Kani war erst in nördliche Richtung gewandert, bis
der dichte, verfilzte Wald, der rund um Schloß Wabe wucherte, sich
ein wenig lichtete, dann hielt sie sich Richtung Osten.
Die Gegend kannte sie wie ihre Westentasche - jeden Baum,
jeden Felsen und jeden Bachlauf, denn hier ganz in der Nähe, am südöstlichen
Rand des Grauwaldes, war sie aufgewachsen. Hier hatte sie ihre Kindheit
verbracht, bevor sie vor einiger Zeit die Enge der Hütte verlassen
hatte. Hier hatte sie den Stimmen der Vögel und dem Heulen der Wölfe
gelauscht, sich mit den Kindern der Elben angefreundet und mit ihnen heimlich
Bogenschießen und Schwertkampf geübt.
Der Grauwald war wie ein Freund geworden, zu dem sie
nun zurückkehrte, und Kani mußte beinahe lachen, als sie sich
an die unbeholfen zusammengebastelten Holzschwerter erinnerte, mit denen
sie und die Elbenkinder sich beinahe aus Spaß die Schädel eingehauen
hatten.
Die Hütte ihres Vaters war nicht mehr weit, um sie
zu erreichen, hätte Kani nur noch einige Meilen am Waldrand entlanglaufen
müssen. Doch sie hielt sich im Schatten der Bäume verborgen,
wagte sich nicht hinaus auf offenes Feld.
Auch wenn sie in diesem Augenblick das beinahe übermächtige
Gefühl verspürte, einfach draufloszurennen, um die Hütte
zu erreichen - sie wußte, daß Wargrov seine Augen überall
hatte, und ihr klarer, scharfer Verstand hinderte sie in diesem Moment
daran, einen unüberlegten Schritt zu tun.
Sie wanderte weiter, füllte unterwegs an einem kleinen
Bach ihren Wasservorrat auf und grübelte darüber nach, was sie
als nächstes tun sollte.
Dann fielen ihr die Gänge wieder ein. Natürlich!
Sie wunderte sich beinahe, daß sie nicht schon
eher daran gedacht hatte.
Die sogenannten "Gänge" - der Volksmund bezeichnete
sie der Einfachheit halber so - waren ein Teil eines verlassenes Tunnelsystem
der Zwerge, das weite Gebiete Grúdjas und Éremagjus unterhöhlte.
Die Zwerge, unübertroffene Baumeister und Steinmetze,
hatten die Gänge einst geschaffen - ein weitläufiges, ausgeklügeltes
Sytem von Stollen und verzweigten Tunneln, Schächten und Höhlen,
das sicher schon Tausende von Jahren alt war. Es wurde sogar davon berichtet,
daß es riesige, unterirdische und gar prachtvolle Städte geben
solle, doch noch kein Mensch hatte diese jemals gesehen oder gar betreten.
Die "Gänge" am Rande des Grauwalds waren nur ein
kleiner, unbedeutender Ausläufer dieses riesigen Systems, schon lange
stillgelegt, staubbedeckt und seit Urzeiten nicht mehr benutzt, und die
wenigsten kannten überhaupt die Eingänge zu den Tunneln.
Früher, als Kani noch klein war, hatte sie oft zusammen
mit den Elbenkindern dort gespielt und manche der Gänge ein wenig
erkundet - weit waren sie jedoch nie in die Stollen eingdrungen. Zum einen,
weil die Elben sich vehement weigerten, sie tiefer in die steinige, unterirdische
Enge zu begleiten - zum anderen, weil sie die Tunnel und Höhlen selbst
ein wenig unheimlich fand. So hatten sie stets nur die Eingänge für
ihr Spiel genutzt und so getan, als wären es uneinnehmbare Festungen,
die es mit den wackligen Holzschwertern verbissen gegen jeden Feind - und
waren es nur Füchse und Eichhörnchen - zu verteidigen galt. Damals
hatten sie ihre ganzen Habseligkeiten dorthin geschleppt und Armáran
mochte sich wohl des öfteren darüber gewundert haben, wohin all
seine Schüsseln und Trinkflaschen, Fackeln und Schürhaken auf
geheimnisvolle Weise verschwanden.
