Kurz vor Sonnenaufgang schoben und zerrten sie mit vereinten
Kräften den Riesen durch den engen Höhleneingang, der sich, als
er endlich wieder unter freiem Himmel stand, reckte und streckte, daß
die Knochen knackten.
"Ah, das tut gut", seufzte er genüßlich und
machte ein paar Kniebeugen. "Ich verstehe nicht, wie Zwerge das unter Tage
und in solchen Höhlen aushalten."
"Die sind ja auch eine Nummer kleiner als du", brummte
Chotis und zu Kani gewandt sagte er:
"Du willst wirklich nicht mitkommen?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Nein, ich habe hier noch eine Rechnung offen ..."
"Die Götter mögen dir gnädig sein, solltest
du diesem Wargrov begegnen. Wenn es stimmt, was der Alte erzählt,
bist du für ihn eine wichtige Figur in seinem Spiel - ohne dich hat
er kein Mittel mehr, um deinen Vater zu erpressen, also wird er wohl alles
daran setzen, dich zu erwischen."
"Ja, das weiß ich", sagte Kani, bemüht ihrer
Stimme einen festen Klang zu geben. "Trotzdem muß ich gehen. Ich
werde noch kurz Armárans Hütte aufsuchen und dann nach Conogal
hinunterziehen, um ihn dort zu finden und aus Érochs Gefangenschaft
zu befreien."
Sie runzelte die Stirn, legte den Kopf schief und schien
auf etwas in der Ferne zu lauschen.
"Er scheint uns wohl schon auf den Fersen zu sein."
Nun hörte auch Chotis das entfernte Hundegebell,
das durch den Morgennebel drang.
"Eilt euch lieber", empfahl sie, dann sah sie hinüber
zu Ziranubishath, der sich gerade durch die Felsspalte nach draußen
quälte.
"Ihr solltet dem Alten nicht blindlings trauen. Ich kenne
ihn - er ist ein schrecklicher Angeber und kaum ein Wort, das er sagt,
stimmt. Außerdem glaube ich nicht, daß ihr einen Hexer finden
werdet, der euch wirklich nach Hause bringen könnte. An eurer Stelle...
hmm, ich würde es bei den Elben im Grauwald versuchen. Für gewöhnlich
mögen sie die Menschen nicht sonderlich, machen einen großen
Bogen um Fremde und mischen sich nicht in deren Angelegenheiten ein, aber
vielleicht würden sie in eurem Fall eine Ausnahme machen." Sie zwinkerte
verschwörerisch. "Einige kenne ich sogar recht gut... aber es ist
eure Entscheidung. Lebt wohl."
Sie drückte Chotis kurz die Hand und winkte Hragnir
zum Abschied zu, dann stahl sie sich durch das dichte Unterholz Richtung
Norden davon, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen. Kurz darauf hatten
sie die Nebelschwaden zwischen den Bäumen auch schon verschluckt.
Die fahle Morgensonne schickte im Osten gerade ihr erstes, blasses Licht
über den Horizont.
Endlich - endlich würde er in die Stadt gelangen,
ein Vergnügen, das ihm sein Sohn in den letzten Jahren stets vorenthalten
hatte - angeblich aus Rücksicht auf seine angegriffene, schwächliche
Konstitution. Lachhaft, dachte Ziranubishath und grinste schadenfroh.
Alter
Spielverderber. Diesmal wirst du mir keinen Strich durch die Rechnung machen,
Éroch! Wren Medír - ich komme!
Sein runzliges Gesicht glühte förmlich vor
Erwartung und Vorfreude, als er vor die Höhle trat. "Also, was ist?"
fragte er ungeduldig. "Können wir endlich aufbrechen?"
"Natürlich - wir sind bereit", gab Chotis zurück
und sah den Alten erwartungsvoll an. "Dann mal los."
"Ja, dann mal los", wiederholte Ziranubishath, aber er
rührte sich keinen Fuß breit von der Stelle.
Hragnir und Chotis starrten ihn an.
"Auf was wartet Ihr denn noch? Geht voran, wir folgen
Euch dann schon."
"Ähh, ja... voran."
"Was ist denn?" knurrte Chotis verständnislos. "In
welche Richtung müssen wir denn nun?"
Der Alte sah sich unsicher um.
"Hmm, ja... mal überlegen..."
"Überlegen?" Der Dämon schrie fast. "Ich denke,
Ihr wißt, wo's lang geht?"
"Jaja", beruhigte ihn Ziranubishath, "natürlich
weiß ich das. Südwesten hat das Mädchen gesagt, nicht wahr?
Gut, ähh..." Er drehte sich einige Male um die eigene Achse. "Wo war
das noch gleich wieder?"
Chotis verschränkte mit säuerlicher Miene die
Arme vor der Brust und fixierte ihn aus zusammengekniffenen Augen.
