaster Global bei den DiSMaster Tournaments schaffen. Welch ein Talent
- und es verrottet bei der Allianz. Das tut mir in der Seele weh.«
»Danke für die Blumen«, grummelte Bat Furan, dessen
Wut sich mit jedem Schuss verschlissen hatte. »Aber wir werden niemals
zu euch gehören. Allianz forever.«
»Fragt sich nur, wie lange forever noch dauert«, entgegnete
Aévon spöttisch und wies die anderen Schüler dann an,
noch ein paar Minuten mit den Jet-Arten weiterzumachen, bevor sie hinüber
in die Burg gehen würden, um endlich etwas Stärkendes zu essen.
Die einstündige Mittagspause über waren die Schüler
alleine in dem kerzenerleuchteten Raum von Guulin Kherem, während
ihre Lehrer etwas von ›Trainingsstrecken präparieren‹ als Grund für
ihre Abwesenheiten nannten.
»Kann es sein, dass irgendetwas in dem Wasser ist?«,
fragte Vorias befremdet, weil sein Glas leicht grünlich glühte.
»Natürlich ist das Wasser mit DiS angereichert«,
erklärte ein stämmiges russisches Mädchen seelenruhig. »Man
hat ja nicht immer Lust oder Zeit, kleine Dinge in seiner Hand zu wandeln,
damit einem nicht schlecht wird. Wir haben uns schon vorhin gewundert,
wie ausdauernd eure Finger beschäftigt waren.«
Vorias schrak vor dem Wasserglas zurück und betrachtete es
unglücklich.
»Mir gefällt es gar nicht hier«, murmelte er. »Und
diese Typen sind wahnsinnig. Wieso hat uns Lux Livas hierher geschickt?«
Dheneb strich ihm tröstend über den Rücken. »Ja,
sie sind wirklich durchgeknallt. Aber du musst doch zugeben, dass wir jetzt
schon Dinge gelernt haben, die noch nicht einmal Lux Montana für möglich
halten würde.«
Tigris sah ihre acht Kameraden ernst an. Dann begann sie leise von
Lux Livas' Verdacht gegenüber einigen Xendii der Allianz zu erzählen.
»Aber das kann doch gar nicht sein. Wir in der Allianz halten
alle zusammen«, entgegnete Bat Furan.
»Wir in Windwibbenburg halten zusammen«, widersprach
Tigris. »Notfalls gegen die Allianz selber. Das war doch schon immer
so. Und vergiss nicht, dass Ember diesen Umbriel für gefährlich
genug hält. Ich wette, Lux Livas hat ihn auch schon einmal predigen
hören und gleich gewittert, worauf es hinausläuft. Auch wenn
die Allianz und PAGAN andere Ansichten haben, sind wir doch alle letztendlich
Xendii. Und wir dürfen uns niemals gegenseitig abschlachten. Damit
würden wir den üblen Daimons in die Hände spielen.«
»Ich verstehe Ember einfach nicht«, seufzte Bat Furan
missmutig. »Bei uns war es doch eigentlich ziemlich locker. Wieso
findet er die Abtrünnigen besser als uns?«
Sienna lächelte spitzbübisch, als sie antwortete: »Ich
denke, er hat sich in ein Mädchen von dort verliebt. Ich habe ihn
vor ein paar Tagen oben in der Bibliothek dabei ertappt, wie er ein Herz
und einen Namen auf die beschlagenen Scheiben gemalt hat. Er hat es schnell
fortgewischt, als ich hereinkam. Aber ich konnte noch die Anfangsbuchstaben
erkennen: SA.«
»Savanni!«, entfuhr es Tigris. »Er hat doch letzten
Monat ein PAGAN-Seminar für Seher mitgemacht, und diese Savanni war
seine Lehrerin. Er war ziemlich begeistert von ihr. Ach, deswegen kam er
mir schon die ganze Zeit so verträumt und verpeilt vor.«
Nach dem kräftigenden Schweinebraten mit Bratkartoffeln und
einem zuckersüßen Schokomousse ging es sofort weiter mit Hababais
Block der Dashes.
»Dashes, einzelne Schüsse aus DiS, sind wirklich flexibel
in der Form. Scheibenförmige heißen Ufos. Sie eignen sich prima
dazu, Jets zu kappen, vor allem wenn sie dabei rotieren. Ich liebe Ufos
on wheels!« Der schwarze Hüne feuerte eine grüne rotierende
Scheibe zur Veranschaulichung los. Danach flogen winzige Punkte durch die
Wüste. »Das waren Moskitos. Solange ihr die Dashes klein haltet,
könnt ihr einen ganzen Schwarm erzeugen, eine ganze Moskito Party
also.«
Als nächstes wuchs aus Hababais Rechten eine ballgroße
Blase.
»Und wie auch bei den Pipes gibt es gefüllte Dashes.
Dazu erzeugt man eine hohle Sphäre und schon hat man einen Turkey.
Damit kann man die Daimons reich beschenken. Einfach Karaoke Spray hineinpacken,
oder eine Moskito Party... was immer auch nützlich erscheint. Denn
das Problem mit einem Spray ist ja seine geringe Reichweite. Schickt man
ihn jedoch durch einen Pipe oder verpackt ihn in einen Turkey, sieht das
gleich ganz anders aus.«
Bis in die späten Nachmittagsstunden wurden die Dashes trainiert,
bis vor allem den Windwibbs schon die Ohren von den merkwürdigen Bezeichnungen
klingelten. Good Gypsy Karaoke Dash? Porsche Pinball Moskito Party? Nach
einiger Zeit jedoch dachten fast alle nicht mehr über die Terminologie
nach und schossen auf Befehl jede gewünschte Form und in jeder verlangten
Kombination, dafür sorgten schon alleine Aévons strenge Blicke.
Und mochte er auch sehr viel kritisieren und herumbrüllen - er gab
unermüdlich Tipps und Hilfestellungen und ruhte nicht eher, bis auch
Vorias zumindest einigermaßen jede Technik und Form beherrschte.
»Gut, dann wollen wir jetzt mal das nette Spiel spielen«,
kündigte er nach einer viertelstündigen Pause plötzlich
an und winkte die Gruppe hinter sich her.
.
»Fürchtet ihr euch denn gar nicht vor ihnen?«, fragte
Danubia, nachdem ein daimonischer Kellner mit dem Gesicht von Clark Gable
ihre Teetassen gebracht oder besser gesagt, vor sich her levitiert hatte.