Kani lehnte mit der Schulter an einem Baumstamm und starrte
völlig versunken hinüber zum Grauwald. Genau konnte sie sich
nicht mehr an die Lage der Eingänge erinnern, aber sie wußte,
sie waren da. Vielleicht konnte sie sich dort eine Weile verstecken, um
sich vor Wargrovs Augen zu verbergen... so wie sie es vor Jahren vor einem
imaginären Feind getan hatte.
Immerhin wäre es eine Möglichkeit....
Es war, als würde sie auf den Spuren ihrer Kindheit
wandeln, als sie lautlos den Stollen betrat, dessen Eingang vor neugierigen
Blicken geschützt hinter einigen Felsen am Fuße eines sanft
ansteigenden Hügels lag. Ihre Augen brauchten ein wenig, um sich an
das trübe Dämmerlicht zu gewöhnen, das im Tunnel herrschte.
Aber er war es - eindeutig.
Einige Schritte weit war der steinige Boden noch eben
und von Erde und losem Geröll bedeckt, das von der Decke gestürzt
war, danach fiel er glatt und ziemlich steil, nur von wenigen Stufen unterbrochen,
ab und verlor sich in der dunklen Tiefe des Hügels.
Kani bückte sich und tastete mit der Hand in eine
kleine Nische der zerklüfteten Felswand und ihre Finger fanden tatsächlich,
wonach sie suchten: sie zog ein längliches, in zerschlissenes Leintuch
gewickeltes Päckchen hervor.
Als sie es behutsam auswickelte, schossen ihr beinahe
Tränen in die Augen. Ein halb vermodertes kleines Holzschwert fand
sich darin, ein altes Zunderkästchen, einige Pfeilspitzen und Pechfackeln,
Vogelfedern, seltsam geformte Versteinerungen, ein zerfleddertes Pergament,
das bei ihrer Berührung zu zerbröseln drohte und noch einige
andere Dinge - die ganzen Schätze einer lange vergangenen Kindheit.
Kani nahm die Fackeln und Feuersteine heraus, wickelte
den Rest sorgsam wieder in den mottenzerfressenen Stoff und legte das Päckchen
zurück in die Nische.
Von draußen hörte sie plötzlich lautes
Getöse, das sie im ersten Moment nicht einzuordnen wußte, Schreie
und das Geräusch knackender Äste, und als sie geduckt und bemüht,
im Schatten zu bleiben, vor die Höhle trat, glaubte sie ihren Augen
nicht zu trauen:
Quer über das offene Land, das den Schloßwald
vom Grauwald der Elben trennte, kamen einige wohlbekannte Gestalten auf
sie zugerannt: voran ein winkender und rufender Chotis, schnaufend und
prustend und mit hochrotem Gesicht, und dahinter der Riese, unter dessen
schweren Schritten die Erde zu beben schien. Unter der Achsel eingeklemmt
hielt er Ziranubishath, der wie wild mit den Armen ruderte und ein ohrenbetäubendes
Gezeter von sich gab.
Und hinter den dreien tauchte eine ganze Horde Reiter
auf, unter ihnen einige schwerbewaffnete Soldaten und auch viele Edelleute
mit federgeschmückten Hüten und eleganter Jagdkleidung, die mit
ihren Bögen und Armbrüsten auf die Flüchtenden zielten.
Ein Pfeil zischte nur wenige Fingerbreit neben Hragnirs
Ohr vorbei.
Die drei schienen gerade in nicht unerheblichen Schwierigkeiten
zu sein...
"Kaaaaaniiiiiiii!!" hörte sie Chotis‘ gellende Stimme,
"wohin?"
Kani seufzte. Irgendwie hatte sie geahnt, daß sie
mit diesen drei merkwürdigen Gestalten noch einmal Schwierigkeiten
bekommen würde. Aber da sie nun schon mal hier waren...
Sie winkte heftig und deutete auf den Höhleneingang
hinter sich.
"Hier rein!"
Chotis kam schon schnaufend angeprustet und rannte sie
beinahe über den Haufen, als er in den Tunnel stürzte. Kani warf
noch einen Blick auf Hragnir, der etwas zurückgefallen war, und machte
ihm Zeichen, daß er sich beeilen sollte, dann schlüpfte sie
hinter Chotis in den Stollen.
Nach dem hellen Sonnenschein war es in dem Gang so duster,
daß der Dämon die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Nur spärlich
drang etwas Licht von draußen herein und er tastete wie blind umher.