"Ihr wollt uns jetzt aber nicht damit sagen, daß
Ihr eigentlich keine Ahnung habt, oder?"
Seine Stimme klang fast ein wenig drohend.
"Nein - natürlich nicht", beeilte sich der Alte
zu erwidern, machte ein Gesicht, als würde er die Lage vollkommen
überblicken und stapfte los. "Hier entlang. Folgt mir!"
"Hm, Chotis...", Hragnir warf dem Dämon einen irritierten
Seitenblick zu und tippte ihm auf die Schulter, "ich dachte, die Stadt
liegt südwestlich von hier... wieso marschiert er dann schnurstracks
nach Norden?"
"Das frage ich mich auch gerade... he, Alterchen - meint
Ihr nicht, wir sollten wenigstens einigermaßen die Richtung treffen,
wenn wir schon losmarschieren? Hier geht es nach Südwesten!"
Sie waren noch nicht einmal eine halbe Meile vorangekommen,
als das Hundegebell lauter wurde und Hufschläge zu hören waren.
"Psst!" Chotis legte seinen Zeigefinger auf die Lippen.
"Seid doch mal still."
Er lauschte und versuchte, die Richtung zu bestimmen,
aus der die Geräusche zu ihnen herüberwehten.
"Hmm ... kommt von da drüben", stellte er dann fest
und wies in südliche Richtung, "dort scheint die Straße zu sein."
Und mit einem Blick auf Hragnir zischte er: "Zieh deinen Kopf ein, bevor
sie dich sehen, du Tölpel - du überragst die Wipfel ja noch um
Haupteslänge!"
Der Riese duckte sich ein wenig, woraufhin sein schuldbewußtes
Gesicht in den Baumkronen verschwand und der Dämon zufrieden nickte.
"In dieser Richtung kommen wir wohl nicht weiter, ohne
ihnen direkt in die Arme zu laufen. Wir müßten uns weiter rechts
halten..."
Er ließ hastig den Blick durch den dichten Wald
schweifen und suchte nach einem geeigneten Weg zu seiner Rechten, doch
dort befanden sich nur verfilztes Gestrüpp und schroffe Felsen und
für sie war offensichtlich kein Durchkommen möglich. Nach Westen
war der Weg also versperrt - und vor ihnen lag die Straße, auf der
die Schloßwachen patroullierten.
"Und? Wo sind denn nun deine geheimen Schleichpfade?"
schnauzte er Ziranubishath an, der gerade arglos und mit verträumtem
Blick ein paar Beeren von einem Strauch zupfte und bei Chotis‘ Worten erschrocken
zusammenfuhr. "Sag schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!"
"Ähhh ...", machte der Alte intelligenterweise,
aber eine Antwort, die ihnen weiterhelfen würde, hatte er auch nicht
parat. Chotis hob resigniert die Augen gen Himmel und bereute in diesem
Augenblick bitterlich, im Schloß auch nur einen Blick auf den Alten
verschwendet zu haben.
Auf einmal tauchte Hragnirs zerkratztes Gesicht mit ziemlichem
Geraschel unterhalb der Baumkronen auf.
"Ich sehe da einen Weg", verkündete er, "sieht aus
wie ein Wildwechsel oder ein Trampelpfad - da drüben!" Er wies mit
seinem baumstammdicken, behaarten Arm über die Wipfel hinweg. Chotis
seufzte ergeben.
"Das ist zwar überhaupt nicht die Richtung, in die
wir wollten, aber was bleibt uns anderes übrig... komm, Alterchen
- weiter geht’s!"
Sie schickten Hragnir voraus, der ihnen allein schon durch
seine Größe und Masse eine ausreichend breite Schneise ins Unterholz
bahnte, so daß sie recht bequem und rasch vorankamen. Der Wald wurde
ein wenig heller und weniger dicht und bald sahen sie durch die Baumstämme
das Sonnenlicht blinzeln und freies Feld vor sich liegen.
Der Riese war heilfroh, endlich aus diesem schier undurchdringlichen
Geflecht von Wurzeln und Ästen herauszukommen, das er beinahe so erdrückend
wie die Höhle fand. Nein, für enge Felsengänge und struppige
Wälder war er beim besten Willen nicht geschaffen - ihm waren weite,
offene Ebenen wie die endlosen Eiswüsten in seiner Heimat wesentlich
lieber.
Nur noch ein paar Schritte, dann hatten sie auch schon
den Waldrand erreicht.
Doch als sie die letzten Baumreihen hinter sich ließen,
erlebten sie eine böse Überraschung.
"Was ist das denn?"
Hragnir beschattete mit der Hand seine Augen, um sie
gegen die noch tiefstehende Sonne zu schützen, die gerade über
den Horizont kroch, und spähte über das Feld.