Auch am schneeweißen Piano des Cafés saß ein Daimon
in der Gestalt eines dicken farbigen Musikers und spielte ohne die Tasten
zu berühren ›The Lady is a Tramp‹.
»Nein, wieso sollten wir?« Procyon schmunzelte. »Sie
sind genauso gut oder schlecht wie wir Menschen. Mein Diener Bloomsworth
etwa lebt schon mit kurzen Unterbrechungen seit Jahrhunderten in England.
Er weiß viele köstliche Anekdoten aus dem Buckingham Palace
zu berichten.«
»Ich fürchte mich trotzdem vor ihnen«, erklärte
Danubia leise.
Procyon legte seine Hand auf die ihre. »Das brauchst du nicht,
Danu. Erst recht nicht mit mir an deiner Seite. Es hat mich unendlich traurig
gemacht, dass du damals wieder zurück in die Allianz gegangen bist.«
»Ich bin nach Windwibbenburg zurückgegangen, Procyon.
Heimgekehrt zu Leuten, die trotz allem zu mir gestanden und mich beschützt
haben. Selbst als ich Livas vor einigen Wochen die Wahrheit über Tigris’
Vater gestanden habe, dachte er keine Sekunde daran, uns an die Allianz
zu verraten. Er ist ein treuer Freund.«
»Ich war dir auch treu, Danubia. Alle Fehler, die ich in meinem
Leben gemacht habe, sind passiert, bevor ich dich getroffen habe.«
Der Schmerz in seinen Augen war vollkommen echt, wie Danubia erschrocken
feststellte.
»Es waren ja nicht nur deine Fehler«, erklärte
sie daraufhin sanft. »Ein Kind hat immer zwei Elternteile. Auch ich
war damals unvorsichtig und sorglos. Dafür hätte Tigris fast
mit ihrem Leben gebüßt. Aber du hast sie gerettet. Niemals werde
ich das vergessen. Und eines Tages möchte ich ihr die Wahrheit sagen.
Sie kann stolz auf dich sein.«
Procyon schwieg und sah stattdessen mit zusammengezogenen Brauen
in seine Teetasse. Und wieder fühlte Danubia eine Welle aus Schuldgefühlen
und Gram über sich kommen, die von ihm ausging.
Bei seinen nächsten Worten erstarrte Danubia. »Wahrscheinlich
weiß sie die Wahrheit schon. Mira sagte mir, ihr wäret nicht
mehr bei eurer Sippe. Doch Aévon, mein Sohn, hat sie an Equinox
Veris in Tokio getroffen. Er wollte eine Erklärung dafür, wieso
Tigris und er sich so überaus ähnlich sehen. Da er auch Seher
ist, war es zwecklos, ihn anzulügen.«
Danubia lief es heiß und kalt über den Rücken. Auf
der großen weiten Welt hatte ihre Tochter ausgerechnet einen der
Nachkommen Procyons getroffen. Nachkommen, von denen sie erst nach Tigris’
Geburt erfahren hatte - für sie damals ein Beweis für Procyons
unverantwortlicher Leichtlebigkeit, die ihm schon seit seiner Jugend nachgesagt
wurde.
»Aévon. Ich habe von ihm gehört, ihn jedoch nie
gesehen. Hat ihn nicht eine mongolische Sippe adoptiert?«
»Es blieb mir keine andere Wahl. Die Allianz bestand darauf,
ihn in ihr Sonderausbildungslager zu stecken und ich weigerte mich. Daraufhin
drohte man mir mit einem Prozess und dem Todesurteil für uns beide.«
»Adoption durch Sippen im Gebiet von PAGAN. Wie man sich erzählt,
hast du dadurch fünf weiteren Kindern von dir das Todesurteil erspart.«
»Das Todesurteil der Allianz schon.« Procyons
Stimme zitterte unüberhörbar, als er weitersprach: »Aber
nicht dem Todesurteil von Doppel- und Verstärktem Xendium. Bis auf
Aévon sind schon alle tot. Und nach Melisande, nach Tigris habe
ich mir geschworen, nie wieder ein Kind mit einer Xendi auf die Welt zu
setzen. Bisher konnte ich meinen Schwur halten.«
»Und Aévon sieht aus wie Tigris? Oh mein Gott... hoffentlich
hat sie niemand in Barcelona erkannt«, entfuhr es Danubia, die zu
spät merkte, dass sie schon zuviel verraten hatte.
»Anscheinend, denn Aévon war wirklich aufgebracht.
Wir haben ohnehin kein herzliches Verhältnis zueinander. Er hasst
mich.« Procyon versuchte mit einem ironischen Grinsen das schreckliche
Bekenntnis zu überspielen, obwohl es gegenüber Danubia nutzlos
war. Es schmerzte ihn in Wahrheit über alle Maßen.
»Tigris würde dich nicht hassen. Schon gar nicht, weil
sie weiß, dass du sie damals vor dem Tod gerettet hast. Wenn es eines
ist, das ich sicher weiß, dann das.«
Doch Procyon schüttelte schweigend den Kopf.
Etwas war da in seinem Herzen, das einem dunklen Abgrund glich.
Danubia schloss die Augen. Ein Bild blitzte in ihr auf.
Ein Baby lag bleich und apathisch in seinem Bettchen.
›Bist du sicher, mein Lieber?‹, fragte jemand, der nicht sichtbar
war. Seine Stimme war sanft, leicht kratzig, wie die eines Greises.
›Ja.‹, hörte sie Procyons Stimme sagen. ›Danubia würde
ihren Tod niemals verkraften. Und ich kann es nicht verkraften, sie noch
länger in diesem verzweifelten Zustand zu sehen. Wird alles gut, nachdem...?‹
›Ja, es ist vollkommen sicher. Sie ist so eine gute Seele, voller
Güte und Mut. Niemand wird es überhaupt bemerken, sei ohne Angst.‹
War es wirklich Procyons Erinnerung oder nur ein Trugbild?
»Du willst immer noch nicht darüber reden, was du mit
ihr gemacht hast, als du dich mit ihr in ihr Kinderzimmer eingeschlossen
hast, nehme ich an.«
»Ich habe es geschworen, Danu. Ich kann niemandem davon erzählen.
Manchmal kommt es mir vor wie ein Alptraum.«
»Aber du hast sie vor dem Tode bewahrt! Das ist ein Grund,
stolz zu sein und sich zu freuen.« Danubia war für einen Moment
versucht, ihm von dem Amulett zu berichten. Dann jedoch überlegte
sie es sich anders. Stattdessen gestand sie endlich leise: »Auch
wenn das Xendium letztendlich doch bei ihr ausgebrochen ist... sie lebt.«
»Eigentlich hätte es nicht passieren dürfen«,
erwiderte Procyon müde. »Man hat mir versichert, sie würde
das Leben einer Neutralen führen können.«
»Man? Also war doch jemand mit in ihrem Zimmer. Du hast es
immer geleugnet.« Danubia dachte an die kurze Vision von vorhin zurück.
