Hragnir betrachtete mit schiefgelegtem Kopf die klaffende
Öffnung in Turmmauer und Dach und kratzte sich abwesend die Bartstoppeln
am Kinn.
Eine ganze Weile dachte er nach. Manchmal brauchten seine
Gedanken zwar ein wenig lange, bis sie durch alle Hirnwindungen gekrochen
waren, denn er war nicht gerade der Hellste, aber er kam doch zu dem Schluß,
daß er hindurchpassen könnte, wenn er ein paar Mauersteine herausbrach
und zusätzlich vielleicht noch den Bauch einzog.
Vorsichtig lehnte er sich mit dem Oberkörper über
die Mauerreste und spähte in die abendliche Dunkelheit hinaus. Von
unten drangen Musik und Gelächter und ein verführerischer Duft
nach köstlichem Essen zu ihm herauf, was ihm auf der Stelle wieder
das Wasser im Mund zusammenlaufen und grollend an seinen dämonischen
Gefährten denken ließ.
Das Einzige, was der Riese draußen erkennen konnte,
waren die schwankenden Baumkronen weit unter sich, die ihn schlagartig
wieder an seine Höhenangst erinnerten.
Bei dem Blick in die bodenlose Tiefe wurde ihm auch tatsächlich
ein wenig schwindlig und er hatte den Eindruck, der Turm würde bedrohlich
anfangen zu schwanken. Schnell lehnte er sich zurück in die Sicherheit
der Kammer - und schon stand der scheinbar kreiselnde Turm wieder artig
still. Hragnir seufzte. Hohe Gebäude hatte er noch nie sonderlich
gemocht - vor allem nicht von oben.
Mißmutig begann er damit, lose Steine aus der Wand
zu brechen, bis er knöchelhoch in einem Haufen aus Schutt und Mauerresten
stand und ihm die Öffnung groß genug erschien. Als er mit seiner
Arbeit fertig war, stand ihm der Schweiß auf der Stirn und ihm war
in seiner Fellkleidung reichlich heiß geworden. Jetzt würde
er wohl hindurchpassen - aber wie sollte er hinunterkommen? Er war nicht
gerade ein geschickter Kletterer und eher schwerfällig und langsam
- und die Außenwände des Turms erstreckten sich glatt und ohne
Mauervorsprünge oder Simse in die Tiefe. Hragnir stand wirklich vor
einem Problem.
Angestrengt sah er sich in der Kammer des Hexers um und
musterte jeden Gegenstand im Raum. Vielleicht gab es ja doch irgend etwas,
das ihm nützlich sein könnte, und das er bis jetzt einfach übersehen
hatte. Und tatsächlich, während seiner intensiver Suche blieb
sein Blick an etwas hängen, das ihn zum Nachdenken brachte ...
.
Chotis lümmelte auf seinem Stuhl, den Ellbogen auf
die Tischplatte und das Kinn in die Hand gestützt, während Ziranubishaths
Redeschwall unaufhaltsam auf ihn einströmte. Obwohl er sich bemühte,
ein interessiertes Gesicht zu machen und den lähmenden Schilderungen
des Magiers zu folgen, schweifte seine Konzentration immer wieder ab und
sein Blick im Festsaal umher, der ihn wesentlich mehr fesselte als das
Geplapper des Alten.
Der Saal wies eine enorme Größe auf und war
im hinteren Teil, in dem sich die vornehme Gesellschaft und der Burgherr
aufhielten, sehr prunkvoll ausgestattet. Die Wände und Säulen
aus rotem, glattpoliertem Marmor schimmerten im Licht von Hunderten von
Fackeln und Kerzenleuchtern, und farbenprächtige Gobelins und Stickereien
schmückten die Wände. Während in diesem ein wenig abgetrennten
Teil des Saales einige Dutzend Edelleute an einer prächtig gedeckten
Tafel speisten und von uniformierten Lakaien bedient wurden, ging es in
der vorderen Hälfte - dort wo sich das gewöhnliche Volk aufhielt
- wesentlich bunter, lauter und lustiger zu. Die ganze Einrichtung und
Atmosphäre dort erinnerte eher an ein Wirtshaus als einen Festsaal:
laut, lärmend und überfüllt mit Gästen verschiedenster
Herkunft - Chotis hatte sich praktisch sofort wie zu Hause gefühlt.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er das Treiben der Gäste
und gab zu Ziranubishaths Ausführungen nur hin und wieder ein gelangweiltes
"jaja" oder "soso" von sich. Den Magier schien das jedoch nicht zu stören
- im Gegenteil, er sah es als Aufmunterung, mit seinen Reisebeschreibungen
fortzufahren. Gerade hatte er seinen merkwürdigen spitzen Hut abgenommen
und begann damit, sich auf der Holzbank häuslich einzurichten, wobei
er immer wieder vom Wein kostete. Der Dämon hatte mittlerweile seine
Versuche, das Thema auf die geplante Rückreise zu lenken, resigniert
aufgegeben, da sein Gegenüber einfach nicht zu stoppen war. Statt
dessen beobachtete er das fröhliche Treiben im Saal und machte den
Schankmädchen schöne Augen.
Besonders eine zog ungewollt seine Aufmerksamkeit auf
sich - aber nicht, wie man vielleicht hätte glauben können, durch
überwältigende Schönheit oder ein strahlendes Lächeln.