"Warte, ich habe Fackeln", flüsterte Kani und versuchte
mit Hilfe des Zunderkästchens eine zu entzünden.
Plötzlich vibrierte der Boden unter ihren Füßen
und ein riesiger Schatten verdunkelte den Höhleneingang - und dann
polterte auch schon mit voller Geschwindigkeit Hragnir herein.
Kani wußte nicht, ob er sich mit der Größe
des Eingangs verschätzt hatte oder einfach seinen Schwung nicht mehr
rechtzeitig bremsen konnte - jedenfalls schoß er in die Höhle,
ließ unter der Wucht des Aufpralls den halben Eingang zusammenstürzen
und riß sie beide mit in die Tiefen des Hügels.
Sie rutschten und kollerten hintereinander die steinerne
Rampe hinunter, holperten über die vereinzelt aus dem Fels herausgeschlagenen
Stufen - Chotis fluchte und Ziranubishath schrie wie am Spieß. Hragnir
versuchte zu bremsen und stemmte seine Füße gegen die Wände
des Tunnels, wogegen der Alte versuchte, unter seiner Achsel hervorzuklettern
- und in einer wilden Rutschpartie sausten sie hinunter, während hinter
ihnen in einer Staubwolke der Höhleneingang einstürzte und Geröll
auf sie herabprasselte.
Kani umklammerte krampfhaft die Fackeln, das Zunderkästchen
und ihren Rucksack, rutschte hilflos hinter den dreien her und wünschte
sich weit, weit fort.
Endlich gelang es dem Riesen, ihren Lauf zu stoppen,
indem er seinen massigen Körper mit Armen und Beinen zwischen den
Wänden des Gangs verkeilte, so daß seine Gefährten in seine
Rückseite rumpelten und völlig ausgepumpt liegen blieben.
Ein Stück weiter oben sah Kani gerade noch das letzte
Tageslicht hinter dem einstürzenden Tunneleingang verschwinden.
Mit einem zischenden Geräusch entzündete sie
die Fackel an dem Zunderkasten und leuchtete umher.
Sie konnte Ziranubishaths bleiches, erschöpftes
Gesicht erkennen und einen völlig zerkratzten und verschrammten Hragnir.
Chotis lehnte sich keuchend mit dem Rücken gegen die glatte Felswand.
"Tja ... und nun?"
"Sieht so aus, als wären wir hier eingeschlossen
... "
"Ja, sieht so aus."
Hragnir rappelte sich mühsam auf und betastete vorsichtig
die Schrammen und Schürfwunden auf seinen Armen, während der
Dämon leise vor sich hin fluchte.
"Ich hab’s gewußt", schnaubte er, "ich hab’s gleich
gewußt - lass dich nicht mit irgendwelchen dämlichen Prólms
ein... "
"Das gleiche gilt für dämliche Dämonen",
giftete Hragnir zurück. "Wir werden hier schon wieder herauskommen,
damit du die nächstbeste Kneipe ansteuern und dich ins Vergnügen
stürzen kannst!"
"Ja, das wäre nicht schlecht", meldete sich Ziranubishath
zu Wort. "Könnte nicht mal jemand nachsehen, was mit dem Eingang dort
oben ist?"
Hragnir wälzte sich grummelnd herum, riß Kani
die Fackel aus der Hand und kroch auf allen Vieren die Rampe hoch.
Sie hörten ihn eine Weile scharren und kratzen und
unverständliches Zeug vor sich hinbrabbeln, dann rief er mit lauter
Stimme zu ihnen hinunter:
"Keine Chance - der Ausgang ist wohl dicht. Hier liegen
manndicke Felsbrocken herum... "
"Ja, aber du bist doch ein Riese - kannst du nicht...?"
"Nicht einmal ich habe so viel Kraft, das alles beiseite
zu schaffen", mußte er kleinlaut zugeben und rutschte vorsichtig
wieder zu den anderen hinunter.
"Wir werden uns wohl einen anderen Weg suchen müßen..."
Hragnirs Worte hingen wie eine unheilvolle Drohung in
der Stille des Tunnels. Kani lehnte sich mit dem Rücken gegen den
nackten, kalten Fels und schloß einen kurzen Moment die Augen.
Wie sollte sie nun zu ihrem Vater kommen?
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