In diesem Moment ertönte von draußen ein leises Hornsignal,
das augenblicklich alle müßigen Xendii erschrocken von den Plätzen
aufspringen ließ.
»Ein Zwischenfall in der Node!«, rief Procyon und legte
Danubia für einen Moment mit ernstem Gesicht die Hände auf die
schmalen Schultern. »Rühr dich nicht von der Stelle und bleib
hier, bis ich wiederkomme.«
Und schon eilte er mit anderen Wandlern und Rufern aus dem Café,
um in das nächstbeste Tor zur nahe gelegenen Asiatischen Node zu rennen.
Nur noch wenige Xendii hatten sich mit besorgten Gesichtern wieder
auf ihre Stühle gesetzt. Ansonsten überwogen die Daimons im ›Da
Gaudí‹. Der Pianist zuckte mit den Schultern und spielte ›In the
Mood‹, während einige daimonische Kellner und Kellnerinnen miteinander
tuschelten.
Danubia fröstelte und schnappte sich die Getränkekarte,
um wenigstens etwas zu haben, an dem sie sich festhalten konnte.
Die Tür des Cafés flog plötzlich auf und machte
die Bahn frei für eine schrille Gestalt, die erst durch das halbe
Lokal sauste, etliche Stühle und Tische umwarf, bis sie endlich durch
die Gruppe der Kellner-Daimons fegte und von ihnen ›aufgefangen‹ wurde.
Sie hatte eine große, dicke Frauengestalt angenommen und war
in einem schreiend orangen Pilotenoverall gekleidet - wenn man das überhaupt
so sagen konnte.
»Dreizehn Tote, neunzehn Schwerverletzte, vierzehn Leichtverletzte,
einundzwanzig Unverletzte!«, rief der Daimon, an die wenigen Xendii
im Raum gewandt. »Die Allianz hat eine bekannte französische
Sippe aufgelöst. Im wahrsten Sinne des Wortes. Mont Tonc ist Geschichte.«
Mont Tonc! Danubia riss die Augen auf. Sie kannte einige Mitglieder
dieser bedeutsamen Sippe in Paris flüchtig. Von allen Sippen hätte
sie gerade Mont Tonc niemals in Verbindung mit den Abtrünnigen gebracht.
Sie galten als absolut loyal und integer.
Dreizehn Tote! Umgebracht von jenen, die sich für ehrbarer
und den Abtrünnigen moralisch überlegener hielten. Was für
eine kranke Denkweise stand hinter den vermehrten Sippendurchsuchungen
und Auflösungen?
Erst jetzt verstand sie die Besorgnis ihres eigenen Sippenobersten
wirklich.
›Ich kann hier nicht untätig herumsitzen!‹, dachte sie und
stürmte entgegen Procyons Bitte aus dem Café in Richtung eines
zwölfstöckigen Gebäudes mit sonnengelber Fassade, dem Krankenhaus
von Shangri-La.
Wie nicht anders zu erwarten, hatten sich die Ärzte und Krankenschwestern
bereits auf den Notfall eingerichtet, wie Danubia bemerkte, als sie hinauf
in die obersten Etagen fuhr, in denen die Intensiv-Stationen lagen.
»Danubia!«
Überrascht fuhr die Seherin um. Mira kam mit einer Gruppe Xendi-Ärzte
mit eiligen Schritten aus einem Aufzug in die Station.
»Ich habe gehört, dass es Verletzte gibt. Kann ich irgendetwas
tun? Es ist zwar schon lange her, aber ich denke, einiges weiß ich
noch von dem Kurs, den wir beide in Johannesburg mitgemacht haben.«
Mira strich ihr dankbar über die Wange. »Wir könnten
wirklich noch Hilfe gebrauchen. Es sind viele Kinder unter den Verletzten...«
Erschüttert wischte sich Danubia über die Augen. »Aber
warum? Und wieso so brutal?«
»Die Eskalation war abzusehen, Danubia. Jeder, der offen Kritik
an Umbriel und seinem Aufruf zur Katharsis wagt, ist nicht mehr vor Übergriffen
sicher. Gott sei Dank standen wir schon seit einigen Wochen mit Mont Tonc
in Verbindung und haben in ihrem Haus ein Tor in die Asiatische Node errichtet.
Nur deswegen hat es nicht mehr Tote gegeben.«
»Ist Procyon noch in der Node?«
»Er ist in Paris und kämpft an der Seite der Mont Toncs
gegen die Truppen der RSA.«
Die Seherin erbleichte.
Doch dann blieb keine Zeit mehr, sich um Procyon Sorgen zu machen:
Weitere Aufzugtüren gingen auf und schoben eilig die ersten Krankenbahren
hinein. Auf ihnen lagen blutüberströmte, grausam zugerichtete
Menschen, zwei davon noch klein und umso entsetzlicher anzuschauen.
»Sie haben sie verbrannt!«, schrie Danubia fassungslos
auf und begann zu zittern.
»Wenn wir sie stabilisieren können, werden wir sie in
den DiS-Tank legen«, sagte Mira und drückte Danubia kurz an
sich. »Damit können wir mittlerweile Verbrennungen sehr gut
heilen. Die seelischen Wunden allerdings...«
Zusammen gingen sie in den Operationssaal, wohin man das Jüngste
der Sippe Mont Tonc gebracht hatte, ein gerade drei Jahre altes Mädchen.
.
In einiger Entfernung hatten die DiSMaster in der Mittagspause ein
großes Spielfeld präpariert, indem sie den Sand auf einer Fläche
von rund zwanzig mal dreißig Metern zu einem harten Boden gewandelt
hatten. Rings um das Feld waren in regelmäßigen Abständen
grünglühende Turkeys verteilt worden, in denen kleine Blitze
durcheinander wimmelten.
»Als erstes bildet ihr zwei Mannschaften. Wir spielen jetzt
eine Art Wasserball.«
Vereinzeltes Aufstöhnen bezeugte, dass dieses Spiel nicht gerade
großen Anklang bei einigen Schülern fand.