Von einem Lächeln war in ihrem Gesicht nämlich nicht die leiseste
Spur zu sehen - im Gegenteil. Sie stand in einem schmutzigen Hemd mit hochgekrempelten
Ärmeln hinter dem Tresen, füllte ohne Unterlaß die Krüge
mit schäumendem Bier, schrubbte mit einem Lappen die Theke und scheuchte
grimmigen Blickes ihre Kolleginnen zu den Tischen. Der Dämon beobachtete
sie schon eine ganze Weile und fragte sich, was sie wohl in die Burg verschlagen
hatte. Sie schien eindeutig nicht hierher zu gehören.
Das Mädchen war ziemlich dünn, beinahe mager,
das lange, dunkle Haar hatte sie zu einem unordentlichen Zopf geflochten,
der über ihrer Schulter baumelte. Sie trug abgerissene Männerkleidung
und einen Lederwams - und sie paßte so überhaupt nicht zu den
anderen drallen Schankmädchen, die ausgelassen mit den Gästen
schäkerten.
Ein paar Mal grinste er ihr zu, als sie in seine Richtung
sah, aber sie bedachte ihn daraufhin nur mit finsteren Blicken, von denen
jeder andere wahrscheinlich auf der Stelle tot umgefallen wäre - nicht
so dagegen Chotis. Er grinste sie nur um so frecher an. Doch auch dadurch
konnte er ihre scheinbar üble Laune nicht zum Besseren wenden.
Und der pausenlos vor sich hin plappernde Alte neben
ihm begann ihn langsam aber sicher zu nerven. Gerade brüstete er sich
mit seinen angeblich unerreichten Zauberkräften und seinem Status
als "Magier der Götter", und er erzählte eine Geschichte, die
so haarsträubend war, daß Chotis ihm kein Wort davon glaubte.
Dem Dämon reichte es endgültig. Er wollte nun
ein für alle Mal auf den Punkt kommen und von Ziranubishath wissen,
ob er von ihm Hilfe erwarten konnte. Schließlich wollte er, wenn
möglich, noch in diesem Leben in seine Heimat zurückkehren.
"Ähhm", setzte er zaghaft an, aber der Magier beachtete
ihn nicht weiter. Er schilderte gerade in leuchtenden Farben, wie er durch
seine magischen Kräften einen Drachen niedergestreckt hatte.
Chotis, der ein äußerst höflicher Dämon
war, wagte einen zweiten Versuch.
"Das ist ja alles sehr interessant, aber dürfte
ich Euch wohl kurz unterbrechen?"
Genausogut hätte er mit der Tischplatte vor sich
reden können, die auf seine Ansprache sicherlich ähnlich reagiert
hätte wie der Magier - nämlich gar nicht.
Neuerlicher Versuch. Seine Gesichtszüge verfärbten
sich bereits leicht ins Rötliche.
"Ähh ... ich hätte da mal eine Frage..."
Ziranubishath unterbrach sich nicht einmal zum Atem holen.
"Wollt Ihr mir jetzt wohl mal zuhören!" donnerte
Chotis, packte den Alten mit der Faust am Kragen und zerrte ihn quer über
den Tisch.
Und tatsächlich: dem Magier blieben buchstäblich
vor Schreck die Worte im Hals stecken. Mit offenem Mund und aufgerissenen
Augen starrte er sein zornrotes Gegenüber an, als sähe er es
zum ersten Mal.
Chotis nutzte die Gunst des Augenblicks und überschüttete
Ziranubishath nun seinerseits mit Fragen, bevor der Alte auch nur daran
denken konnte, erneut das Wort zu ergreifen.
"Stimmt das mit Euren Zauberkräften?" bohrte er.
"Seid Ihr wirklich und wahrhaftig ein Magier der Götter? Könnt
Ihr Dämonen beschwören? Dimensionstore schaffen? Könnt Ihr
mich und meinen Gefährten wieder zurückbefördern? Liegt
das in Eurer Macht?"
"Ääh ..." Der Magier wollte gerade zu einem
erneuten Redeschwall ansetzen, doch Chotis’ Faust schloß sich noch
ein wenig fester um den Kragen und er sandte ihm einen drohenden Blick.
"Sagt nur Ja oder Nein - mehr nicht!" warnte er. "Liegt
das in Eurer Macht?"
Ziranubishath nickte und stieß einen krächzenden
Laut aus, den der Dämon mit viel gutem Willen als 'Ja' durchgehen
lassen konnte. Das Gesicht des Magiers lief dunkelrot an und er sah aus,
als würden ihm gleich die Augen aus den Höhlen springen und vor
ihm auf den Tisch fallen.
"... nicht so fest...", röchelte er heiser.
Chotis lockerte gnädig seinen Griff, woraufhin sich
der Alte keuchend und nach Luft schnappend auf die Bank fallen ließ.
"Werdet Ihr das auch tun?"
Der Magier massierte mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen
dürren Hals und starrte Chotis angewidert an.
"Äääh .... nein!"
"Warum nicht?" grollte der Dämon. "Wir werden Euch
dafür entlohnen!"
Er hatte im Moment zwar nicht die leiseste Ahnung, was
das gängige Zahlungsmittel in diesem Teil des Kontinents war, noch
wußte er, wo er dieses auftreiben sollte, aber notfalls würde
er diesem sabbelnden Alten das Blaue vom Himmel versprechen, nur damit
er sie aus ihrer mißlichen Lage befreite.
"Danke ... kein Interesse", lehnte Ziranubishath hochnäsig
ab. "Ich habe einen Auftrag von dringender Wichtigkeit zu erfüllen!
Und außerdem will ich mit Euch nichts zu tun haben, glaube ich..."
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