"Da sind Reiter", stellte er besorgt fest, während
Chotis sich an ihm vorbei nach vorne drängelte. "Ziemlich viele!"
"Wo?"
Der Dämon mußte nicht lange suchen, denn die
Reiterschar kam schnell näher und geradewegs auf sie zu. Es waren
sicher mehrere Dutzend Pferde, die über die Felder herangeprescht
kamen.
"Das sind aber keine Soldaten", murmelte Hragnir. "Nein,
es sieht eher aus wie eine... wie eine Jagdgesellschaft...?"
Bevor sie noch genau erkennen konnten, wer oder was da
auf sie zugaloppierte, hörten sie auch schon die ersten Rufe:
"Da sind sie!" "Dort drüben am Waldrand!" "He, da
ist dieser Riese!"
Und plötzlich sahen sie sich einer ganzen Meute
vornehm gekleideter und mit Langbögen und Armbrüsten bewaffneter
Edelleute gegenüber, die sich scheinbar aus der Suche nach den Flüchtenden
ihren Spaß machen und Wargrov zuvorkommen wollten.
"Wo kommen die denn auf einmal alle her?" wunderte sich
Hragnir, aber sein Gefährte hatte bereits einen konkreten Verdacht:
"Scheint der ganze Landadel Grúdjas zu sein, der
sich gestern im Schloß bei Wein und Met amüsiert hat."
"Ooch, du hast dich doch auch dort amüsiert... bei
Wein und Met." Der Riese seufzte und versuchte, seine ausgetrocknete Kehle
zu ignorieren. "Und ich mußte mich mit den Schloßwachen herumprügeln!"
Sein vorwurfsvoller Blick streifte den Dämon.
"He, ihr beiden, wir haben jetzt keine Zeit zum Streiten
- ich glaube, wir sollten uns hier besser verkrümeln!"
Mit diesen Worten und flatternder Robe war Ziranubishath
schon wieder im Wald verschwunden. Chotis und Hragnir wechselten einen
kurzen Blick und setzten ihm eilig nach.
Sie hasteten eine Weile blind durchs Unterholz, wichen
Baumstämmen und Felsbrocken aus und schreckten verschlafenes Wild
auf, das verstört das Weite suchte. Mehrmals schlugen sie Haken und
wechselten die Richtung, immer verfolgt von den Rufen und vom Gelächter
der Adligen, bis sie schließlich völlig die Orientierung verloren
und erschöpft keuchend stehen blieben. Ziranubishath beugte sich nach
vorne und stützte sich auf seine Knie, sein Atem entwich mit lautem
Pfeifen seinen Lungen.
"Ich ... kann ... nicht ... mehr", röchelte er,
woraufhin der Dämon ihn mit leichter Besorgnis musterte.
"He, Alterchen ... " Er klopfte ihm aufmunternd den mageren
Rücken. "Du wirst uns doch jetzt hier nicht schlapp machen wollen?"
"Sie versuchen, uns zur Straße zu treiben", stellte
Hragnir fest.
Chotis nickte. "Wo wir unweigerlich den Soldaten in die
Arme laufen würden. Wir müssen schleunigst hier weg, wenn unsere
Köpfe nicht aufgespießt dem Fürsten als Dekoration für
seinen Festsaal dienen sollen... aber ich kenne die Gegend hier nicht.
Wo, bei allen Göttern, müssen wir lang?"
Er schüttelte Ziranubishath vorsichtig ein wenig.
"He, versucht doch wenigstens einmal, Euch an den richtigen
Weg zu erinnern - das kann doch nicht so schwierig sein!"
"Ich versuch’s ja", beteuerte der Alte, "glaubt mir.
Aber ich fürchte, ich weiß es ganz einfach nicht mehr."
Mühsam richtete er sich auf. "Es ist schon Jahre
her, daß ich zum letzten Mal in Wren Medír gewesen bin - und
meist benutzten wir auch einfach die Straße. Ich reiste ja schließlich
mit Gefolge... immerhin bin ich ein Fürst!"
"Ja, natürlich, Eure Majestät ... wie konnte
ich das nur vergessen!" murmelte der Dämon mit höhnischer Unterwürfigkeit,
aber gleich darauf packte er Ziranubishath am Kragen.
"Soll das etwa heißen, wir haben uns hier verirrt?"
Das Hundegebell schien plötzlich ganz aus der Nähe
zu kommen.
"Äähh ... vermutlich ja."
Chotis sah aus, als wolle er den Alten über’s Knie
legen und ihm eine gehörige Tracht Prügel verabreichen, und nur
mit Mühe konnte Hragnir ihn davon abhalten.
"Was tun wir jetzt?" fragte er verwirrt und sah seinen
Gefährten hilfesuchend an. Chotis seufzte.
"Wir suchen das Mädchen!"
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