»Könnt ihr euch nicht mal irgendein anderes gemeines
Spiel ausdenken?«, fragte daraufhin Anapurna genervt. Sie stammte
aus einer indischen Sippe und hatte die größten dunklen Augen,
die Tigris jemals bei einem Menschen gesehen hatte. Und sie hatte schon
drei Seminare bei den DiSMasters mitgemacht.
»Das ist doch nicht gemein, sondern höchstens ungemein.
Erfrischend, nämlich. Und schließlich wollen wir doch nicht
ungeduscht zum Abendessen erscheinen, oder, Ana?«, ertönte daraufhin
noch einmal Aévons Stimme. »Volta wird einer Mannschaft einen
Turkey zuwerfen, der mit Spray gefüllt ist und sich zu eiskaltem Wasser
wandelt, sollte der Turkey zerplatzen. Ihr müsst also alles daran
setzen, das Ding fort zu schießen, bevor es eure Köpfe oder
sonstige Körperstellen trifft. Sinnvoll wäre es, wenn ihr die
Sphäre so geschickt in die feindliche Mannschaft rasen lasst, dass
sie einen der gegnerischen Spieler trifft. Wer nass ist, muss natürlich
das Spielfeld verlassen. Regeln: keine, außer dass ihr das Spielfeld
nicht übertreten dürft, weil euch sonst ein kleiner Elektroschock
schlagartig daran erinnern wird. Dafür sind die vielen hübschen
Elektro Turkeys am Spielrand da.«
»Ihr könnt also eure gesamte Trickkiste auspacken«,
lachte Volta und seine blauen Augen leuchteten schon vor Vorfreude. »Egal,
wie oder was ihr macht: Hauptsache, nicht ihr werdet getroffen, sondern
die Gegenseite. Aber bitte nur alles im Easy Modus, also mit niederenergetischem
DiS.«
»Und ich und Rosanjin holen schon einmal das Bier und die
Chips«, schloss Hababai. »Was ist schon ein Fußball-Match
im Fernsehen, wenn man live dabei zusehen kann, wie Leute quieken und
fluchen?«
Es wurde ein hartes, verbissenes Spiel.
Tigris, Bat Furan, Vorias und Dheneb kamen in dieselbe Gruppe, in
der auch Anapurna war und ihnen Tipps gab, wie man die Sphäre am besten
von sich in die gegnerische Mannschaft schleudern konnte, ohne selber einen
Guss abzukriegen.
»Passt gut vor Ying He auf, sie hat es echt gut drauf mit
Slaves, wie ihr ja beim Training mitbekommen habt. Wenn sie den Turkey
damit zu dir schießt, hast du gar keine Chance, ihm auszuweichen.«
Aber zu weiteren Ratschlägen blieb keine Zeit mehr, als der
Anpfiff gegeben wurde und gleich darauf die Hölle losbrach. Ehe sich
Tigris versah, flogen ihr grünglühende Peitschen aus DiS von
allen Seiten um die Ohren. Plötzlich aus dem Boden schnellende Strahlen,
flache glühende Scheiben, winzige mückengleiche Energiepunkte
- es gab anscheinend keine Form, die nicht dazu verwendet wurde, den Turkey
mit dem verhassten Spray von sich fortzuschießen und sie in die Reihen
der Gegner zu katapultieren. Die Chinesin namens Ying He erwies sich dabei
als besonders erfolgreich. Sie konnte tatsächlich meisterhaft mit
den DiS-Peitschen umgehen, mit denen sie den ›Ball‹ in jede gewünschte
Richtung dirigierte.
Bat Furan entging in letzter Sekunde ihrem Angriff, indem er Ufo
on wheels von sich schleuderte, die den Strahl zwar nicht durchschneiden
konnten, ihn aber von seinem Kopf ablenkten.
Im Fünf-Minuten-Takt zerschellte der Turkey an einem der Spieler
und übergoss ihn mit eisigem Wasser, woraufhin Volta sogleich einen
neuen Ball ins Spielfeld warf.
Nach einer dreiviertel Stunde hatte sich das Spielfeld ziemlich
gelichtet; nur noch sechs Leute in Tigris' Mannschaft und neun Leute auf
der Gegenseite waren übrig geblieben.
Obwohl Tigris schweißgebadet war und ihr schon die Beine von
dem ganzen Herumgerenne und den Schleuderbewegungen mit den Händen
wehtaten, kämpfte sie verbissen weiter an der Seite von Bat Furan
und Anapurna. Vorias war der erste gewesen, den es in ihrer Mannschaft
erwischt hatte, aber er sah unverkennbar glücklich darüber aus.
Als nächstes wurde Anapurna geduscht, während Bat Furan
offenbar immer mehr Gefallen an Ufos fand und gleich nach Anapurnas Ausscheiden
mit einer großen, schnell fortschießenden Scheibe den Turkey
zu einem Angolaner dirigierte. Tigris wiederum hatte anscheinend wieder
einmal an etwas Nettes und Weiches gedacht, denn als ihr eigener Turkey
den Wasserball aufs gegnerische Spielfeld zurückdrängte, entlud
sich plötzlich eine Ladung Marsh Mellows aus ihm, die auf einen verdutzten
Japaner hernieder regneten und auch den Spielball mit hinunterrissen.
Revanche für diesen schmählichen Abgang kam wieder einmal
von Ying He, die mit einem Pipe dafür sorgte, dass nach drei Minuten
das Aus für Tigris kam. Ein rasend schneller Porsche Dash schoss aus
der Pipe der Chinesin und schleuderten den Spielball geradewegs in Tigris’
Gesicht.
Dann gab es nur noch Bat Furan und auf der anderen Seite Ying He
und den äußerst gewandten Zamoum aus einer nigerianischen Sippe
PAGANs.
»Dieser Allianz-Junge ist wirklich phänomenal«,
hörte Tigris Aévon zu Shirooka und Volta sagen.
»Ying He und Zamoum kannten schon das Meiste von dem, was
wir heute trainiert haben. Aber er? Er lernt schnell und hat unglaublichen
Kampfgeist.«
»Und er sieht auch noch gut aus«, ergänzte Rosanjin
süffisant.
»Ich glaube, für dieses Kompliment würde er dich
umbringen, Koibito no. Wenn er könnte.« Aévon zog seinen
Geliebten zu sich und gab ihm einen kurzen zärtlichen Kuss auf den
Mund.
Unglücklicherweise sah Bat Furan in diesem Moment zu ihnen
und war für zwei Sekunden vor Empörung abgelenkt genug, um den
Gypsy Jet nicht rechtzeitig zu bemerken, den Zamoum abschoss. Als er vor
seinen Füßen aus dem Boden schnellte und den Turkey genau über
ihm zum Platzen brachte, war das Match entschieden.
»Gewinner ist das Team von Ying He!« verkündete
Volta daraufhin, woraufhin all jene hinter Tigris jubelten, die in dem
Team der Chinesin gewesen waren.
Nach dem Spiel folgte eine halbstündige Pause, dann begann
der letzte Block.
»Das Seminar ist absolut kein Zuckerschlecken, das steht fest«,
grummelte der triefend nasse Bat Furan, als sich die Windwibbs vor dem
Zelt versammelt hatten. »Und ich könnte es sogar genießen,
wenn die Sitten hier nicht so locker wären.« Er schnaubte noch
einmal kurz auf und trank dann geradezu gierig seine Wasserflasche fast
aus.
»Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass du ziemlich
unlocker bist«, sagte jemand hinter ihnen. Aévon war so plötzlich
aufgetaucht, dass Bat Furan sich verschluckte und einen Hustenanfall bekam.
Erschrocken wandten die Windwibbs sich nach ihm um. Er war nur wenig größer
als ihr hochgewachsener Wandler, sah jedoch im Gegensatz zu Bat Furan ausgesprochen
frisch und durchtrainiert aus. Anscheinend waren Magersucht, Augenringe
und ein blasser Teint kein unabänderliches Schicksal, wenn man einmal
herausgefunden hatte, wie man die üblen ›Entzugserscheinungen‹ umgehen
konnte.
Sein durchdringender forschender Blick hielt Tigris fest, während
er gewohnt ironisch sagte: »Ihr schlagt euch ganz gut. Euer Häuptling
wird zufrieden sein.«
»Und nur für Windwibbenburg lohnt sich die Anstrengung.
Auf eure Komplimente können wir verzichten«, entgegnete Bat
Furan, der immer noch wütend auf die ungenierte Zurschaustellung schwuler
Liebesbekundungen von vorhin war.
»Wir machen nie Komplimente, sondern stellen nur Tatsachen
fest. Und wer weiß? Vielleicht folgen noch weitere lehrreiche Seminare
in unserer bescheidenen Hütte?« Aévon lachte und ging
ins Zelt.
»Hoffentlich nicht«, murmelte Sienna, die mit den ganzen
aggressiven Kampftechniken überhaupt nichts anfangen konnte und sich
nichts sehnlicher wünschte, als dass der Tag recht bald vorüberging.
»Ich finde das Herumgeschieße auch doof«, erklärte
auch Vorias. »Und ich werde Lux Livas bitten, mich nie wieder auf
ein Abtrünnigen-Seminar zu schicken. Ich will das nicht mehr und ich
hasse diese Leute.«
»Na ja, hassen tue ich sie eigentlich nicht«, gestand
Dheneb. »Sie haben wirklich was auf dem Kasten und sind komischerweise
auch noch so freundlich, es uns beizubringen. Haben sie keine Angst, dass
die Allianz dadurch stärker wird? Wir sind doch bestimmt nicht die
ersten, die so ein Seminar mitmachen.«
Tigris sah nachdenklich auf ihre Zehenspitzen. »Vielleicht
sollten wir aufhören, sie als Feinde zu betrachten. Lux Livas vertraut
ihnen anscheinend inzwischen mehr als unserer Domén Arx. Wer weiß,
wo das alles noch enden wird...«
Nach dem Abendbrot folgte auch schon der letzte Block mit den Abwehr-Techniken.
Volta erläuterte ihnen dazu: »Es gibt partielle Schilde,
so genannte Frills, die lediglich die Hände bis zum Oberarm oder die
Füße schützen und die Cages, die den ganzen Körper
bedecken. Beide Formen bleiben mit dem Körper verbunden. Das schöne
an Cages ist das wohlige Gefühl von Sicherheit. Aber solange man nicht
großflächig von Spray oder irgendwelchen Party-Schüssen
attackiert wird, reicht ein Frill vollkommen aus, denn unter einem Cage
kann man keine Schüsse mehr abgeben.
Frills oder Cages wehren DiS auf drei Arten ab: indem sie es absorbieren,
festhalten oder fortschleudern. Wenn wir einfach nur von Cage oder Frill
reden, meinen wir immer die DiS-fressende Variante. Vorias, gib mir mal
einen Porsche Jet!«
Der kleine Wandler wurde knallrot vor Aufregung und streckte den
Arm aus. Immerhin, es kam ein Jet dabei herum, auch wenn er wirklich überaus
Shy war und in nervtötendem Schneckentempo auf Volta zuschwebte. Es
dauerte eine Minute, bis er endgültig von dem blauglühenden Gespinst
um der Hand des DiSMasters aufgesogen war.
»Das ist eigentlich mal eine gute Idee«, tröstete
Hababai Vorias wegen dem amüsierten Gekicher seiner Kameraden ringsum.
»Daimons hassen nämlich alles, was lahm oder langweilig ist.
Vielleicht rauschen sie bei einem superschüchternen Jet sofort freiwillig
ab.«
»Sehr beliebt ist auch der Klebe-Modus, der gegnerisches DiS
nicht frisst, sondern nur festhält, also Sticky Cage und Sticky Frill«,
fuhr Volta fort. »Wie bei den Schüssen ist auch die sofortige
Visualisierung ohne nachzudenken das A und O. Und deshalb ist es egal,
wie ihr euch eure Schilde vorstellt, Hauptsache, ihr habt ein festes Bild,
das ihr augenblicklich abrufen könnt. Vergesst jedoch nicht, die Hand
auf euren Körper zu legen, wenn ihr einen Cage erzeugen wollt. Sonst
wird es leider immer nur ein Frill. Hier noch die letzte Variante eines
Abwehrschilds, Cage Blaster und Frill Blaster.«
Diesmal ließ sich Volta von Anapurna, dem indischen Mädchen,
beschießen. Sie ließ ihren Gypsy Slave in den Wüstensand
fahren und dann in steilem Winkel vor dem Farbigen wieder aus dem Boden
schießen, um ihn damit anzugreifen. Das schützende Gespinst
wuselte hektisch um seinen Körper. Als der Slave heranraste, verdichtete
es sich, plusterte sich kurz vor dem Einschlag des Strahls auf und ließ
ihn wirkungslos abprallen.
»Ein Schild, der nicht mit dem Körper verbunden ist und
wie ein Schutzwall funktioniert, nennen wir Dike. Damit kann man auch andere
Personen, etwa Neutrale, vor Angriffen schützen. Mehrere von euch
können sich auch zusammentun und eine sehr große Gruppe schützen.
Dann ist es eine Dike Party«
Und wieder galt es, bis zum Umfallen zu trainieren, sich gegenseitig
mit Dashes und Jets zu beschießen und gleichzeitig gegnerische Schüsse
abzublocken. Die DiSMasters hatten wie immer ein scharfes Auge auf ihre
Schüler und griffen mit bestaunenswerter Schnelligkeit ein, wenn ein
Schild nicht rechtzeitig genug hochgefahren wurde. Ein Pitbull Dash oder
ein DiS-fressender Pipe stürzten sich augenblicklich auf den gegnerischen
Schuss. Aber auch Rosanjin trug zur Sicherheit bei den Übungen und
Spielen bei, indem er bei gefährlichen Situationen einfach wortlos
in die Schusslinie sprang und das auftreffende DiS spurlos in seinem Körper
verschwand - eine immer wieder beeindruckende Demonstration von Rufer-Xendium.
Zu den Abwehrschildern hatten sich die DiSMasters ein weiteres,
fieses Spiel ausgedacht, das sie ›DiS-Minenfeld‹ nannten. Hierzu hatten
sie vorher eine große Fläche mit Turkeys präpariert, die
unter dem Sand versteckt waren. Immer in Gruppen zu Vieren mussten die
Schüler querfeldein rennen und auf die andere Seite gelangen. Es waren
nur vierhundert Meter - vierhundert Meter voller plötzlich aus dem
Boden springenden Strahlen, angriffslustigen Moskito Partys, unheilvoll
hervorwaberndem Spray und Blitzen, die zwickende Elektroschocks austeilten.
Die Sonne ging schon orangeglühend unter und tauchte die immer
noch eifrig trainierenden Jugendlichen in rötliches Licht. Nach der
sengenden Hitze wurde es rasch kühler. Aévon legte besonders
auf die Cages großen Wert und beendete das Training nicht eher, bis
sie bei jedem gut saßen.
Und dann bekamen sie die versprochene ›Überraschung‹.
.
Die DiSMaster brachten sie durch ein Tor in eine Höhle, die
sich inmitten des südamerikanischen Regenwaldes in einer kleinen Felsschlucht
befand. Dort war es früher Morgen und Nebel umspielte die Wipfel des
Baummeeres unter ihnen. Eine lange, nicht sehr vertrauenserweckend aussehende
Hängebrücke aus Seilen und Holzbohlen überspannte den reißenden
Fluss, der sich hunderte Meter unter ihnen durch die Schlucht und den Regenwald
zog.
»Wofür viel Geld fürs Bungee-Jumpen ausgeben, wenn
man es jederzeit und überall selber praktizieren kann?«, rief
Aévon tatenfreudig und ging ohne zu zögern in die Mitte der
schaukelnden Brücke, gefolgt von den anderen DiSMasters.
»Cely zeigt euch jetzt, wie’s geht. Man braucht nicht mehr
als einen Slave für die Füße und schon tun sich Abgründe
vor einem auf.«
Die schöne, ältere Französin ließ ihren blauen
Strahl sich um das obere Haltetau der Brücke winden, dann kletterte
sie auf deren Außenseite, wickelte das andere Ende ihres Slaves um
ihre Füße und sprang unter den Augen der schockierten Schüler
mit einem juchzenden »Mon Dieuuuuu!« in die Tiefe.
Ihr Lachen hallte zu ihnen empor, während sie noch ein paar
Mal an dem DiS-Seil in weiten Bögen umher schwang.
»Das mache ich nicht mit!«, krächzte Vorias zitternd
und lief zurück durch die Passage in die Burg. Aber auch etliche Jugendliche
PAGANs sahen nicht gerade überwältig aus.
»Und wie kommt sie wieder auf die Brücke?«, stammelte
Dheneb gleichermaßen fasziniert und furchterfüllt. Doch die
Antwort erübrigte sich. Celestine schoss einen weiteren Slave ab,
der sich ebenfalls mehrmals um das Brückentau rollte und sie empor
hievte, indem er sich rasch zusammenzog.
»Wer sich nicht alleine traut, kann gerne mit einem von uns
springen. Und natürlich passen wir auf jeden auf, der sich da hinunterschmeißt«,
rief Hababai strahlend. »Kommt schon: Überwindet eure
Ängste. Nichts stärkt das Vertrauen in DiS und die eigenen Fähigkeiten
mehr als diese Übung.«
Ras Algheti, Ying He und einige betraten als erste die Hängebrücke,
wohingegen die anderen und der Rest der Windwibbs sich immer noch nicht
durchringen konnten. Ras Algheti sprang zusammen mit Hababai in die Tiefe
- und konnte danach gar nicht mehr genug bekommen.
»Ihr müsst das wirklich ausprobieren! Das ist der reinste
Wahnsinn! Adrenalin pur!«, rief er ihnen außer sich vor Begeisterung
zu, bevor er noch einmal auf die Brücke kletterte und diesmal alleine
sprang.
Diejenigen, die unschlüssig gewesen waren, traten schließlich
nach einigen Minuten auf die schaukelnde Angelegenheit, um zunächst
in Begleitung zu springen, darunter Dheneb, Arktur, Rhenèlle und
Antaris. Shirooka warf Bat Furan herausfordernde, tiefe Blicke zu, die
ihm anscheinend den nötigen Ansporn gaben.
»Schon mal kopfüber geknutscht?«, wisperte sie
ihm ins Ohr, als er gleich darauf neben ihr stand. Bei ihrem verlockenden
Angebot errötete sein Gesicht und seine Ohren weithin sichtbar.
Die beiden umarmten sich und sprangen an ihren Slaves hinunter.
Es erscholl juchzend-aufgeregtes Gejohle von Bat Furan, das mit einem Mal
abrupt endete.
»Tja, Shirooka weiß, wie man Männer mundtot macht«,
kommentierte Aévon amüsiert die Ursache des plötzlichen
Schweigens. Inzwischen war auch Tigris zögerlich auf die Brücke
gekommen und sah bleich geworden hinunter in die unglaubliche Tiefe.
»Du schaffst das auch, Tigris. Ich sehe dir doch an, dass
du das gerne möchtest.« Aévon betrachtete sie eingehend.
Tigris war hin- und hergerissen. Einerseits wollte sie nur zu gern zu den
Vielen anderen gehören, die ihre Angst überwunden hatten. Andererseits
war sie noch nie besonders schwindelfrei gewesen. Zudem ließen fürchterliche
Erinnerungsblitze an den Blick hinab vom Kirchturm in Düsseldorf ihren
Magen zu einem schmerzhaften Knoten verhärten. Die beiden mitleidlosen
Zwillinge hatten sie in die Tiefe gerissen, und wäre das Amulett nicht
gewesen - sie wäre durch den Aufprall zerschmettert auf dem Asphalt
liegen geblieben.
Und während sie noch überlegte, wand sich ein Slave unbemerkt
um ihre Knöchel. Als sie es endlich bemerkte, war es auch schon zu
spät, denn Aévon drückte sie auf einmal fest an sich und
schwang sich mit ihr im nächsten Moment über die Taue. Er lachte
und johlte, während sie die Augen zusammenkniff und wie von Sinnen
schrie. Der freie Fall ließ ihren Magen flattern, die Gedanken stoben
aus ihrem Kopf, bis er sich vollkommen leer anfühlte. Ihr Herz pumpte
rasend schnell das Blut durch ihren Körper, laut rauschte es in ihren
Ohren.
Angst, aber auch ein unfassbares Siegesgefühl ließ sie
laut auflachen.
»Ich wusste doch, dass es dir gefällt. Jeder Zimberdale
kriegt nicht genug davon, seine Grenzen herauszufinden und sie niederzuwalzen!«,
rief Aévon, während sie in weiten Bögen kopfüber
über der Schlucht schwangen.
Tigris, noch ein wenig ängstlich an Aévon geklammert,
torpedierte den Seher-Wandler wieder mit bösen Blicken. »Mein
Vater heißt Orinoko Merskøg. Merk dir das!«
»Orinoko Merskøg starb vor neunzehn Jahren. Merk dir
DAS«, entgegnete Aévon mit einem hinterhältigen Lächeln.
»Das ist eine Lüge!« Aévons Worte wirkten
wie eine kalte Dusche. Ungläubig starrte sie in sein Gesicht.
»Nein, das ist eine kleine Recherche in den Datenbanken von
PAGAN und ein eindringliches Gespräch mit meinem werten Herrn Vater.
Jemand lügt dich an, aber nicht ich. Willkommen in der Familie, Schwesterherz.«
»Warum sollte meine Mutter mich anlügen?«, stieß
sie böse hervor, obwohl sie die Antwort schon kannte.
»Weil die Allianz es nicht gerne hat, wenn kleine Sklaven-Sippen
über Doppel-Xendii verfügen. Bei größeren, treuen
Sippen und in den Domén Arxes macht man allerdings schon seit langem
Ausnahmen. Auch bei denjenigen, die der Allianz ihre doppelt-gestraften
Kinder freiwillig überlassen. Ansonsten wendet man gerne und gründlich
die archaischen Todesstrafen und Sippenauflösungen an. Jede gute Mutter
hätte so gehandelt wie deine. Du hast keinen Grund, sie dafür
zu hassen. Aber du darfst ruhig unseren lieben Vater hassen, so wie ich
es tue.«
»Du hasst deinen eigenen Vater? Wieso?«, fragte Tigris
entsetzt über dieses freimütige Geständnis.
»Weil Menschen mit Doppel-Xendium und Verstärktes Xendium
nicht nur unfruchtbar sind, sondern mit einem frühen Tod durch spontane
Selbstentzündung enden. Ich habe bis vor einigen Tagen gedacht, ich
wäre der letzte Überlebende von Procyon Zimberdales zahlreicher
Brut mit Überbegabung. Leider konnte er entgegen allen Beteuerungen
anscheinend doch nicht die Finger von anderen Xendii-Damen lassen, was
du nun ausbaden musst.«
»Aber er hat mich vor dem Tod gerettet!«, widersprach
Tigris. »Er hat es zumindest geschafft, dass das Xendium mich nicht
als kleines Kind getötet hat.«
»Niemand kann das Xendium aufhalten, Kleines. Und mit dieser
Pest am Hals bleiben einem nur zwei Möglichkeiten: sich in tägliche
Gebete flüchten und auf ein möglichst schmerzloses Ende warten
- oder das Beste aus dem bisschen Leben herausholen, bis man sich mit einem
Abschiedsfeuerwerk aus dieser Welt verpisst. Die zweite Möglichkeit
finde ich weitaus gerechter und befriedigender.«
Tigris schloss getroffen die Augen, ganz benommen von Aévons
Worten. Als sie mit tränenbenetzten Wimpern wieder in Aévons
Gesicht sah, traf sie auf einen ungewohnt weicher, liebevoller Blick.
»Hallo, da unten!«, rief Hababai plötzlich von
der Brücke zu ihnen herunter. »Wie lange wollt ihr noch so abhängen?«
Und während sie von Aévons zweiten Slave emporgezogen
wurden, nahm ihr Halbbruder sie ganz fest in die Arme und sagte leise:
»Du musst keine Angst haben, ich bin immer für dich da. Vergiss
das nie. Du hast jetzt einen Bruder. Und ich habe wieder eine Schwester.«
Tigris war viel zu verwirrt, um darauf einzugehen.
Wie betäubt folgte sie den DiSMasters und ihren Schülern
zurück nach Guulin Kherem, wo alle noch ein wenig zusammensaßen
und über den vergangen Tag plauderten. Die DiSMasters standen für
Fragen bereit und wurden vor allem von den Jugendlichen aus den Gebieten
PAGANs voll und ganz in Anspruch genommen. Das nette Plauschründchen
artete bald in eine Party aus, als Getränke und Knabbersachen angeschleppt
und Musik aufgedreht wurde.
Bat Furan, als Ältester der Gruppe entschied jedoch, dass fast
zwölf Stunden mit den Irren von den DiSMasters genug waren und brachte
sie zurück nach Windwibbenburg, wo es erst fünf Uhr nachmittags
war.
.
Nach acht Stunden erst schleppte sich Danubia erschöpft aus
dem Krankenhaus. Sie hatte ihr Bestes gegeben und den Ärzten assistiert,
weinende Patienten und wimmernde Kinder getröstet, einer älteren
Wandlerin Mont Tonc die Hand gehalten, als sie ihren schweren Verletzungen
erlag und entschlossen jeden Gedanken an Procyon oder Windwibbenburg beiseite
gedrängt, um sich auf das Notwendige konzentrieren zu können,
das getan werden musste.
Draußen endlich überließ sie sich den mit aller
Macht anstürmenden Gedanken und der Angst. Sie lehnte sich mit dem
Rücken gegen die Seitenfassade des ›Aquariums‹, in dem man sie einquartiert
hatte, und schloss die Augen, während die Tränen ungehemmt über
ihre Wangen strömten.
Irgendwann einmal nahm jemand sie in die Arme, drückte sie
mit ebenso wild klopfendem Herzen fest an sich, um sie nie wieder loszulassen,
hauchte ihr zärtlich Küsse aufs Haar und auf die Schläfen.
Sie brauchte ihn, brauchte ihn jetzt so sehr, ihn und seine Stärke,
seinen Körper und seinen Duft.
Mit einer Leidenschaft, die nur er in ihr zu erwecken vermochte,
küsste sie stürmisch Procyons Gesicht und schließlich seine
Lippen. Ungeduldig drängte sie sich gegen ihn, genoss die Erregung,
die sie in ihm auslöste.
»Meine Süße, mein Engel...«, flüsterte
er heiser und hielt ihr Gesicht zwischen seine Hände, um in ihre Augen
zu sehen und ihre zarten Züge bewundern zu können.
»Ich dachte, du glaubst nicht an Engel«, stieß
sie atemlos hervor und lächelte wie in Trance, bevor sie ihn wieder
wild küsste.
Keiner von ihnen wusste, wie lange sie dort gestanden und sich wie
von Sinnen geküsst und gestreichelt hatten, als Procyon leise sagte:
»Bleib heute Nacht bei mir, Danu. Seit Jahren habe ich davon geträumt,
dich wieder in meinen Armen zu halten. Komm mit mir.«
»Ich glaube nicht, dass mein Verstand die Kraft hat, dagegen
zu protestieren«, wisperte sie und küsste seine Kehle. »Und
wohin bringst du mich diesmal?«
»Ich bringe dich nach Hause. Nach Elms Hall.«
.
Während die anderen jungen Windwibbs die Heimkehrer mit Fragen
bestürmten, die diese nur zu gerne beantworteten, schlich sich Tigris
in ihr Zimmer. Nicht nur, dass sie völlig erschöpft war und nichts
lieber wollte, als augenblicklich einzuschlafen. Zu allem Überfluss
dachte sie an Aévons Behauptung zurück.
Und mit einem Mal ergaben sich Zusammenhänge mit Dingen, die
sie vor einigen Wochen selber gehört oder erlebt hatte.
›Gott verzeiht es nicht, wenn man Nachkommen mit Doppel-Xendium
in die Welt setzt.
Solche Kinder und ihre Eltern werden augenblicklich getötet,
wenn die Domén Arx es entdeckt. Wenn solche Kinder überhaupt
überleben. In allen Sippen der Allianz gibt es niemanden mit Doppel-Xendium‹,
hatte Antigua ihr vor wenigen Wochen erklärt.
›Procyon hat es getan, für Tigris. Ich habe bis heute keine
Ahnung, wie er es geschafft hat, er will nicht darüber reden. Weshalb
es höchstwahrscheinlich besser für uns alle ist, nichts darüber
zu wissen.‹ Das Gespräch zwischen ihrer Mutter und Mira in ihrer Düsseldorfer
Wohnung, das sie merkwürdigerweise im Treppenhaus aufgefangen hatte,
als wäre sie gleich daneben gewesen.
›Gut, sprechen wir nie wieder von ihm. Wenn es dich beruhigt.
Wenn du damit leben kannst‹, hatte sie selber damals wütend
geschrieen, weil ihre Mutter um ›Orinoko Merskøg‹, ihren angeblichen
Vater, so ein Geheimnis gemacht hatte. Und Danubia hatte daraufhin geantwortet:
›Das kann ich, Tigris. Um deinetwillen muss ich es sogar.‹
Dann sah sie noch einmal deutlich den Moment vor sich, als sie genau
in diesem Zimmer an der Decke geschwebt hatte, als sie Lux Montanas grünen
Strahl hatte sehen können.
Diese Dinge waren geschehen, bevor Raffiyell ihr das Amulett übergestreift
hatte.
Aévon hatte recht: Niemand konnte dem Xendium entfliehen.
Es war von alleine bei ihr ausgebrochen, viel später als gewöhnlich
zwar, aber genauso unumkehrbar.
Das Amulett hatte offensichtlich nichts damit zu tun, auch wenn
es über noch unheimlichere Kräfte verfügte.
Procyon hatte sie also gar nicht von einer Krankheit geheilt, sondern
versucht, das Xendium in ihr zu unterdrücken und letztendlich versagt.
Und nun hatte sie auf einmal einen Halbbruder.
Viel bedeutsamer erschien ihr aber etwas anderes:
Procyon Zimberdale war auch ihr Vater.
Und weder ihre eigene Mutter noch die Allianz oder sonst jemand
würde Tigris davon abhalten, ihn eines Tages zu sehen. Denn wenn er
es schon einmal geschafft hatte, das Xendium wenigstens für einige
Jahre in ihr zu unterdrücken, würde es ihm vielleicht noch einmal
gelingen.
In der Tat, dies war endlich der Funken Hoffnung, den sie in dem
großen Durcheinander namens Leben so dringend benötigte.
Obwohl sie müde war, beschloss sie, vor dem Schlafengehen noch
zu duschen, denn alles an ihr roch nach Schweiß, Brand und Wüste.
Sie konnte sich sogar noch dazu aufraffen, sich die Zähne zu
putzen.
Müde sah sie schließlich in den Spiegel, in dem ihr die
hellen Bernstein-Augen fragend entgegenblickten.
›Schau an. Was für hübsche Augen‹, hallte Bru’jaxxelons
Stimme plötzlich durch sie hindurch. Entsetzt kreischte sie auf und
floh in ihr Zimmer, verkroch sich zitternd unter der Decke und versuchte
mit aller Macht, die fremde Stimme aus ihrem Geist zu verbannen.
›Bald schon stehen wir uns gegenüber. Zufall bestimmt die Leben.
Und ich erinnere mich zufällig an einen bedrückenden Ort, an
dem Gedanken umher flogen, in denen deine Augen aufleuchteten. Wie eine
Kerze im finstersten Verlies. Ich werde denjenigen wohl näher kennen
lernen müssen, der da oft an dich denkt.‹
Und so plötzlich, wie Bru’jaxxelon Verbindung mit ihr aufgenommen
hatte, so plötzlich war seine Stimme wieder aus ihrem Geist verschwunden.
Mit zitternden Händen fuhr sie sich über ihr Gesicht.
Dennoch holte sie gleich darauf ihr Tagebuch unter der Matratze
hervor, um auch diese Vision aufzuschreiben.
Ein bedrückender Ort, an dem jemand an sie dachte...
Wer konnte das nur sein?
© I.S.
Alaxa
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